55. Kapitel

Isabelle war bereits im Bett gewesen, als Leon spät in der Nacht nach Hause gekommen war. Sie hatte ihn nicht gehört. Aber heute Morgen, als sie um kurz nach sechs aufgewacht war, hatte er neben ihr gelegen. Er wachte nicht auf, als sie aufstand, sondern lag einfach nur da und atmete leise. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sauer auf ihn zu sein, wegen der Sache mit der Uni in Toulouse. Weil er ihr nicht vertraut hatte. Aber jetzt, wo er neben ihr lag, durchströmte sie ein Gefühl von großer Wärme und Zuneigung.

Sie betrachtete ihn einen Moment und wunderte sich darüber, was für eine Wirkung er auf sie hatte, selbst wenn er schlief.


Die Firma Lambert lag außerhalb von Le Lavandou, an der D 559, dort, wo sich inzwischen immer mehr Bau-, Möbel- und Gartenmärkte ansiedelten. Lambert – Débouchage & Pompage , verkündete das knallgrüne Firmenlogo mit dem stilisierten Krokodil. Vor dem Bürobau gab es einen Parkplatz, überwuchert mit vertrocknetem Rasen, sowie ein kleines Rondell, in dessen Mitte eine einsame Palme stand. Die hellgrünen Einsatzfahrzeuge standen aufgereiht auf dem Platz, als lauerten sie nur auf ihren nächsten Einsatz.

Es muss eine Menge Leute mit verstopften Abflussrohren in Lavandou geben, dachte Isabelle, damit sich eine solche Menge von Rohrreinigungsfahrzeugen lohnte. Isabelle und Masclau hatten den Streifenwagen in der Straße abgestellt. Zusammen betraten sie den Empfang, der mit Fotos von Rohrreinigern im Einsatz dekoriert war. Hinter dem Tresen saß eine junge Frau in grünem Firmenoverall. Sie tippte auf der Computertastatur und telefonierte gleichzeitig. Dabei lachte sie immer wieder laut auf und warf sich in ihrem Stuhl zurück. Isabelle gab ihr ein Zeichen, und als sie die Aufmerksamkeit der jungen Frau hatte, fragte sie nach Monsieur Bruno Lambert. Die Angestellte deutete in Richtung Hof, ohne ihr Telefonat auch nur eine Sekunde zu unterbrechen.

Monsieur Lambert stand vor einem der Fahrzeuge und hielt eine Hochdrucklanze in der Hand, mit deren konzentriertem Wasserstrahl sich auch die verstopftesten Abflüsse freispülen ließen.

»Noch einmal«, rief der Mann mit dem Basecap, auf dem das Firmenlogo aufgestickt war. Der Mitarbeiter drückte auf einen Knopf am Lastwagen, der Kompressor sprang an, aber aus der Düse kam nicht mehr Wasser als aus einem alten Gartenschlauch.

»Aus!«, rief Lambert laut. »Da musst du noch mal an den Kompressor ran. Der baut keinen Druck auf.«

»Monsieur Lambert?«, fragte Isabelle freundlich.

Der Angesprochene musterte die beiden uniformierten Polizisten, als könnte er ihnen ansehen, was sie von ihm wollten.

»Ja …?«, fragte Lambert zögernd.

»Ich bin Capitaine Morell, das ist Lieutenant Masclau. Wir sind von der Gendarmerie nationale und hätten ein paar Fragen an Sie.«

»Was wollen Sie? Sie sehen ja, ich habe zu tun«, sagte Lambert.

Der große Mann klang müde, dachte Isabelle. So als hätte er schon einen langen Arbeitstag hinter sich. Wenn er sprach, stützte er sich zwischendurch immer wieder an dem Reinigungswagen ab. Er war erschöpft, auch wenn er versuchte, seinen Zustand zu überspielen.

»Vielleicht wäre es besser, wir besprechen das irgendwo, wo wir ungestört sind«, schlug Isabelle vor.

»Hier sind wir ungestört.« Lambert wedelte mit der Hand in Richtung seines Mitarbeiters. »Lass uns mal bitte kurz allein, Gilbert!«

Der Mitarbeiter verschwand.

»Also, was gibt’s?«

»Haben Sie mal was von den Nachtfalken gehört?«, kam Masclau gleich zur Sache.

»Was soll das? Verstehe ich nicht …« Lambert versuchte, ahnungslos zu klingen.

»Sie wissen, was mit Patrick Favre passiert ist?«, fragte Isabelle.

