64. Kapitel

Gegen 11:30 Uhr erreichte die Polizeiwache in der Avenue del Monte ein Anruf, der Folgen haben sollte. Eigentlich hätte der Anruf automatisch in die Einsatzzentrale umgeleitet werden sollen, doch aufgrund unglücklicher Umstände landete der Anruf auf dem Schreibtisch von Jacques Peyron. Der Sous-Lieutenant aus Draguignan sah seine Chance gekommen: Die Anruferin hatte nämlich eine brisante Information für den Beamten der Gendarmerie National. Sie wusste angeblich, wo sich der entflohene Patrick Favre aufhielt.

Wenn Peyron nach den Vorschriften gehandelt hätte, dann wäre spätestens jetzt der Einsatzleiter informiert worden. Aber Jacques Peyron hatte beschlossen, den Dienstweg abzukürzen und den mutmaßlichen Serienkiller persönlich festzunehmen. Schließlich hatte Peyron etwas gutzumachen bei der Gendarmerie. Wenn er der Polizei den landesweit gesuchten Killer präsentierte, würde man sicher großzügig über seine kleinen Verfehlungen hinwegsehen.

Die Anruferin behauptete, dass sich der Gesuchte bei ihr im Camp du Cedres, einem kleinen Campingplatz am westlichen Rand von Lavandou, versteckte. Hier, im abgelegenen Bereich des Platzes und verborgen von wildem Oleander und mannshohen Rosmarinbüschen, befanden sich die ehemaligen Toiletten des Platzes. Inzwischen funktionierten dort nur noch ein paar alte Brausen. Die ganze Anlage war ziemlich heruntergekommen, wie Peyron wusste. Dass sie im Campingführer trotzdem immer noch mit zwei Sternen bewertet wurde, war ein Witz. Die Besitzerin hatte seit Jahren die dringend fälligen Renovierungsarbeiten immer wieder aufgeschoben. Stattdessen hatte sie ihr Grundstück ab dem nächsten Jahr an eine Winzergenossenschaft verpachtet, die das Gelände zu einem Weinberg entwickeln würde. Die Europäischen Subventionen für den Weinanbau waren inzwischen so hoch, dass es sich lohnte, auch noch auf der kleinsten Fläche Reben zu züchten.

Inzwischen standen auf dem verwahrlosten Camp du Cedres nur noch wenige Wohnwagen und ein paar Zelte zwischen wildem Ginster und duftendem Rosmarin. Am Boden wuchs das trockene Gras kniehoch, die Wasserleitungen waren immer wieder von Rost verstopft, und regelmäßig fiel der Strom aus.

Jacques Peyron hatte fünf Mann der Sondereinheit mobilisiert, ohne mit Zerna oder einem der Lieutenants Rücksprache zu halten. Jetzt lag er neben den schwerbewaffneten Männern hinter den Büschen auf dem Campingplatz und beobachtete mit dem Fernglas die ehemaligen Toilettenanlagen.

»Alles auf Standby«, flüsterte Peyron aufgeregt in sein Handfunkgerät.

Im Grunde war ihm der nächste Schritt unklar. Die Sondereinheit zu mobilisieren, war keine große Sache gewesen. Dann hatte er, so unauffällig wie möglich, die wenigen Touristen vom Campingplatz in Sicherheit gebracht. Wenn sich die Dinge tatsächlich so verhielten, wie die Campingplatzbesitzerin gesagt hatte, dann saß in der alten Duschbaracke ein gefährlicher Vierfachmörder und wartete auf seine nächsten Opfer.

Die Dinge hatten sich dynamischer entwickelt, als Peyron dachte. Jetzt erwarteten die Männer von der Sondereinheit, dass Peyron eine Ansage machte. Aber weiter als zu dem Punkt »Alles auf Standby« hatte der Polizist aus Draguignan die Aktion noch nicht durchdacht.

»Worauf warten wir noch?«, fragte der Leiter der Eingreiftruppe ungeduldig.

»Dieser Mann ist gefährlich. Der hat nichts mehr zu verlieren. Besser, wir beobachten noch eine Weile«, antwortete Peyron, der sich in diesem Moment zum ersten Mal wünschte, er hätte doch noch rechtzeitig den Polizeichef informiert. Aber dafür war es jetzt zu spät.

»Das ist ‘ne alte Drecksdusche. Was wollen Sie da noch beobachten?«, fluchte der Einsatzleiter. »Verdammt, wir übernehmen jetzt.«

»Nein, warten Sie. Nur noch einen Moment«, versuchte Peyron, den Kollegen aufzuhalten.

Aber der konzentrierte sich bereits auf den Einsatz. »Bereit?«, sprach der Polizist in sein Funkgerät. »Auf mein Kommando …«

In diesem Moment tauchte eine junge Frau zwischen den Büschen auf. Sie hatte sich ein blaues, ausgeblichenes Badehandtuch umgeschlungen. In der Hand hielt sie einen Waschbeutel. Ohne die Polizisten in ihrem Versteck zu bemerken, marschierte die junge Frau geradewegs auf die Duschräume zu.

»Merde, alors «, zischte der Einsatzleiter Peyron zu. »Sie haben doch gesagt, alle wären runter vom Platz.«

»Sind sie ja auch. Hat mir keiner gesagt, dass da hinten noch ein Zelt steht.« Er deutete in Richtung der Büsche.

Die junge Frau betrat die Duschbaracke.

