Das Verhör von Rybaud zog sich inzwischen bereits über Stunden hin. Trotzdem war Isabelle noch keinen Schritt weitergekommen.
»Fangen wir noch einmal mit dem Biss an«, sagte die stellvertretende Polizeichefin.
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt …«
»Ich weiß, der Hund hat Sie bereits am Tag vor dem Mord gebissen, als Sie Streit mit Colette Lambert hatten«, unterbrach Isabelle. »Ist das nicht ein großer Zufall?«
»Genauso war es aber. Ich wollte nicht, dass unsere Beziehung so endet.«
»Jetzt hatte er also doch eine Beziehung«, kommentierte Kadir.
»Wollen Sie mich denn nicht verstehen? Ich habe Ihnen doch alles gesagt!«, stöhnte Rybaud.
»Mal sagen Sie, der Hund hätte Sie gebissen, dann hat er doch nicht gebissen. Wie nun?«, versuchte Isabelle den Verdächtigen zu verunsichern.
Es war spät geworden, und in dem kleinen, fensterlosen Raum staute sich die Hitze. Die Tür wurde von Kadir bewacht, der seine Uniformjacke ausgezogen hatte. Auch Isabelle hatte ihre Jacke abgelegt, um die tropischen Temperaturen in dem Gebäude besser aushalten zu können. Der Einzige, dem die schwüle Hitze nichts auszumachen schien, war der Verdächtige.
Rybaud saß steif auf seinem Stuhl und versuchte, den Eindruck zu erwecken, als könnte ihm das alles nichts anhaben.
»Ich habe von Anfang an zugegeben, dass dieses Mistvieh nach mir geschnappt hat«, erklärte Rybaud. »Aber eben nicht an dem fraglichen Abend.«
»Ist es so schwer, die Wahrheit zu sagen?« Isabelle hatte einen einfühlsamen Ton in ihre Stimme gelegt. »Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was sich an dem fraglichen Abend wirklich abgespielt hat?«
»Weil es nichts zu erzählen gibt. Ich habe alles gesagt, was ich weiß, und ich möchte jetzt gehen.«
»Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt, Monsieur Rybaud.« Isabelle ging nicht auf Rybauds Bemerkung ein, sondern erhöhte den Druck. »Warum geben Sie nicht zu, dass Sie eifersüchtig waren? Dass Sie es nicht ertragen konnten, dass es da einen anderen gab?«
»Weil es nicht so war.« Jetzt lag Angst in Rybauds Stimme.
Isabelle registrierte, dass dies das erste Mal während der Vernehmung war, dass eine Gefühlsregung bei Leons Assistenten zu erkennen war, und setzte nach: »Doch, genau deswegen sind Sie Colette Lambert und ihrem Freund gefolgt. Sie haben die beiden beobachtet. Sie wussten ja, wo Colette Lambert mit ihrem neuen Freund hingehen würde. Sie ging mit ihm auf ›Ihren‹ Platz, richtig?«
»Ich sag nichts mehr. Ich sag überhaupt nichts mehr«, murmelte Rybaud vor sich hin.
Isabelle tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. »Sie haben sich angeschlichen. War ja kein Problem bei dem hellen Mondlicht. Da haben Sie Ihre Freundin gesehen. Im Arm eines anderen. Wie hat sich das angefühlt, Monsieur Rybaud?«
»Hören Sie auf!«, brüllte Rybaud plötzlich, sprang auf und stürzte zur Tür. Isabelle war völlig überrumpelt. Sie versuchte, den Mann zurückzuhalten, doch er stieß sie mit solcher Wucht zurück gegen den Tisch, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Rybaud stürzte zur Tür und versuchte, den Gang zu erreichen, um zu entkommen. Doch da stand Kadir. Der Lieutenant war zwar klein, aber er war schnell, und er war stark. Er packte den Flüchtenden und riss ihn zu Boden. Dann drückte er den Kopf des Mannes in den verdreckten Teppichboden des Befragungszimmers. Im selben Moment kniete Isabelle neben Rybaud und legte ihm Handschellen an. Kadir zerrte den Verdächtigen zurück zum Befragungstisch und stieß ihn auf seinen Stuhl. Dann schloss er die Handfessel an das Tischbein an.
Inzwischen waren zwei weitere Beamte in der Tür aufgetaucht.
»Alles in Ordnung?«, fragte einer der Polizisten besorgt.
»Alles klar, danke«, sagte Isabelle. Sie wollte unbedingt mit der Befragung weitermachen. Sie spürte, dass der Verdächtige kurz davor gewesen war, die Tat zuzugeben. Sie durfte unter keinen Umständen jetzt mit dem Druck nachlassen.
»Noch so eine Nummer, und ich bring Sie direkt nach Les Baumettes«, drohte Kadir.
