Wann der Schuss gefallen war, konnte später nicht mehr genau rekonstruiert werden. Die Auswirkungen waren jedoch erheblich, denn der Schütze war kein Anfänger. Pierre Favre war sein Leben lang auf die Jagd gegangen, und er wusste, was eine Ladung 4 mm-Schrot bei einem Wildschwein anrichten konnte. In diesem Fall hatte die Patrone einem Streifenwagen der Gendarmerie nationale den Rest gegeben. Dazu war es gekommen, weil der junge Polizist Marcel Roger, der zu einer Routinekontrolle bei den Favres vorbeigekommen war, die Warnungen eines lungenkranken Pensionärs nicht ernst genommen hatte.
Der Zwischenfall hatte eine Vorgeschichte, und die begann um vier Uhr in der Früh. Das war eigentlich die Zeit, in der die Menschen und ganz besonders die Pensionäre noch im Tiefschlaf lagen. Das galt aber nicht für Françoise Sévenier. Die 71-jährige ehemalige Lehrerin für Handarbeit und Erdkunde am Collége Frédéric Mistral in Le Lavandou hatte erst kürzlich zwei Schicksalsschläge hintereinander hinnehmen müssen. Der erste war der Tod ihres Mannes Pierre gewesen. Auch nach einer 40 Jahre anhaltenden gleichtönigen Ehe war das ein erschütterndes Ereignis, aber noch härter hatte Françoise drei Wochen später der Tod ihres geliebten Schnauzers Gaston getroffen. Das brave Tier hatte das stolze Alter von 16 Jahren an der Seite seines Frauchens erlebt, bis ihn die schweren Doppelreifen eines Müllwagens in den Hundehimmel befördert hatten. Seit diesem Unfall hatte Françoise nicht mehr durchgeschlafen. Darum war sie zu dieser nachtschlafenden Zeit bei weit geöffnetem Fenster einsam in ihrem Wohnzimmer gesessen und hatte sich an ihre Männer erinnert, wie sie ihren Ehemann und ihren Hund liebevoll bezeichnete. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen, die vom Licht des abnehmenden Mondes beleuchtet wurde, und dachte an die Ausflüge, die sie gemeinsam unternommen hatten, und an die feuchte kalte Schnauze ihres braven Gefährten Gaston.
Wie ein Geist war plötzlich ein Mann zwischen den Büschen auf der Landstraße hervorgestolpert. Er war groß und dünn, und er wirkte desorientiert, wie er in Richtung der Häuser getaumelt war. Im Näherkommen erkannte Françoise den Mann: Es war Patrick Favre, nach dem ganz Frankreich suchte. Der Mann, der als der Mörder von vier jungen Menschen galt.
»Patrick!?« Françoise war so erschrocken, dass sie den Namen ausstieß, lauter als sie beabsichtigt hatte.
Die Lehrerin ließ sich vom Stuhl rutschen und auf den Boden ihres Wohnzimmers fallen, noch bevor Patrick sie entdeckte. Sie hörte schnelle Schritte auf der Straße, dann ein Rascheln der Büsche, und dann war es wieder still.
Mehrere Minuten hockte die Lehrerin zitternd am Boden. Dann erhob sie sich ganz langsam und spähte vorsichtig über den Fensterrahmen. Aber da war nichts. Die Nachbarn schliefen, die Straße lag ganz ruhig, und am Horizont konnte Madame Sévenier das allererste Licht des frühen Morgens erkennen. Das Haus der Favres lag schräg gegenüber. Die Lehrerin horchte angestrengt in die Dunkelheit, aber auch von dort war nichts zu hören.
Vielleicht hatte sie sich getäuscht und sich alles nur eingebildet? Es passierte ihr in letzter Zeit öfter, dass sie etwas sah, was auf den zweiten Blick hin wieder verschwunden war. Sie hatte sich damit abgefunden und es auf ihr Alter geschoben. Aber in diesem Fall? Madame Sévenier beschloss, sich noch einmal hinzulegen und die ganze Sache zu überdenken. Nach einem kurzen Schlaf und bei einer Tasse grünem Tee grübelte sie über die Abenteuer der vergangenen Nacht nach. Einen Abwasch und einen Korb schmutziger Wäsche später entschied die Lehrerin sich, die Gendarmerie anzurufen. Nicht dass man ihr später Vorwürfe machen konnte, dass sie die Sache zu spät gemeldet hatte.
