Die Nachricht von der Verhaftung Rybauds hatte sich in Le Lavandou blitzschnell herumgesprochen, obgleich sie zunächst weder im Fernsehen noch im Internet publik gemacht wurde. Aber der Ort war klein und die Leidenschaft für Klatsch groß. Wie der erste Sonnenschein nach einer langen Regenzeit die dunklen Wolken vertrieb, so schien die Wende im Fall Colette Lambert dem Ferienort dabei geholfen zu haben, seine Unschuld wiederzufinden. An diesem Abend waren zum ersten Mal die Bistros wieder voll, und aus den Bars und Cafés hörte man Gelächter. Verliebte Pärchen fuhren Riesenrad, vor den Eisständen bildeten sich Schlangen, die fliegenden Händler verkauften auf der Promenade ihre Souvenirs bis Mitternacht, und die Gendarmerie drückte in dieser Nacht beide Augen zu.
Die Erleichterung war jedoch nicht überall zu verspüren.
Der Stadtrat hatte sich am Nachmittag zusammengesetzt, um zu beratschlagen, ob man den Surfwettbewerb nicht besser abbrechen sollte, bevor noch mehr passierte. Schließlich waren jetzt schon die Stornierungen spürbar. In den Hotels und Pensionen sprach man bereits vom stärksten Einbruch des Tourismusgeschäfts seit dem letzten großen Feuer vor acht Jahren. Die meisten Mitglieder des Stadtrates hatten den Wunsch geäußert, so weiterzumachen wie bisher, verdrängen und schnell vergessen. Schließlich hätte so ein abscheulicher Mord überall geschehen können. Doch diese Rechnung war bisher nicht aufgegangen, und das würde sich auch nicht so schnell ändern.
Im Gegenteil, die Stornierungen bei Hotels und Pensionen hatten noch einmal zugelegt. Sogar der große Campingplatz am Meer war nur noch zu 75 Prozent besetzt. Die Mitglieder des Stadtrates waren gerade dabei, einen Gutschein für einen Gratisdrink in den Bistros des Ortes zu vereinbaren, als die Nachricht von der Verhaftung auch den Sitzungssaal des Rathauses von Le Lavandou erreichte. Die meisten der Anwesenden waren erleichtert und bereit, jetzt endgültig zum Tagesgeschäft zurückzukehren, aber es gab auch mahnende Stimmen: Zu viel war im Zusammenhang mit den Morden geschehen. Man müsse abwarten, was die nächsten 48 Stunden brächten, hieß es. Schließlich vertagte man sich auf den nächsten Nachmittag. Wenn die Lage ruhig blieb und sich die Beweise gegen Rybaud als zutreffend erwiesen, konnte man ja immer noch über weitere Schritte nachdenken.
Mit ihrer Skepsis befanden sich die Damen und Herren des Gemeinderates in guter Gesellschaft. Isabelle hatte ebenfalls Zweifel, wenn sie über die Festnahme von Rybaud nachdachte, und sie dachte an diesem Abend über nichts anderes nach.
Das meiste von dem, was Rybaud beim Verhör zugegeben hatte, belastete ihn zwar, aber es war auch gleichzeitig die glaubwürdigste Erklärung dafür, dass er die Bluttaten nicht begangen hatte.
Ja, er war von dem Hund gebissen worden, und ja, er hatte ein Verhältnis mit dem Opfer gehabt. Er hatte sich am fraglichen Tag mit Colette gestritten, und er war eifersüchtig gewesen. Dazu kam noch, dass er von der Verkehrspolizei in nächster Nähe zum Tatort geblitzt worden war, genau zur kritischen Zeit. Das letzte Indiz, zu dessen Sicherung er ironischerweise sogar beigetragen hatte, indem er mit Leon die Obduktion durchgeführt hatte, war, dass er große Erfahrungen mit der Anatomie des menschlichen Körpers hatte. Natürlich hätte er in seiner Eigenschaft als Assistent der Rechtsmedizin Spuren leicht verändern können. Aber genau weil das alles so war, konnte es auch bedeuten, dass er unschuldig war.
Nach der Festnahme war Isabelle zusammen mit Kadir und Masclau in das Büro des Polizeichefs gebeten worden. Zerna telefonierte strahlend, als Isabelle mit ihren beiden Lieutenants sein Büro betrat.
