Leon und Isabelle waren gegen 6:30 von Kadir mit einem Allrad- SUV abgeholt worden. Man habe eine Leiche in den Klippen gefunden, die Zufahrt zum Tatort war nur Geländewagen zugänglich. Das war alles, was der Lieutenant zu diesem Zeitpunkt über den Fall wusste.
Kadir hatte den Wagen etwa 50 Meter vor dem Tatort abgestellt, dort, wo der Weg etwas breiter wurde und bereits ein weiterer Streifenwagen stand. Die letzten Meter gingen sie zu Fuß. Es war windstill und bereits ziemlich warm. Die ersten Eidechsen tummelten sich auf den Klippen, um in der Sonne Energie zu tanken. Leon sah sich um. Ein verwunschener Ort, wie aus einem Märchen. Man musste die Gegend wirklich gut kennen, um solche versteckten Plätze zu finden.
Der Polizeichef und Masclau kam ihnen ein paar Schritte entgegen.
»Guten Morgen, Docteur«, sagte Zerna, und dann zu Isabelle: »Capitaine.«
»Commandant«, sagte Leon, und Isabelle nickte bloß.
»Die Tote liegt im Kofferraum«, sagte Masclau mit einem Kopfnicken in Richtung Renault.
»Die Tote?«, fragte Leon. »Haben Sie das Opfer bewegt?«
»Wir haben nur nachgesehen. Mussten ja sicher sein, dass sie wirklich nicht mehr lebt.« Masclau hob demonstrativ die Hände.
»Wissen wir, wer die Tote ist?«, fragte Isabelle.
»Nein, keine Papiere, nichts«, sagte Masclau. »Da hat jemand gut aufgeräumt.«
»Wir haben einen Zeugen?«, fragte Isabelle Masclau.
»Eric Blasier. Macht Vogelbeobachtungen und hat die Tote entdeckt.«
»Er sitzt vorne im Streifenwagen. Sie sind gerade an ihm vorbeigelaufen«, ergänzte der Polizeichef
»Wie geht’s ihm?«, fragte Isabelle.
»Er tut ganz tapfer«, sagte Masclau. »Aber wenn du mich fragst, ist er ziemlich durch den Wind.«
»Ich rede mit ihm«, sagte Isabelle, dann deutete sie auf den Renault. »Kennen wir den Halter?«
»Noch nicht«, sagte Kadir. »Wir haben im Augenblick keinen Onlinezugriff auf die Zulassungsstelle.«
»Schon wieder? Gibt’s doch nicht«, schimpfte Zerna.
»Die Kollegen sind schon dran«, meinte Kadir. »Manchmal geht nichts über das gute alte Telefon. Gegen Mittag könnte schon eine erste Auswertung der Zulassungen vorliegen.«
»Der Wagen könnte immerhin dem Mörder gehören.« Isabelle sah Kadir an.
»Wir haben auch die Police municipal drauf angesetzt, vielleicht haben die ja was im Computer.«
Die Police municipal, die Straßenpolizei, interessierte sich zwar nur für Verkehrssachen, aber sie hatte ein eigenes Computerprogramm, in dem alle Verkehrsverstöße abgelegt wurden.
»Ich sehe mir erst mal das Opfer an«, sagte Leon. Er war inzwischen zu dem Renault gegangen und streifte sich gerade die dünnen Latexhandschuhe über.
»Der Tatort?«, fragte Leon.
»Schätze, der ist da drinnen, Docteur.« Masclau deutete auf das Bootshaus.
»Sicher?«, fragte Leon und sah, dass Masclau lächelte.
»Sehen Sie es sich selber an«, sagte Zerna.
Das Holztor des Bootshauses war vor vielen Jahren einmal blau gestrichen worden. Inzwischen hatten Sonne und Wind die Farbe bis auf die nackten Bretter abgerieben. Leon öffnete vorsichtig das Tor. Der Raum dahinter war düster. Nur ein paar Sonnenstrahlen, die durch ein kleines Fenster fielen, malten helle Streifen in den lichtlosen Raum. Er konnte nur ahnen, was er da sah. Alte Segel lagen zusammengefaltet auf dem Boden wie ein Bett, Fender, Leinen aller Stärken waren ordentlich aufgereiht an der Wand. Ein Ruder und die umgekehrten Rümpfe eines kleinen abgetakelten Katamarans, ein Hobie 16. Eigentlich sah es im Bootshaus ganz gemütlich aus. Eine Mischung aus sicherem Versteck und romantischem Liebesnest – wenn da nur dieser Geruch nicht gewesen wäre.