Der diensthabende Beamte hatte den Anruf entgegengenommen, den Worten der Lehrerin allerdings nicht allzu viel Bedeutung beigemessen. Immerhin informierte er den jungen Lieutenant Marcel Roger, der mit seinem Streifenwagen in der Nähe war. Und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Marcel hatte den Streifenwagen in der Einfahrt der Favres geparkt und war auf das Haus zugegangen. Plötzlich flog die Tür auf, und da standen die beiden: Der alte Pierre Favre, und neben ihm sein Sohn Patrick, nach dem alle suchten.
»Verschwinden Sie!«, hatte der lungenkranke Favre gebrüllt, aber der junge Lieutenant war weiter auf das Haus zugegangen. Erst als er nur noch zwei Meter von der Tür entfernt war, erkannte er, dass sowohl Pierre Favre als auch sein Sohn eine Schrotflinte in der Hand hielten.
»Waffen fallen lassen«, rief der junge Polizist mit unsicherer Stimme und versuchte, gleichzeitig die eigene Pistole aus dem Gürtelholster zu ziehen. Aber die Aufregung und die Tatsache, dass Marcel erst kürzlich den Dienst angetreten hatte, sorgten dafür, dass das Holster nagelneu und steif war und die Pistole sich verklemmte. Das gab dem alten Favre die Chance, seine Flinte anzuheben und in Marcel Rogers Richtung zu zielen.
»Ich habe gesagt, Sie sollen verschwinden!«, brüllte Favre und bekam einen Hustenanfall, der den Gewehrlauf hin und herschwanken ließ. Der Lieutenant duckte sich und rettete sich mit einem Sprung rückwärts, als der Schuss fiel. Die Schrotkugeln rasten mit über 500 Stundenkilometer auf den Streifenwagen zu, durchschlugen Tür und Motorhaube und zerfetzten die Kühlanlage. Fassungslos starrte der junge Polizeibeamte auf seinen Einsatzwagen, der jetzt hilflos wie ein weidwund geschossenes Rhinozeros im Hof stand, dem das Kühlwasser aus den zerfetzten Schläuchen lief. In Panik war der Polizist zurückgerannt und hatte Deckung hinter den Platanen gefunden. In der rechten Hand hielt er inzwischen seine Waffe, in der linken das Funkgerät, mit dem er die Zentrale anrief: »Auf einen Polizeibeamten wird geschossen!«
So kam es, dass Isabelle 20 Minuten später zum dritten Mal vor dem Haus der Favres stand, doch diesmal war die Polizei vorbereitet. Die Beamten der Gendarmerie hatten die Straße vor dem Haus großräumig abgesperrt. Acht mit automatischen Schnellfeuergewehren bewaffnete Beamte sicherten den Bereich vor dem Haus.
Zerna hatte es sich nicht nehmen lassen, die Festnahme des flüchtigen Patrick Favre persönlich zu leiten. Wie ein Feldherr hatte er auf einem Campingstuhl hinter den Platanen Platz genommen. Vor ihm stand eine Kiste, darauf lag ein Handy, die direkte Leitung zum Festnetz der Favres. Isabelle und Masclau standen neben ihrem Chef.
»Gleich 11 Uhr«, Zerna sah auf seine Uhr. »Höchste Zeit, dass wir diesem Theater ein Ende machen und die beiden da rausholen.
»Was haben Sie vor?«, fragte Isabelle skeptisch.
»Na was schon …? Wir werden den Laden stürmen.«
»Am besten, wir schießen ein paar Tränengasgranaten in die Bude«, meldete sich Masclau. »Wenn es ordentlich kracht und raucht, kommen die schon von alleine raus.«
»Monsieur Favre hat Lungenkrebs«, Isabelle klang vorwurfsvoll. »Ein Angriff mit Tränengas könnte ihn umbringen.«
»Monsieur Favre hat auf einen meiner Beamten geschossen«, brummte Zerna.