»Wissen Sie, wer das gerade war?«, sagte der Polizeichef, als er den Hörer auflegte. »Monsieur le Préfet persönlich.«
Zerna sprach so ehrfurchtsvoll, als könnte der Präfekt ihn noch in Toulon hören.
Vom Präfekten angerufen zu werden, war die höchste Weihe, die ein Polizeichef wie Zerna erleben konnte. Der Präfekt bekleidete das höchste Amt im Département. Er stand in der Hierarchie kurz unter dem Staatsoberhaupt, und er wurde für jedes Département vom Präsidenten persönlich ausgesucht und eingesetzt. Der Präfekt hielt den höchsten militärischen Rang im Département und war damit automatisch der Vorgesetzte aller Polizeibeamten, einschließlich der Gendarmerie nationale.
Präfekten waren ursprünglich von Napoleon eingesetzt worden, und so fühlten sich die Département-Chefs auch noch heute – als kleine Könige. Vom Präfekten angerufen und, wie in Zernas Fall, auch noch gelobt zu werden, das war wie ein Ritterschlag. Zernas erfolgreiche Festnahme des Serienmörders würde in der Verwaltung schnell die Runde machen. Und das würde mit Sicherheit positive Auswirkungen auf Zernas Wahlkampf um das Bürgermeisteramt von Lavandou haben.
Bei diesem Gedanken musste der Polizeichef lächeln.
»Stolz möchte ich Ihnen das Lob weitergeben, das der Préfet des Var soeben für die ganze Abteilung der Gendarmerie nationale von Lavandou ausgesprochen hat«, sagte er. Zerna war für seine kleine Ansprache extra aufgestanden. »Meine Damen und Herren, Sie haben nicht nur der Abteilung, sondern der gesamten Gendarmerie nationale Ehre gemacht. Dafür danke ich Ihnen im Namen unserer großen Nation.«
Die beiden Lieutenants waren so ergriffen, dass sie sich selbst applaudierten, was sie aber schnell wieder einstellten.
»Heißt das«, fragte Isabelle skeptisch, »der Verdächtige bleibt in U-Haft?«
»Natürlich bleibt er in U-Haft, was dachten Sie denn? Er verbringt die Nacht hier in der Zelle. Morgen um 8:30 Uhr erwartet der Staatsanwalt einen ausführlichen Vernehmungsbericht auf seinem Schreibtisch.«
»Entscheiden muss zuletzt der Haftrichter«, gab Isabelle zu bedenken.
»Das klingt so, als hätten Sie Zweifel.« Der Polizeichef sah seine Stellvertreterin lauernd an.
»Es gibt zumindest noch einige offene Fragen …«, begann Isabelle vorsichtig.
»Bitte«, Zerna hob abwehrend die Hand. »Kommen Sie mir bloß nicht so. Sie haben den Verdächtigen doch selbst überführt. Sie haben ihn erwischt, und Sie haben ihn vernommen. Jetzt freuen Sie sich doch mal, das war eine großartige Leistung.«
»Wir haben noch kein Geständnis«, sagte Isabelle nüchtern.
»Na, dann werden Sie das aus ihm herausholen. Sie werden sehen!«, sagte Zerna, als spräche er mit ungezogenen Kindern. »Hat er etwa gleich den Hundebiss eingestanden? Nein. Hat er uns gleich erzählt, dass er nachts in der Nähe des Tatorts war? Nein. Hat er uns gestanden, dass er das Opfer kurz vor dessen Tod mit Dutzenden von SMS und Anrufen bedrängt hat? Nein, er hat immer erst mal alles abgestritten. Aber Sie haben ihm die Beweise vorgelegt, und er ist eingeknickt.«
»Das sind alles nur Indizien.« Isabelle zögerte und fügte eilig hinzu: »Bisher.«
»Na und?«, schnaubte Zerna, und Isabelle beobachtete, wie sein Gesicht rot anlief. »Der Mann ist schuldig. Das sagt mein kriminalistisches Gespür. Und die Beweise, die Sie haben, sind erdrückend.«
»Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Sie sind überarbeitet, Capitaine Morell. Sie haben genug für uns getan. Gehen sie erst mal nach Hause.
»Ich fühle mich gut«, antwortete Isabelle trotzig.
Doch Zerna tat so, als hätte er nichts gehört. »Morgen früh Besprechung um 10 Uhr hier bei mir im Büro«, sagte er. »Bonne soirée. «