Leon schob das Tor weiter auf und betrat vorsichtig den Raum. Es roch nach warmem Eisen. Leon kannte diesen Geruch nur zu gut. Es war der Geruch von Blut. Leon brauchte ein paar Sekunden, dann hatten sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Masclau hatte recht gehabt. Das hier war der Tatort, daran bestand kein Zweifel. Der Täter musste wie ein wildes Tier auf sein Opfer losgegangen sein. Das Blut war an die Wände gespritzt, auf den Boden und auf den kleinen weißen Katamaran, der mitten im Bootshaus aufgebockt war.
»Ziemliche Schweinerei, würde ich sagen.« Masclau stand jetzt mit Zerna in der Tür.
»Ich frage mich, was sich einer denkt, der so was macht?«, sagte der Polizeichef.
»Er denkt gar nicht«, antwortete Leon. »Er ist wütend. Er befindet sich im Zustand der blinden Raserei. Er sticht immer wieder auf sein Opfer ein.«
»Aber gleich so?« Zerna machte eine Geste Richtung der Blutspritzer an der Wand. »Einmal töten reicht doch.«
»Er will sein Opfer nicht töten, er will es vernichten, zerstören«, erklärte Leon. »Die Rechtsmedizin nennt das einen Overkill, ein Übertöten.«
»Da lobe ich mir doch unseren Liebespaarmörder«, meinte Masclau und schlenderte durch den Raum wie auf einer Vernissage. Dabei stieß er gegen einen Bootshaken, der polternd umfiel.
»Vorsicht, bitte«, mahnte Leon.
An einer Stelle auf dem Boden hatte das Blut eine kleine Pfütze gebildet. Leon machte einen großen Schritt, um nicht in die Lache zu treten.
»Sieht aus, als hätte sie hier gelegen«, murmelte Leon mehr zu sich selbst, während er den Boden inspizierte. »Aber warum wollte er sie dann mit dem Auto erst heute Morgen wegschaffen?«
»Vielleicht mag er keine toten Frauen in seinem Bootshaus«, sagte Masclau und ließ Leon nicht aus den Augen.
»Würden Sie bitte am Eingang stehen bleiben?« Leon deutete zu dem Holztor.
»Entschuldigen Sie, Maître«, sagte Masclau mit ironischem Unterton.
»Ich werde von den Spritzern ein paar Proben nehmen«, erklärte Leon. »Nur zur Sicherheit, für den Abgleich mit dem Opfer. Um den Rest soll sich später die Spurensicherung kümmern.«
Kurz darauf stand Leon vor dem geöffneten Kofferraum des Renault. Er hatte mit einer Schere die große Tragetasche an der Seite aufgeschnitten. Er wollte verhindern, dass Spuren verloren gingen, die vielleicht an dem Reißverschluss der Tasche anhafteten. Leon versuchte, die Tote aus der Tasche zu hieven, aber dafür war es zu spät. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Also zerschnitt Leon vorsichtig die Tasche und streifte den Nylonstoff wie ein zu enges Kleidungsstück von dem toten Körper herunter. Das Opfer war nackt, die Totenflecken hatten sich bereits gebildet. Sie erinnerten Leon immer an Sonnenbrand.
Masclau hatte sich weit nach vorne gebeugt, sodass ihm nichts von Leons Arbeit entging. Der Médecin Légiste hatte recht gehabt: Der Täter war wirklich wie ein wildes Tier über sein Opfer hergefallen. Der Körper war übersät mit Einstichen. »Verursacht durch einen scharfen Gegenstand, wahrscheinlich ein Messer«, murmelte Leon.
48 Mal hatte der Unbekannte zugestochen, wie Leon später bei der Obduktion zählen würde.
Als Leon versuchte, das Opfer im engen Kofferraum auf den Rücken zu drehen, stieg eine kleine Wolke brummender Schmeißfliegen unter der Toten auf. Er betrachtete einige Sekunden schweigend die Insekten.
»Die vergangene Nacht war windig und kühl«, dachte Leon laut nach. »Die Insekten sind noch nicht lange hier«, sagte Leon.
»Ist ja widerlich«, sagte Masclau, ohne wegzusehen.
»Was können Sie über den Todeszeitpunkt sagen?«, unterbrach Zerna Leons Gedanken.