»Das steht noch nicht fest«, sagte Isabelle, »der Schuss hat sich möglicherweise aus Versehen gelöst.«
»Leiten Sie diese Festnahme oder ich?«, stellte Zerna die hypothetische Frage. Isabelle antwortete nicht. Zerna nahm das als stille Kapitulation hin. »Sind alle auf ihren Plätzen?«, fragte er seinen Lieutenant.
»Oui, mon Commandant «, sagte Masclau übertrieben militärisch und deutete zur Rückseite des Hauses. »Ich habe noch zwei zusätzliche Scharfschützen in Position gebracht. Einer hinter dem Haus und einer auf dem Dach der Garage. Erreichbar über Kanal 5.«
»Sehr gut, Lieutenant.« Zerna griff nach dem Funkgerät, das vor ihm lag, und drückte den Sendeknopf.
»Hier spricht der Einsatzleiter. Wir werden das Haus stürmen. Geschossen wird nur, wenn auf Sie gefeuert wird. Warten Sie auf mein Kommando.«
»Sie wollen da jetzt wirklich unsere Leute reinschicken?« Isabelle konnte nicht fassen, was sich vor ihren Augen abspielte.
»Natürlich«, sagte Zerna. »Dafür sind sie schließlich ausgebildet worden.«
»Lassen Sie mich noch einmal mit Favre reden, bitte.«
»Mit diesen Leuten kann man nicht reden«, sagte Zerna unwirsch. »Sie können später gerne die Vernehmung übernehmen. Aber jetzt werden wir den Herren erst mal ordentlich in den Arsch treten.«
Isabelle stellte sich direkt vor ihren Chef.
»Der Vater ist schwer krebskrank und versucht, seinen Sohn zu schützen«, sagte Isabelle. »Und was Patrick Favre angeht … Sie kennen ihn doch. Mit dem kann man reden. Glauben Sie mir.«
»Hat Patrick Favre Sie nicht vor ein paar Tagen mit dem Schraubenzieher angegriffen?«, antwortete Zerna.
»Nicht wirklich«, sagte Isabelle. »Patrick ist ein verstörter Mensch. Den sie noch vor ein paar Tagen entführt und zusammengeschlagen haben. Wenn wir da jetzt mit Blendgranaten und Gas reingehen, könnte er die Nerven verlieren und irgendeine Dummheit machen.«
»Na gut. Hier, sprechen Sie mit ihm, wenn Sie denken, dass Sie das geregelt bekommen.«
»Nicht damit. Ich gehe zu ihm.« Sie zog ihre Waffe aus dem Holster und legte sie vor Zerna auf die Kiste.
»Was soll das?«, fragte er.
»Ich will nur mit den beiden reden. Drei Minuten, in Ordnung?«
Isabelle wartete keine Antwort ab und lief, ohne sich umzudrehen, auf die Tür des Hauses zu.
»Bleiben Sie stehen, Capitaine. Das ist ein Befehl«, rief Zerna ihr hinterher, aber Isabelle tat so, als hätte sie nichts gehört. Zerna griff zum Funkgerät. »Hier spricht der Einsatzleiter, alle bleiben auf ihren Plätzen. Warten Sie auf meinen Zugriffsbefehl.«
»Monsieur Favre …?«, rief Isabelle, während sie auf das Haus zuging.
»Bleiben Sie weg!«, drang die Stimme des Alten durch die angelehnte Tür.
Isabelle stieß die Tür leicht an und sagte mit ihrer liebenswürdigsten Stimme. »Ich komme jetzt rein zu Ihnen, Monsieur Favre. Ich bin allein, und ich trage keine Waffe.«
Isabelle verschwand im Haus.
»Merde !«, fluchte Zerna so laut, dass es jeder hören konnte.
Obwohl draußen die Sonne vom Himmel brannte, war es im Haus kühl und dämmrig. Isabelle hatte die Hände erhoben und ging auf die beiden Männer zu, die im Wohnzimmer warteten.
Das sind doch keine Mörder, dachte Isabelle, als sie die beiden Männer betrachtete. Pierre Favre saß im Rollstuhl, die Flinte im Schoß. Er versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken und rang dabei nach Atem. Patrick sah man an, dass er auf der Flucht war. Ein verzweifelter Mensch, der sich nach ein paar Momenten der Sicherheit sehnte und sich deshalb bei seinem kranken Vater versteckte. Patrick hinkte, als er auf Isabelle zukam. In der Hand hielt er eine alte, doppelläufige Flinte.
