Es war das erste Mal in den 15 Jahren, seit sie mit Thierry Zerna zusammenarbeitete, dass Isabelle den Polizeichef so außer sich sah. Und das auch noch vor allen Mitarbeitern, mitten in der Kantine. Es geschah in dem Moment, als Canal 6 aus aktuellem Anlass die Sendung unterbrochen und Brigitte Dupin mit dem Mikro in der Hand live vor das Rathaus geschickt hatten. Die Moderatorin blickte so ergriffen in die Kamera, als müsste sie leider mitteilen, dass das Ende der Menschheit unmittelbar bevorstand.
»Wir wollten Ihnen diese Bilder eigentlich nicht zumuten. Aber wir glauben, dass die Öffentlichkeit, dass die Zuschauer von Canal 6 ein Recht darauf haben zu erfahren, was zurzeit wirklich in ihrer sonst so friedlichen Stadt vor sich geht.« Damit machte sie eine kleine Geste in Richtung Rathaus. »Darum meine dringende Warnung. Die Bilder, die wir Ihnen gleich zeigen werden, könnten auf manche Zuschauer verstörend wirken. Achten Sie bitte darauf, dass Ihre Kinder diese Bilder nicht sehen. Das Gleiche gilt für Zuschauer mit Herz-Kreislauferkrankungen.«
Diese Ansage führte natürlich dazu, dass alle Polizisten, die sich in diesem Moment in der Kantine zur Lagebesprechung eingefunden hatten, auf den großen Flachbildschirm an der Wand starrten. Das Bild wurde kurz unscharf. Ein roter Balken mit weißem Text +++BREAKING NEWS+++ lief über den Bildschirm. Dann erschien ein Foto, das Colette Lambert am Boden zeigte, nackt und mit geschundenem Körper. Und so wenig verpixelt, dass man sich den Aufwand auch gleich hätte sparen können.
Das Motiv wechselte, und die Zuschauer sahen den nackten jungen Mann, der an die Strandkiefer gefesselt war. Das Gesicht war aus diesem Winkel nicht zu erkennen, dafür jede Menge Blut, das ihm den Brustkorb heruntergelaufen war. Dieses Mal hatte der Sender die Geschlechtsteile verpixelt, was auf tragische Weise albern wirkte. Weitere blutige Aufnahmen folgten im Sekundentakt.
Das waren keine Fotos, die ein Tourist im Vorbeigehen geschossen hatte, denn im Hintergrund auf einem der Bilder war das Absperrband der Gendarmerie nationale zu erkennen. Keine Frage: Diese Fotos musste einer der Polizeibeamten gemacht haben.
Dann verschwanden die Bilder, und Brigitte Dupin erschien wieder. Sie stand auf den Eingangsstufen des alten Rathauses. Das Mikro in ihrer Hand zitterte, und sie schüttelte den Kopf, als könnte sie immer noch nicht begreifen, was sie da eben gesehen hatte.
»Hier ist Brigitte Dupin von Canal 6 live vor dem Rathaus von Le Lavandou, um Antworten für Sie einzufordern. Wie lange müssen die Menschen hier noch in Angst leben? Was wird für die Sicherheit der Anwohner und Urlaubsgäste getan, die hier unbeschwerte Ferien verbringen wollten? Wie wird der Surfwettbewerb geschützt?« In diesem Moment sah Brigitte Dupin Bürgermeister Robien aus dem Rathaus kommen. »Moment, hier kommt der Bürgermeister. Monsieur le maire, nur eine Frage …«
Der Bürgermeister erkannte die Reporterin, winkte ab und verschwand im Rathaus, noch bevor sie ihn erreichen konnte.
»Verdammte Scheiße!«, schrie Zerna in diesem Moment in der Wache plötzlich laut und wütend. »Gottverdammte Scheiße!«
Und dann tat er etwas, worüber die Beamten der Gendarmerie nationale noch in Wochen, ja, sogar noch in Monaten sprechen würden. Er schleuderte seine Kaffeetasse mit voller Kraft gegen die Kantinenwand. Dort zerschellte sie in einem Schauer von Porzellansplittern, und der Kaffee sah aus wie dunkles Blut, als er die weiß getünchte Wand herunterlief.
Für einen Augenblick herrschte betroffenes Schweigen im Raum. Die Frauen und Männer der Polizei vermieden es, in Zernas Richtung zu sehen, der schwer atmend mitten im Raum stand, so als wollten sie erst mal abwarten, wie die Kollegen reagierten.
