59. Kapitel

Der Jäger muss ein guter Schütze sein, dachte Leon, als er mithilfe eines Messschiebers die tödlichen Verletzungen der weiblichen Opfer verglich: Schnittwinkel, Schnittkante, Schnitttiefe, sie waren identisch, dieselbe Waffe.

Die Bahren standen in der Mitte des Obduktionsraums. Die beiden toten Frauen waren gerade so weit aufgedeckt, dass Leon die Eintrittswunden sehen konnte. Auf einem Rollwagen lagen Armbrustpfeile, die er über das Institut bestellt hatte. Sie sahen martialisch aus mit den drei eingelassenen rasiermesserscharfen Klingen. In der Beschreibung wurden sie als »Jagdpfeile« bezeichnet, die »auch im Körper von großen Tieren wie Rehen oder Wildschweinen ihre zuverlässige, tödliche Wirkung entfalten«.

In diesem Fall hatten sie ihre tödliche Wirkung in den Körpern von zwei Frauen entfaltet, aber davon war in der Beschreibung natürlich nicht die Rede.

Das war kein einfacher Schuss, dachte Leon, zumal er nachts zwischen Bäumen und Büschen abgegeben wurde, wie die Berechnung des Todeszeitpunktes ergeben hatte. Um einen sicheren Treffer zu platzieren, war der Schütze auf Windstille angewiesen und auf das Licht des Mondes. So gesehen herrschten im Augenblick ideale Bedingungen. Der Mond war im letzten Viertel abnehmend, und er ging erst relativ spät auf, leuchtete also die halbe Nacht. In den letzten beiden Wochen war es zudem warm und windstill gewesen, nur an der Küste herrschte morgens und abends eine leichte Brise. Vielleicht waren ja die Mondphasen der Grund, warum die beiden Morde ausgerechnet jetzt und so kurz hintereinander stattgefunden hatten.

Trotzdem beantwortete das nicht Leons Frage, was den Täter antrieb und was er bisher gemacht hatte. Wo war er die letzten Jahre gewesen? War er erst kürzlich nach Lavandou gekommen? Seine guten Ortskenntnisse sprachen dagegen. Die zweite Frage war: Was hatte ihn dazu gebracht, ausgerechnet jetzt mit dem Morden zu beginnen? Ein Schock, das Erfahren einer großen Ungerechtigkeit, eine Trennung, der Tod eines Kindes? Es gab so viele Ereignisse, die ein Leben so tief erschüttern konnten, dass aus einem Doktor Jekyll ein Mister Hyde wurde. Aber Leon hatte nicht das Gefühl, dass etwas davon auf den Mörder zutraf. Den Liebespaarmörder trieb etwas anderes an. Etwas, das über den sichtbaren Ereignissen stand. Eine Besessenheit, die er bisher vor seiner Umwelt verborgen hatte.

In diesem Moment summte Leons Telefon. Es war Schwester Monique. Capitaine Morell von der Gendarmerie sei in der Klinik. Dr. Ritter würde wegen einer Begutachtung in der Notaufnahme gebraucht.


Olivier Rybaud saß mit stoischem Gesichtsausdruck auf einem Plastikschemel und würdigte Leon zunächst keines Blickes. Als Leon näher kam, sah er, dass sein Assistent durch eine Handfessel mit Lieutenant Peyron verbunden war. Links neben Rybaud stand Isabelle und neben ihr Stationsarzt Dr. Menez. Beide machten etwas betretene Gesichter.

»Bonjour «, sagte Leon und wandte sich an seinen Kollegen. »Worum geht es?«

»Da sprechen Sie am besten mit der Polizei«, erwiderte Dr. Menez und wies mit einer Handbewegung auf Isabelle und Lieutenant Peyron, auf dessen blauem Uniformhemd sich unter den Achseln Schweißflecken abzeichneten.

Der stellvertretenden Polizeichefin war die Situation sichtbar unangenehm.

»Der Kerl will seine Klamotten nicht ausziehen«, platzte es aus Peyron heraus. »In Draguignan hätten wir das ganz anders geregelt.«

»Ich habe mit Ihrer Capitaine gesprochen, nicht mit Ihnen«, sagte Leon und sah dann demonstrativ Isabelle an. »Können wir ihm die nicht abnehmen?« Leon deutete auf die Handschellen.

»Und wenn er abhaut?«, fragte Peyron.

»Ich denke nicht, dass Monsieur Rybaud uns Schwierigkeiten machen wird«, sagte Leon. Dann sah er seinen Assistenten an: »Monsieur Rybaud?«

»Nein, mache ich nicht.« Rybaud hob vorwurfsvoll die rechte Hand, die kurze Kette der Fessel klapperte.

Isabelle nickte dem Lieutenant zu, und er schloss die Handfessel auf. Rybaud rieb sich das Handgelenk.

»Monsieur Rybaud hat sich geweigert, sich von Polizeibeamten auf Bissspuren untersuchen zu lassen«, erläuterte Isabelle.