»Nehmen Sie bitte die Waffe runter«, sagte sie. »Sonst könnten die da draußen denken, dass Sie auf mich zielen.«
»Was wollen Sie?«, fragte Patrick.
»Vor Ihrem Haus warten acht schwerbewaffnete Polizisten darauf, dass sie hier alles kurz und klein schießen können.«
»Schweine«, krächzte der Vater.
»Ich möchte verhindern, dass das passiert. Darum bin ich hier«, sagte Isabelle ganz ruhig, obwohl sie vor Angst ihr Herz schlagen spürte.
Der Vater hustete heftiger.
»Was wollen Sie?«, fragte Patrick und versuchte, hart und entschlossen zu wirken.
»Ich möchte, dass wir zusammen hier rausgehen. In der Wache können wir dann in Ruhe sprechen. Und ich möchte für Ihren Vater medizinische Hilfe organisieren.«
»Die denken doch, dass wir Verbrecher sind. Wenn wir da rausgehen, dann knallen die uns ab.« Patrick stand dicht neben dem Fenster mit dem Rücken zur Wand.
»Weil auf ein Auto geschossen wurde? Autos zu erschießen ist kein Verbrechen, Monsieur Favre«, sagte Isabelle, und ihr gelang ein kleines Lächeln.
»Ich traue keinem Flic«, Patrick sah Isabelle an. »Auch Ihnen nicht.«
In diesem Moment begann sein Vater, erneut zu husten, diesmal heftiger als zuvor. Ein atemloses Keuchen, als müsste er jeden Moment ersticken.
»Père «, sagte Patrick besorgt. Er legte ihm die Hand auf den Rücken, aber der Anfall wurde schlimmer. »Scheiße, wo ist dein Spray? Wo ist das verdammte Spray?«
Der Vater hustete weiter, und sein Sohn durchsuchte verzweifelt seine Taschen im Morgenmantel.
»Wo hast du das Scheißzeug, Papa. Wo?«, sagte er.
Isabelle konnte Tränen und Verzweiflung in Patricks Stimme hören. In diesem Moment sah sie das hellblaue Spray am Boden liegen. Sie hob es auf und gab es Patrick.
»Ist es das hier?«
»Geben Sie her!« Er riss Isabelle den kleinen Vernebler aus der Hand und half seinem Vater, einen tiefen Atemzug von der Medizin zu nehmen. Das Aerosol wirkte sofort.
Pierre Favre saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl, aber Isabelle konnte hören, dass er wieder gleichmäßig atmete.
»Er braucht Hilfe«, sagte Isabelle. »Noch so einen Anfall, das würde er nicht überleben.«
»Dann sollen die Flics da draußen verschwinden.«
»Das geht nicht«, sagte Isabelle, »aber ich kann dafür sorgen, dass alles friedlich abläuft. Wenn Sie mir helfen.«
»Helfen …«, sagte er mit Verachtung in der Stimme.
»Ja oder nein?«, fragte Isabelle betont ruhig.
Patrick zögerte nur einen Moment, dann sagte er: »Gehen wir.«
»Gute Entscheidung.« Isabelle deutete auf die Flinte, die Patrick jetzt wieder in der Hand hielt. »Die bleibt hier.«
Patrick klappte die Waffe auf, und Isabelle sah, dass das Gewehr ungeladen war. Patrick öffnete auch das Gewehr, das sein Vater noch immer auf dem Schoß hielt. Zwei Schrotpatronen sprangen aus den Läufen. Er legte auch dieses Gewehr auf den Boden.
»Wir kommen raus«, rief Isabelle. »Unbewaffnet!«
»Nehmen Sie die Hände hoch!«, rief ein Polizist, der mit einem Schnellfeuergewehr auf die Gruppe zielte.
»Wir sind alle unbewaffnet«, wiederholte Isabelle laut und deutlich.
Mit einem Sprung war Masclau bei der Gruppe. Er packte Patrick und schleuderte ihn hart auf den Boden.
»War das wirklich nötig?«, fragte Isabelle Masclau. »Die Waffen liegen im Wohnzimmer.«