»Ich habe in den Nachrichten nur gehört, dass die Polizei den Typ erwischt hat, nach dem gefahndet wurde«, sagte Lambert. »Ist er das?«

»Sie wissen doch ganz genau, um wen es geht«, sagte Masclau.

»Im Radio haben sie gesagt, dass der Typ im Krankenhaus liegt. Warum fragen Sie den nicht, was passiert ist?«

»Er ist verschwunden«, sagte Isabelle ganz ruhig. »Aus der Klinik.«

»Wirklich …?« Lambert schien echt überrascht. Er schnaufte verächtlich, während er mit einem Lappen die Bedienungsknöpfe abwischte. «Warum ist der wohl abgehauen?«

»Weil er Angst vor Ihnen hatte?«, fragte Isabelle.

»Vor mir? Was habe ich denn mit so einem zu tun?«

»Was soll das Theater?« Masclau klang jetzt schlecht gelaunt und ungeduldig. »Die Nachtfalken, das ist doch euer Verein. Dafür gibt es Zeugen. Die haben euch im Bistro reden gehört.«

»Wen denn? Yolande vielleicht? Die erzählt Ihnen auch, sie hätte es mit dem Papst getrieben.« Lambert deutete auf die Maschinen im Hof. »War‘s das? Ich habe zu tun.«

»Wir können diese Unterhaltung auch gerne in der Wache fortsetzen«, drohte Masclau.

»He, Mann, das war Gerede am Tresen. Was man da halt so quatscht.«

»Was quatscht man denn da sonst noch so?«, fragte Isabelle.

»Mein Gott, dass die Flics, ich meine die Polizei, Unterstützung brauchen könnten. Das war alles«, sagte Lambert. »Das war doch nicht ernst gemeint.«

»Für Patrick ist es leider bitterer Ernst geworden«, sagte Isabelle. »Jemand hat ihn übel zusammengeschlagen.«

»Tut mir leid, das zu hören – echt«, sagte Lambert mit schlecht gespieltem Mitleid. »Aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«

»Ist es das, was die Nachtfalken machen? Vermeintliche Mörder verprügeln?«, fragte Isabelle.

»Woher soll ich das wissen? Ich weiß nichts von diesen Nachtfalken«, sagte Lambert. »Aber eines sag ich Ihnen, wenn jemand das Schwein verprügelt hat, das meine Colette …«, er stockte und schüttelte den Kopf, als könnte er so seinen Hass und seine Trauer loswerden. »Der Scheißkerl hätte es verdient. Und ich bin nicht der Einzige, der hier so denkt.«

»Selbstjustiz ist kein Kavaliersdelikt, Monsieur Lambert«, sagte Masclau. »Ich denke, das ist auch Ihnen bekannt.«

»Sie haben doch keine Ahnung, wie das ist«, murmelte Lambert.

»Ich habe selber eine Tochter«, Isabelle sah den Mann an. »Sie wird demnächst 18. Ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie zurzeit durchmachen.«

»Ach ja, können Sie das? Da gibt es aber einen gewaltigen Unterschied zwischen uns: Ihre Tochter lebt. Erst wenn Ihr Kind stirbt, wissen Sie, was Schmerzen sind, hier …« Dabei klopfte sich Lambert auf die Brust. »Das wünsche ich nicht mal meinem ärgsten Feind.«

»Wenn Sie irgendetwas über den Fall wissen, dann sollten Sie damit zur Polizei gehen.« Isabelle gab Lambert ihre Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, Monsieur Lambert. Jederzeit.«

»Ich muss weitermachen. Die Maschinen müssen raus«, schnitt Lambert ihr das Wort ab, nahm die Karte und stopfte sie achtlos in seine Tasche. Lambert wollte sich der Maschine zuwenden, als Isabelle sich ihm in den Weg stellte.

»Niemand hat in unserem Land das Recht, über einen anderen Menschen zu richten. Das tun allein die Gerichte.« Isabelle sah Lambert an. »›Im Namen des Volkes‹. Schon mal gehört?«

»Er hat ihr den Körper aufgeschnitten … so …«, Lambert strich sich mit dem Daumen über die linke Seite seines Körpers. »Im Namen des Volkes, ja? Die Guillotine wäre für so einen die gerechte Strafe.«

»Wenn Sie wissen sollten, wo Patrick Favre sich versteckt hält, dann müssten Sie uns das sagen. Das ist Ihnen doch klar?«, sagte Isabelle.

»Verschwinden Sie von meinem Gelände.« Lamberts Stimme hatte etwas Drohendes. »Ich habe mein Kind verloren … Ich muss gar nichts mehr.«