72. Kapitel

»Das ist für Ihre Abteilung abgegeben worden.« Schwester Monique hielt Leon zwei Pakete mit perfekt gefalteten Ärztekitteln entgegen, die in Folie eingeschweißt waren.

»Wusste gar nicht, dass immer noch was in der Wäscherei war.«

»Ab morgen ist Schluss damit«, sagte Monique, »dann läuft wieder alles über unsere Klinikwäscherei.«

»Zeit wird es ja«, sagte Leon. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in meinem Job auch mal um Wäscheprobleme kümmern muss.«

»Soll ich die Sachen in die Rechtsmedizin bringen lassen?«, fragte Monique.

»Nein, geht schon. Ich nehme sie mit nach unten, vielen Dank.« Leon nahm der Schwester die beiden Pakete ab.

»Das müssen Sie aber nicht tun«, sagte Schwester Monique und sah Leon mit einem tiefen Blick an, von dem sie dachte, dass er unerhört sexy war.

»Schon gut, ich bin ja ohnehin auf dem Weg«, sagte Leon und ging zur Treppe, die ins Souterrain führte.

Schwester Monique sah ihm nach, als ihr noch etwas einfiel.

»Dr. Bayet hat nach Ihnen gefragt, Docteur«.

»War es dringend?«, fragte Leon.

»Ich denke nicht, sonst hätte er bestimmt etwas gesagt.«

Da hat sie recht, dachte Leon. Wenn der Klinikleiter unter Druck stand, und das tat er fast immer, konnte er sehr anmaßend und unangenehm sein. Wenn er dagegen freundlich um einen Besuch bat, dann wollte er in der Regel etwas von einem. Leon beschloss, die Begegnung noch etwas herauszuschieben, und nahm die Treppe nach unten.

Die kommenden zwei Stunde beschäftigte er sich mit der Blutprobe, die er dem Toten im Bootshaus abgenommen hatte. Bereits die erste Bestimmung zeigte Leon, dass er mit seiner Vermutung richtiggelegen hatte: Daniel Robien hatte die relativ seltene Blutgruppe AB, Rhesusfaktor positiv. Damit entsprach sie weder der Blutprobe von der Wand noch irgendeinem der Abstriche, die die Polizei den bisherigen Verdächtigen abgenommen hatte. Natürlich würde Leon alle Proben noch einmal durch das DNA-Analysegerät laufen lassen. Aber er hätte jetzt schon darauf gewettet, dass das Ergebnis dasselbe sein würde. Das Blut, das Leon an der Wand des Bootshauses zwischen dem des Opfers entdeckt hatte, würde von keinem der bisher Verdächtigen stammen.

Die Obduktion verlief ohne Überraschungen. Daniel Robien war ein gesunder Mann von 55 Jahren. Man sah ihm an, dass er zu viel Zeit im Büro verbrachte. Er hatte den Ansatz eines Bauches, und die schmalen Beinmuskeln zeigten Leon, dass der Bürgermeister in seinem Leben nur wenig Sport getrieben hatte. Der Mann war bis zuletzt in guter Verfassung gewesen, notierte Leon. Einzig die Gallensteine hätten Robien demnächst Schwierigkeiten machen können. Ansonsten war der Bürgermeister ein gesunder Mann. Er hätte alt werden können, dachte Leon. So wie es aussah, hatte ihn die reine Verzweiflung in den Tod getrieben.

Was stand auf dem Wahlplakat, das Leon vor dem Rathaus gesehen hatte? »Daniel Robien – der Mann, dem Sie vertrauen können!«

Eine Stunde später war der Autopsiebericht fertig. Die kompletten Laborberichte würde Leon erst morgen bekommen. Aber so konnte er dem Staatsanwalt in Toulon schon mal seine Vorab-Einschätzung per Mail schicken. Das würde es dem Staatsanwalt einfacher gegenüber Kriminalpolizei und dem Präfekten machen, denn beim Tod eines Bürgermeisters würden die Behörden ganz besonders genau hinsehen.


»Bonjour , Docteur«, grüßte ihn einige Minuten später Madame Dure, die Sekretärin des Klinikleiters, und winkte mit der Hand in Richtung der Tür, auf der in Aluminiumbuchstaben der Name stand: Dr. Hugo Bayet.

»Kann ich?«, fragte Leon die Sekretärin mit Blick auf die Tür.

»Er erwartet Sie schon.«

Der Klinikleiter erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als Leon eintrat. Das war ungewöhnlich. Normalerweise mussten die Mitarbeiter auf einem einfachen stoffbezogenen Stuhl Platz nehmen, während Bayet sie von seinem ledernen Chefsessel aus in die Zange nahm. Nichts davon heute.

»Docteur«, sagte Bayet freundlich. »Schön, dass Sie Zeit hatten vorbeizusehen. Setzen wir uns doch an den Tisch.«

»Danke«, antwortete Leon zurückhaltend.

In Bayets Büro gab es eine Besucherecke mit eleganten Designermöbeln, die aber normalerweise nur den Professoren oder den Krankenkassenchefs vorbehalten waren. Auf dem Tisch standen eine Thermoskanne, Mineralwasser und Tassen.