Schließlich war es der Polizeichef selbst, der dafür sorgte, dass man zum Tagesgeschäft zurückfand. »Diese Sache wird ein Nachspiel haben«, sagte er, plötzlich ganz ruhig und gefährlich. »Es wird eine Untersuchung geben, und seien Sie versichert, wir werden die undichte Stelle finden.«
Die Frauen und Männer der Gendarmerie musterten sich gegenseitig, als würden sie ausloten, wer von ihren Kollegen die Fotos weitergegeben haben könnte, und vor allem: ob sich der Verrat auch gelohnt hatte.
»Wenn alle da sind«, sagte Zerna betont beherrscht, »möchte ich jetzt hören, wo die Ermittlungen der einzelnen Abteilungen stehen.«
In diesem Moment tauchte der Hausmeister auf. Er interessierte sich nicht dafür, was der Polizeichef sagte, sondern stellte in aller Seelenruhe einen Eimer vor sich auf den Boden. Er entnahm ihm Schaufel und Kehrbesen und begann kommentarlos, die zersplitterten Reste der Kaffeetasse zusammenzufegen.
»Danke, Bruno«, brachte Zerna heraus, und der Hausmeister antwortete mit einem Brummen und einer abwehrenden Handbewegung.
Ein paar unterdrückte Lacher waren zu hören.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Leon erschien. Er sah die Spuren an der Wand und wechselte einen Blick mit Isabelle. Die machte eine kurze Kopfbewegung in Richtung Zerna, und Leon ahnte, was passiert war. Er setzte sich neben Isabelle, die ihm einen Platz frei gehalten hatte.
»Was war los?«, raunte Leon Isabelle zu.
»Du glaubst nicht, was du verpasst hast.« Sie schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit den Kollegen zu.
Die einzelnen Abteilungen referierten ihre Ermittlungsergebnisse. Am erfolgsversprechendsten waren die Vernehmungen, die die Gendarmerie mit polizeibekannten Mehrfachtätern geführt hatte. Bei der Befragung waren zuletzt zwei Männer im Raster hängen geblieben. Der eine war ein Algerier, der seit 30 Jahren in Toulon lebte. Er war wegen schwerer Körperverletzungen vorbestraft und als Wiederholungstäter zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte Frauen entführt und bis zu drei Tagen in einem alten Schuppen eingesperrt. Da er sich aber nicht an ihnen vergangen hatte, hatte die Haftprüfungskommission einer vorzeitigen Entlassung nach Verbüßen der Halbstrafe zugestimmt und ihn bereits nach vier Jahren entlassen. Das war vor drei Monaten gewesen.
Der zweite Verdächtige war ein 45-jähriger Franzose, der bereits als Jugendlicher mehrfach wegen Einbrüchen eingesessen hatte. Mit 28 war er erneut straffällig geworden, als er Prostituierte in seinen Wohnwagen mitnahm und dort misshandelte. Drei Fälle konnte man ihm nachweisen, wobei er im letzten Fall sein Opfer gewürgt hatte. Ein Passant hatte die Schreie der Frau gehört und eingegriffen, womit er ihr – so die Vermutung – das Leben gerettet hatte. Dafür wurde der Täter zu acht Jahren Haft verurteilt. Wegen guter Führung und weil er sich freiwillig für ein Antiaggressionstraining gemeldet hatte, war er vor sechs Monaten unter Auflagen vorzeitig entlassen worden.
»Beide haben zwar Alibis für die fraglichen Abende, aber diese Alibis sind mehr als mager.« Kadir hatte die wichtigsten Daten von einem Computerausdruck abgelesen.
»Gut möglich, dass uns diese Typen mehr verraten, wenn wir noch mal ordentlich Druck machen«, sagte Masclau.
»Ich glaube, dass der Algerier tatsächlich nichts mit der Sache zu tun hatte«, meldete sich Kadir. »Er hat eine Riesenangst, dass er aus Frankreich abgeschoben werden könnte, und außerdem hatte ich den Eindruck, dass er in den Wochen seit seiner Entlassung schon dabei war, sich etwas Neues aufzubauen. Er wirkt stabil und, ehrlich gesagt, auch nicht so blöde, quasi vor seiner Haustür mit dem Morden anzufangen.«
»Er passt nicht ins Spurenbild«, sagte Leon. Es war an der Zeit, ein paar Dinge richtigzustellen.
»Was meinen Sie, Docteur?«, wollte Zerna wissen.