In diesem Moment wurde Peyron klar, dass er die Sache verkackt hatte. Er hockte hier im Staub, keine 10 Meter vom wahrscheinlich blutrünstigen Mörder der Provence entfernt und wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte nicht nur eigenständig über einen Einsatz der Sondereinheit entschieden, was sein größerer Fehler war, er hatte Polizeichef Zerna nicht mal im Nachhinein informiert, als die Aktion bereits angelaufen war.

Das Sonderkommando wartete auf eine Entscheidung, schnell. In diesem Moment spürte Peyron den Mut der Verzweiflung in sich aufwallen. Jetzt war alles egal. Es ging nur noch darum, ob er zuletzt als Trottel dastehen würde oder als Held. Er musste sich entscheiden, sofort.

Peyron zog seine Beretta aus dem Gürtelholster und lief einfach los. Für einen Moment war der Einsatzleiter sprachlos.

»Was soll die Scheiße?« Der Einsatzleiter sprang auf und zog ebenfalls seine Waffe, die fünf Mitglieder seiner Truppe taten es ihm gleich.

»Zugriff, Zugriff, Zugriff«, rief er in sein Funksprechgerät und rannte los.

Fast zeitgleich erreichten Peyron und die Sondereinheit die Duschbaracke. Den Beamten bot sich ein unerwartetes Bild: Die Frau, die eben noch an ihnen vorbeigekommen war, stand unter der Dusche und schrie auf, als sie die schwerbewaffneten Männer auf sich zukommen sah. Einer der Polizisten sprang nach vorne und trat mit Wucht gegen die verschlossene Toilettentür, die sich direkt neben den Duschen befand. Splitternd flog die Tür auf. Vor ihnen stand ein dürrer Mann im T-Shirt und mit heruntergelassener Hose. Als er die Polizei sah, riss er erschrocken die Hände nach oben.

»Nicht schießen, bitte nicht schießen«, rief der Mann und versuchte verzweifelt, seine Hose hochzuzerren.

Eine Viertelstunde später wimmelte es von Polizei auf dem Campingplatz. Zerna lief zwischen den einzelnen Beamten hin und her, erteilte Befehle und suchte Schuldige. Schweiß ran ihm den Hals herab. Im Schatten einer Feige blieb er stehen. Hier wartete Peyron mit gesenktem Kopf darauf, dass das Donnerwetter schnell vorüberzog. Doch dieses Mal schrie Zerna nicht.

»Ich mache Sie fertig.« Zernas Stimme klang leise und kalt. »Sie haben entgegen aller Vorschriften und ohne jede Rücksprache über eine Sondereinheit verfügt.«

»Es ging so schnell. Ich wollte doch nur das Gelände sichern …«

»Interessiert mich nicht«, blaffte ihn Zerna an.

»Das war alles nicht so, wie Sie vielleicht denken«, versuchte sich Peyron herauszuwinden, wurde aber sofort vom Polizeichef zusammengestaucht.

»Sie haben das Leben einer Zivilistin gefährdet. Sie haben«, Zerna unterbrach sich. »Sie haben totale Scheiße gebaut.«

»Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte …«, beteuerte Peyron. »Und wenn Favre in der Baracke gewesen wäre.«

»Sie bauen nur Mist, seit dem Tag, an dem Sie zu uns gekommen sind.« Zerna hob die Hand, als Peyron ihn unterbrechen wollte. »Glauben Sie vielleicht, ich wüsste nicht, wie Canal 6 an die Tatortfotos gekommen ist?«

»Das war nicht so, wie Sie denken«, versuchte es Peyron noch einmal.

»Halten Sie den Mund, und hören Sie zu«, blaffte Zerna den Mann an. »Es wird bereits gegen Sie ermittelt, und glauben Sie mir, diesmal werden Sie sich nicht rausreden können. Und jetzt verschwinden Sie. Gehen Sie in die Wache und halten Sie sich zur Verfügung.«

Der Gefangene aus der Dusche saß auf der Rückbank eines Streifenwagens. Er war in sich zusammengesunken, und ein paar Tränen sickerten durch seinen Dreitagebart. Vor dem Wagen stand Lieutenant Kadir und ließ den Mann keine Sekunde aus den Augen. Es hatte sich schnell herausgestellt, dass es sich bei dem Mann aus der Dusche keineswegs um den gesuchten Serienmörder handelte, sondern um Monsieur Robert Sellier, 48 Jahre alt und Geschichtslehrer in Lavandou am College Frédéric Mistral .

Der Lehrer hatte den Kragen seines kurzärmeligen Hemdes hochgestellt und versuchte, sich hinter diesen wenigen Zentimetern Stoff vor den Blicken der Neugierigen zu verbergen. Die Polizei hatte schnell herausgefunden, warum es den Lehrer in die alte Baracke des Campingplatzes zog. Von den stillgelegten Toiletten hatte man einen guten Blick auf die Duschen, zumal Monsieur Sellier sich auf Augenhöhe ein Loch in die Tür gebohrt hatte.

Wie sich bei der Untersuchung des Falls herausstellen sollte, war das nicht das erste Mal im Leben des Robert Sellier, dass er Probleme mit der Polizei hatte. Seine Vorliebe für den Aufenthalt in Umkleideräumen von Schülerinnen hatte ihn schon mehrfach in Schwierigkeiten gebracht. Zum letzten Mal in einem Gymnasium bei Lyon. Damals hatte ihn die Schulleitung vor die Wahl gestellt: Entweder sie meldete die Sache der Polizei, oder er reichte sofort seine Kündigung ein und verließ das Gymnasium. Sellier hatte sich für die freiwillige Kündigung entschieden und war schließlich im College Frédéric Mistral in Le Lavandou gelandet.