»Ich habe einen ganz ordentlichen Kaffee zu bieten«, sagte der Klinikchef. »Frisch aus der Kantine.«

»Danke«, sagte Leon, »sehr freundlich, aber das ist zu spät für mich.«

»Na gut«, sagte Bayet, »Sie sind schließlich der Docteur.«

»Worum geht es?«, fragte Leon sachlich.

»Sehr gut, immer gleich auf den Punkt, Docteur Ritter«, antwortete Bayet. »Eigentlich ist es nur eine Kleinigkeit, eine Personalie, bei der ich auf Ihre Unterstützung setze.«

»Um wen geht es?« Leon ahnte, was kommen würde.

»Nun ja, Sie haben ja hautnah mitbekommen, was in den letzten Tagen hier los war.«

»Es gab eine Menge zu tun …«, antwortete Leon vage und zwang den Klinikleiter in die Offensive.

»Sie wissen ja, dass Monsieur Rybaud schon immer Probleme hatte, sich in den Klinikbetrieb einzufügen.

»Das ist mir eigentlich so nie aufgefallen«, sagte Leon.

»Gut möglich«, sagte Bayet, »aber er passt leider nicht in unsere … wie soll ich sagen, in unsere Familie. Ja, in unsere wunderbare, gemeinsame Klinikfamilie.«

Von »gemeinsamer Klinikfamilie« kann nicht die Rede sein, dachte Leon. Die Klinik gehörte einem privaten Konsortium, das eine ganze Kette von Krankenhäusern besaß, die vor allem ein Ziel hatte: Profit machen.

»Ich arbeite sehr gerne mit Monsieur Rybaud zusammen«, sagte Leon.

»Möglich, aber mit dieser Ansicht stehen Sie wirklich allein da, Docteur.« Noch lächelte Bayet freundlich.

»Das kann ich nicht beurteilen«, erklärte Leon. »Aber Monsieur Rybaud ist ein außergewöhnlich guter Assistent.«

»Ein Assistent unter Mordverdacht.«

»Für eine Untersuchungshaft haben die Ermittlungen gegen Monsieur Rybaud allerdings bisher nicht gereicht«, stellte Leon richtig.

»Sie haben Ihren Assistenten schließlich selbst schon wegen seines Verhaltens abgemahnt.« Bayet griff nach dem Ausdruck einer E-Mail, die auf seinem Schreibtisch lag.

Leon war ärgerlich: Er hatte seinem Assistenten tatsächlich eine Abmahnung geschickt. Rybaud war über einige Wochen regelmäßig zu spät gekommen. Leon war ratlos gewesen, weil er Rybaud mehrere Male angesprochen hatte und dieser ihm keine Erklärung für sein Verhalten gegeben hatte. Also hatte Leon ihm diese Abmahnung über das Hausnetz geschickt. Er wollte Rybaud damit ein wenig Druck machen. Später hatte er erfahren, dass Rybauds Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.

»Ich hatte das mit Monsieur Rybaud damals gleich geklärt«, sagte Leon mit Blick auf die Mail. »Das liegt schon Jahre zurück.«

»Genau gesagt ein Jahr und fünf Monate«, korrigierte der Klinikleiter.

»Worum geht es hier eigentlich?« Leon wurde ungeduldig.

»Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um uns von Monsieur Rybaud zu trennen. Dafür brauche ich eine kurze Stellungnahme von Ihnen.«

»Aber, da sehe ich keinen …«, wollte Leon unterbrechen, doch der Klinikchef sprach einfach weiter.

»Betrachten wir doch die Sache realistisch: Rybaud ist nicht entlastet. Ganz im Gegenteil, wir müssen täglich damit rechnen, dass er unter Mordanklage gestellt wird. Er hat sich eine Menge Gegner in der Klinik gemacht mit seiner sehr speziellen Art. Docteur Ritter, ich möchte doch nur eine Personalie austauschen, die längst überfällig war.«

»Ich verstehe, Sie wollen Rybaud kündigen, und ich soll Ihnen dabei helfen. Nur weil die Polizei gegen ihn ermittelt«, sagte Leon. »Tut mir leid, aber den Gefallen kann ich Ihnen nicht tun. Rybaud ist mein Assistent, und ich brauche ihn dringend in meiner Abteilung.«

»Er ist vor allem ein Mann, der unter dem Verdacht steht, vier Menschen ermordet zu haben«, entgegnete Bayet, und Leon spürte, wie schwer es dem Klinikleiter fiel, ruhig zu bleiben. »Und ja, er ist für die Klinik untragbar geworden.«

»Ich habe noch einen Termin, Dr. Bayet.« Leon sah demonstrativ auf seine Uhr. »Ich fürchte, in diesem Fall muss ich leider passen.«

»Schlafen Sie noch mal darüber. Sie sollten keinen Fehler machen, Docteur«, sagte Bayet eisig. »Das wäre schade, denn ich schätze Ihre Arbeit sehr.«

»Einen schönen Tag noch«, sagte Leon so freundlich, als hätte man sich nur über das Wetter unterhalten.