»Der Verdächtige aus Algerien passt nicht zu den DNA-Spuren«, erklärte Leon. »Wir haben bei Colette Lambert ein Haar mit unvollständiger Wurzel gefunden. Entsprechend lückenhaft fällt dadurch auch die DNA-Analyse aus. Was wir aber erkennen ist, dass es sich um einen blonden Europäer handelt. 40 Jahre oder älter.«
»Das ist alles?« Der Polizeichef klang enttäuscht.
»Das ist angesichts des vorhandenen Materials ziemlich viel«, erklärte Leon. »Wir versuchen zurzeit, noch mehr aus der DNA-Probe herauszuholen, aber bei dieser Spurenlage müssten wir schon viel Glück haben.«
»Mit Glück kommen wir hier nicht weiter«, unterbrach ihn Zerna. »Kommissarin Lapierre hat heute Morgen eine Besprechung mit der Mordkommission. Paris hat dazu extra einen Beobachter nach Toulon geschickt.«
»Die sollen weniger Druck machen und uns lieber bei der Fahndung unterstützen«, brummte Isabelle.
»Was ist mit den anderen? Mit diesem David Laurent und mit Patrick Favre?«, fragte Zerna.
»Zu Favre keinen Hinweis, gar nichts, leider«, sagte Masclau. »Wir klappern zurzeit alle Plätze ab, wo er sein könnte.«
»Ich brauche Ergebnisse, kein vages Abklappern!«
»Sieht so aus, als hätte er sich irgendwo eingegraben und würde abwarten, dass wir uns zurückziehen«, meinte Kadir.
»Was ist mit dieser Bürgerwehr, von der Sie mir erzählt haben?«, wollte Zerna wissen.
»Favre hat keine Anzeige erstattet«, sagte Isabelle, »nicht einmal gegen Unbekannt.«
»Ich dachte, Sie wüssten, um wen es sich handelt?«, hakte der Polizeichef nach.
»Hundertprozentig sicher bin ich nicht. Aber ich habe mit Bruno Lambert gesprochen. Das ist der Vater der Toten.«
»Und?«
»Ich denke, er steckt mit drin, aber er sagt nichts.«
»Setzen Sie ihn unter Druck«, sagte Zerna herzlos.
»Seine Tochter ist gerade ermordet worden.«
»Wir beobachten ihn«, warf Kadir diplomatisch ein.
»Was sagt die Rechtsmedizin?«, fragte Zerna. »Irgendwas, was wir Toulon präsentieren können?«
»Es gibt da möglicherweise etwas«, meinte Leon vorsichtig. Es wurde schlagartig still im Raum, als Leon fortfuhr: »Colette Lambert besaß einen kleinen Hund, einen Jack Russell. Wir haben ihn am Tatort gefunden, erschlagen – Sie erinnern sich. Den Hund haben wir uns inzwischen genauer angesehen.«
»Warum erst jetzt?«
»Die Untersuchung der Opfer hat Vorrang«, erwiderte Leon nüchtern.
»Wo war der Hund in der Zwischenzeit?«, wollte Zerna wissen.
»In der Rechtsmedizin, im Kühlraum.«
»Wollen Sie sagen, dass Sie einen Hundekadaver bei den Toten aufbewahrt haben?«
»Tiere, die zusammen mit ihren Besitzern beerdigt wurden, so was hat es schon bei den alten Ägyptern gegeben. So unerhört ist das nun wirklich nicht.«
Zerna brauchte ein paar Sekunden, um die Nachricht zu überdenken, entschied sich aber, nicht weiter zu bohren. »Also, was hat die Untersuchung ergeben?«, fragte er schließlich.
»Jack Russell sind Jagdhunde«, erklärte Leon. »Sie gelten als lebhaft und besonders mutig. Ich habe mir das Gebiss des toten Hundes angesehen, besonders die auffallend kräftigen Fangzähne. Zwischen den Zähnen habe ich Stofffasern gefunden.«
»Was für Stoff?«
Leon sah auf den Zettel in seiner Hand. »Das Labor sagt: Baumwolle, blau und Anteile von Stretchmaterial. Könnten also von einer Jeans stammen.«
Zerna sah ihn verständnislos an.
»Gut möglich, dass der Hund den Täter gebissen hat, um seine Besitzerin zu verteidigen.«
»Na gut, kommen Sie zum Punkt«, drängte Zerna ungeduldig.
»Der Hund hat eine Schulterhöhe von gut 35 Zentimetern«, Leon sprach wie mit Schülern, die nicht richtig aufgepasst hatten. »Das heißt, er könnte den Mörder am Bein erwischt haben, wahrscheinlich am Unterschenkel.«