Les Baumettes war die berüchtigtste Strafanstalt Frankreichs. Das Gefängnis aus dem neunzehnten Jahrhundert lag im Norden von Marseille. Hinter seinen alten Mauern waren Ende der Siebziger die letzten Hinrichtungen mit der Guillotine vollstreckt worden.
»Reden wir noch mal über den Überfall«, sagte sie.
»Ich habe niemand überfallen«, murmelte Rybaud.
»Es war dunkel, nur der Mond schien. Da waren Colette und ihr neuer Liebhaber auf der kleinen romantischen Lichtung in den Hügeln«, sprach Isabelle weiter. »Haben Sie ihnen beim Sex zugeschaut?«
»Scheiße, nein, habe ich nicht!« Rybaud wollte sich erneut erheben, aber Kadir legte ihm sofort die Hand auf die Schulter und drückte ihn zurück auf den Stuhl.
»Wie genau ist das abgelaufen? Sind Sie auf Colette losgegangen?«
»Nein, bin ich nicht. Das stimmt doch alles gar nicht.«
»Aber der Hund hat nach Ihnen geschnappt?« Isabelle redete einfach weiter. »War doch so?«
»Ich war nicht dort, das habe ich Ihnen die ganze Zeit gesagt. Ich weiß auch nichts von einem Überfall. Weil ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe.«
In diesem Moment erschien Zerna in der Tür, Masclau an seiner Seite. Isabelle fiel sofort auf, dass der Polizeichef lächelte. Sie hatte ihn nicht mehr lächeln gesehen, seit diese schreckliche Mordserie begonnen hatte.
»Capitaine Morell, wir hätten eine kurze Frage an den Zeugen, wenn das für Sie in Ordnung geht«, sagte Zerna ungewohnt rücksichtsvoll und wedelte mit einem Computerausdruck, den er in der Hand hielt. »Es geht um eine Anfrage der Police municipal.«
Isabelle kannte Zerna zu gut. Hier ging es garantiert um mehr als nur eine Anfrage der Verkehrspolizei. Wenn Zerna persönlich zu einer Vernehmung erschien, musste etwas verdammt Wichtiges vorgefallen sein.
»Monsieur Rybaud, fahren Sie einen blauen Renault Espace mit dem Kennzeichen 914 13 83?«
»Wieso?« Rybaud sah Isabelle an. »Was hat das jetzt mit dieser Sache zu tun?«
»Beantworten Sie einfach nur die Frage des Commandant«, sagte Isabelle.
Zerna setzte sich auf einen Hocker und rückte dicht an Rybaud heran. »Haben Sie noch Ihren Renault …«
»Ja, habe ich, warum wollen Sie das wissen?«, unterbrach Rybaud unwirsch.
»Und Sie waren in der fraglichen Nacht nicht zufällig in der Gegend um den Tatort?«, hakte Zerna nach.
»An dem Abend, da war ich in ein oder zwei Bistros in Lavandou. Ich hatte ein paar Gläser Wein«, sagte Rybaud. »Aber das habe ich doch schon längst alles erzählt.«
»In ein oder zwei Bistros«, wiederholte Zerna, »in Le Lavandou …«
Zerna sah den Verdächtigen an und legte einen Computerausdruck mit einem eingeklinkten Polizeifoto vor ihm auf den Tisch.
»Dann müssen Sie uns das hier erklären.«
»Was soll das sein?« Rybaud streifte das Blatt mit einem schnellen Blick.
»Ist doch ganz einfach«, Masclau tippte auf das Schwarz-Weiß-Foto auf dem Computerausdruck. »Das ist Ihr Auto, Ihr Nummernschild, und das hinter dem Steuer sind ganz eindeutig Sie.«
»Aber ich habe doch-«, Rybaud wollte etwas zu seiner Entschuldigung sagen, aber Zerna hörte gar nicht hin.
»Sie sind von der Police municipal geblitzt worden«, sagte Zerna. »Sie waren 10 Kilometer zu schnell.«
»Na und?« Rybaud versuchte, seine aufkommende Panik zu verbergen.
»Na und? Dieses Foto beweist, dass Sie sich in der Zeit, in der der Mord geschah, auf der Nationalstraße Nummer 98, gleich hinter dem Ortsschild von La Môle befanden. Genau dort, wo die kleine Straße abzweigt, die zum Tatort führt. Keine zehn Minuten mit dem Auto entfernt.«
»Das kann ich erklären …« Jetzt klang Rybaud nur noch hilflos und verzweifelt. »Ich war in La Môle. Das gebe ich ja zu, aber ich bin nicht … Ich war nicht am Tatort. Das schwöre ich.«
»Monsieur Rybaud, ich nehme Sie fest unter dem Verdacht, Colette Lambert und mindestens eine weitere Person getötet zu haben. Sie haben das Recht auf einen Anwalt.«
»Den würde ich in diesem Fall auch dringend empfehlen«, ergänzte Masclau.