»Sehen Sie hier die Totenflecken?«, Leon deutete auf die breite rote Verfärbung der Haut auf der rechten Körperseite. »Das Opfer muss einige Stunden auf dieser Seite gelegen haben. Zusammengekauert, in einer Art Embryohaltung. So, als hätte die Frau sich in den letzten Augenblicken ihres Lebens vor den Stichen des Mörders schützen wollen.«
»Wie lang lebt jemand noch mit solchen Messerstichen?«, fragte Masclau, der ein Faible für besonders krasse Todesumstände hatte.
»Masclau«, kam die kurze Mahnung von Zerna.
»Die Totenstarre ist stark ausgeprägt«, sagte Leon, »und die Resttemperatur im Körper beträgt 27 Grad. Das bedeutet, dass sie etwa 6 bis 8 Stunden hier lag.«
»Das heißt, sie wurde gegen Mitternacht getötet?«, fragte Zerna.
»Es könnte auch zwei Stunden früher geschehen sein. Bei diesen Außentemperaturen wird das Einsetzen der Totenstarre noch beschleunigt«, meinte Leon.
»Also gestern Abend, zwischen 22 Uhr und Mitternacht«, rechnete Zerna.
»Wie gesagt, so genau lässt sich das jetzt vor der Obduktion noch nicht bestimmen, aber die Zeit würde in etwa hinkommen«, Leon zog eine silberne Folie über den Körper des Opfers.
»Wenn er die Frau gestern Abend getötet hat«, sagte Zerna, »warum hat er dann bis heute Morgen gewartet, bevor er sie wegschafft?«
»Gute Frage«, Leon sah den Polizeichef an. »Sie sind die ermittelnde Behörde.«
Isabelle tauchte bei der Gruppe auf, in der Hand einen kleinen Notizblock.
»Konnten Sie noch etwas von dem Zeugen erfahren?«, wollte Zerna von seiner Stellvertreterin wissen.
»Ich denke, er hat tatsächlich mit dem Fall nichts zu tun: Sie hatten recht, er versucht, tough zu wirken, aber die Sache hat ihn ziemlich mitgenommen.«
»Was ist mit dem Täter?«, fragte Masclau. »Der Zeuge muss ihn doch gesehen haben?«
»Er glaubt, den Täter schon mal gesehen zu haben«, sagte Isabelle. »Er weiß aber nicht, wo. Aber wie gesagt, er ist ziemlich durcheinander.«
»Vielleicht sollten Sie es später noch einmal versuchen, wenn er sich beruhigt hat«, schlug Zerna vor.
»Er hat gefragt, ob er nach Hause gehen kann. Er wohnt ganz in der Nähe, in Cavalière. Hat da ein Haus. Seine Frau wartet auf ihn.«
»Von mir aus, aber er soll sich bei uns melden«, ordnete Zerna an. »Ich erwarte ihn heute Nachmittag, um 15 Uhr, spätestens.«
In diesem Moment hob eine kleine Böe die Folie an, und für einen Moment konnte Isabelle zum ersten Mal das Gesicht des Opfers sehen.
»Ich kenne die Frau«, sagte sie zögernd. »Das ist Madame Roussel, Élodie Roussel. Sie arbeitet für das Büro des Bürgermeisters. Hat sich noch vor ein paar Tagen über einen Stalker beklagt.
»Hat sie Anzeige erstattet?«, fragte Zerna.
»Ich dachte, so wie sie es geschildert hat, dass sie sich nur etwas einbildet – es war nicht das erste Mal, dass sie der Meinung war, jemand verfolge sie.«
»Nach Einbildung sieht das hier für mich nicht aus«, sagte Masclau gehässig.
Isabelle ignorierte ihn. »Wir müssen den Bürgermeister informieren.« Als ihr Mobiltelefon klingelte, machte sie eine entschuldigende Geste und sagte: »Entschuldigen Sie mich einen Moment!« Sie nahm den Hörer ans Ohr. »Morell … hallo. Haben Sie den Halter gefunden? Wie bitte? Können Sie das noch mal wiederholen? Sind Sie da ganz sicher? Natürlich, ich verstehe. Danke.«
Isabelle schaltete das Handy ab und starrte ein paar Sekunden verständnislos das dunkle Display an.
»Was ist jetzt? Haben wir den Namen des Halters?«, drängte Zerna ungeduldig, und Isabelle nickte zögernd.
»Das Auto gehört Daniel Robien.« Sie schluckte trocken. »Dem Bürgermeister.«