»Und deshalb kommt die Polizei jetzt in die Klinik?«, fragte Leon.

»Was erwarten Sie von uns?« Menez sah den Lieutenant an.

»Monsieur Rybaud hat gesagt, dass er mit Docteur Ritter als Begutachter einverstanden wäre«, erklärte Isabelle.

»Monsieur Rybaud«, sprach Leon seinen Mitarbeiter freundlich an, »sind Sie einverstanden, dass ich Sie untersuche, zusammen mit meinem Kollegen Dr. Menez?«

»Ich will aber nicht, dass noch jemand von den Flics dabei ist.«

»Ich denke, das geht klar«, sagte Leon und sah Isabelle an. Sie nickte.

»Ich werde die Tür bewachen«, sagte Peyron, der sich lieber auf die Handschellen verlassen hätte.

Kurz darauf saß Rybaud auf einer Liege in der Notaufnahme, die mit Stellwänden vor dem nächsten Krankenbett abgeschirmt war. Dr. Menez hatte Leon in die äußerste Ecke der Notaufnahme geführt, damit sie ungestört waren.

Nun stand Leon vor seinem Mitarbeiter und sah ihn an. »Bevor wir anfangen, möchte ich Sie etwas fragen«, sagte er. »Monsieur Rybaud, sind Sie in den letzten zwei Wochen von einem Hund gebissen worden?«

Leon hörte, wie Rybaud tief einatmete. Er schien zu ahnen, dass das, was er zu sagen hatte, ihn in Schwierigkeiten bringen würde.

»Glauben Sie wirklich, ich wäre fähig, vier Menschen zu töten?«, antwortete Rybaud, statt auf Leons Frage zu antworten. »Glauben Sie das wirklich?«

Leon schwieg. Er sah den Mann an, der seit acht Jahren als Assistent an seiner Seite arbeitete, und spürte dessen Angst vor dem, was jetzt kommen würde.

»Es ist nicht, wie Sie glauben«, sagte Rybaud nach ein paar Sekunden des Schweigens.

»Wo wurden Sie gebissen?«, fragte Leon sachlich.

»Oberschenkel links außen. Eine Handbreit über dem Knie. Hämatom mit kleineren Rupturen«, sagte Rybaud, als würde er mit seinem Chef eine Obduktion durchführen.

Leon versuchte, keine Miene zu verziehen.

»Könnten Sie bitte die Hose herunterziehen, sodass wir uns die Wunde ansehen können?«, bat Dr. Menez.

Ohne zu antworten, lehnte sich Rybaud auf der Liege zurück und streifte sich die schwarze Jeans runter, bis sie über den Knöcheln hängen blieb.

Die Haut seines Assistenten war hell und blutleer. Fast durchsichtig, dachte Leon. Es war genau so, wie Rybaud gesagt hatte: Auf der Haut war ein deutlicher Bissabdruck zu sehen, eine Handbreit über dem Knie am linken Oberschenkel. Leon griff in die Tasche seines Kittels und zog eine kleine Leica-Kamera mit hochauflösendem Objektiv heraus. Außerdem ein kurzes Lineal im Scheckkartenformat, das er neben die Verletzung hielt, während er fotografierte.

»Sie wissen ja, wie es läuft«, sagte er.

Rybaud nickte, wie jemand, der sich seinem Schicksal ergeben hatte.

»Ist das die einzige Stelle?«, fragte Menez.

»Ja, was denken Sie denn?« Jetzt klang Rybaud gereizt.

»Ist schon in Ordnung, Monsieur Rybaud«, sagte Leon. »Sie können sich wieder anziehen.«

Leon warf einen prüfenden Blick auf Dr. Menez, der mit den Achseln zuckte. An den Beinen seines Mitarbeiters hatte Leon keine weiteren Bissspuren erkennen können, und selbst wenn es noch eine weitere Verletzung gegeben hätte, der Abdruck am Oberschenkel genügte vollkommen, um die Beweise zusammenzuführen.

Für einen kurzen Moment fühlte sich Leon, als würde er aus einem bösen Traum aufwachen. Gerade war sein Weltbild erschüttert worden. Natürlich vertrat er selbst öffentlich immer die Theorie, dass jeder Mensch zum Täter werden konnte. Das hatte er allerdings bisher nur gesagt, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu gewinnen. Aber hier war soeben sein engster Mitarbeiter unter vierfachen Mordverdacht geraten. Ein Mann, dem er vertraute, der seit Jahren zuverlässig an seiner Seite arbeitete, den er zu kennen glaubte. Leon hatte bis zum letzten Moment gehofft, dass ein Irrtum vorlag, aber die Indizien konnte er nicht ignorieren.

»Ich möchte Ihnen das erklären, Docteur«, sagte Rybaud kleinlaut.

»Für Geständnisse sind wir nicht zuständig, Monsieur Rybaud. Wir bewerten nur Spuren aus medizinischer Sicht«, sagte Leon. Er klang müde.