Es war für Lilou inzwischen zum Ritual geworden: Jeden Freitag um 17:25 Uhr hielt im Bahnhof von Toulon der TGV, der von Lyon nach Nizza fuhr. Das war nicht nur die schnellste Verbindung von der Stadt an der Rhône ans Mittelmeer, es war vor allem der Zug, mit dem Oscar fuhr. Der Zug, auf den Lilou jedes Wochenende aufgeregt wartete.
Sie gefiel sich in der Rolle der verliebten jungen Frau, die ihren Mann am Bahnhof abholte. Es war das Spiel eines Lebens, das sie eines Tages zusammen haben würden. Denn das stand für Lilou schon heute fest: Wenn sie das Baccalauréat hätte, würde sie mit Oscar eine abenteuerliche Reise machen. Vielleicht nach Afrika oder Südamerika, für eine NGO-Organisation arbeiten. Lilou hatte sich schon umgehört. Oscar würde natürlich mitkommen. Und wenn sie den Gedanken weiterspann, in eine nicht allzu ferne Zukunft, würde sie für immer mit Oscar zusammenbleiben. Zusammenbleiben mit ihrem wunderbaren, sanftmütigen Oscar mit dem treuen Blick und der verführerischen Stimme. Wenn sie nur an diese Stimme dachte, war sie zu jedem Leichtsinn bereit. So wie heute, als sie sich mal wieder den Méhari ihrer Mutter ausgeliehen hatte.
Lilou war extra eine Viertelstunde zu früh am Bahnhof angekommen. Dann konnte sie noch einen petit noir an dem kleinen Kiosk auf dem Bahnsteig trinken. Eigentlich mochte sie keinen Espresso, außer, wenn sie viel Zucker hineinrührte. Aber der Espresso auf dem Bahnsteig, die Fahrt mit dem offenen Auto und dann die Nächte in Le Lézard , das fühlte sich alles so aufregend und so erwachsen an.
Lilou beobachtete eine junge Frau, die ganz offensichtlich ihren Freund unter den Ankommenden erkannt hatte, auf ihn zulief und ihm in die Arme fiel. Woher wussten die Menschen eigentlich, dass sie den Richtigen erwischt hatten, den Partner fürs Leben, mit dem man glücklich werden konnte? Waren nicht alle Paare am Anfang glücklich? Aber kaum war die Routine eingekehrt … Lilou wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken. Warum trennten sich so viele Paare nach so kurzer Zeit wieder? Was war die Klippe, an der so viele scheiterten?
Egal, Oscar war der Richtige für Lilou, so viel stand jedenfalls fest. Lilou sah den Bahnsteig entlang, auf den jeder ankommende Zug neue Menschen ausspuckte. Auf die meisten wartete jemand, Frauen, Männer, Kinder. Waren diese Menschen auch überzeugt, den Partner fürs Leben gefunden zu haben? Was für eine verwirrende Welt, dachte Lilou, während sie beobachtete, wie eine genervte junge Mutter ihren zwei kleinen Kindern hinterherlief.
Lilou bemerkte den Mann nicht, der auf der anderen Seite des Bahnsteigs stand, gelangweilt in einer Zeitung blätterte und sie dabei keinen Moment aus den Augen ließ.
»Bonsoir, Madame .« Oscar war aus der Menschenmenge aufgetaucht, und Lilou hatte ihn gar nicht kommen sehen.
»Oscar!« Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss.
»Bist du hungrig?«, fragte Oscar. Sie nickte. »Wie wäre es, wenn wir eine Pizza bei Molinero mitnehmen und sie dann auf der Terrasse von Le Lézard essen?«
»Großartige Idee!«
Lilou hatte sich an Oscar gekuschelt, der den Méhari durch den warmen Sommerabend steuerte. Sie hatten aus dem kleinen Wagen die Türen herausgenommen und auf den Rücksitz gelegt. Jetzt hatten sie nur noch das flatternde Stoffdach über ihrem Kopf. Bei Regen und Kälte wäre das natürlich kein sinnvolles Auto, aber hier unten in der Provence war der kleine Citroën das ideale Fortbewegungsmittel.
Am fahrbaren Pizzastand von Molinero hatte sich eine Schlange junger Leute gebildet, die brav warteten, bis sie an die Reihe kamen. Die Pizza von Molinero galt als die beste am ganzen Strand, und sie war auch noch günstig. Lilou war es egal, ob sie ein paar Minuten länger warten mussten. Hauptsache, sie war mit Oscar zusammen.
Zwanzig Minuten später stiegen sie wieder in den Méhari. Lilou stellte die beiden ofenwarmen Pizzas auf ihren Knien ab, und im Autoradio spielten sie den Uralthit »When a Man Loves a Woman«.
Oscar folgte ein Stück der Département-Straße in Richtung Collobrières, als sich Lilou umwandte.
»Hast du den Camion gesehen? Der fährt schon seit dem Strand hinter uns her«, sagte sie und klang besorgt.
»Welcher Camion?«, fragte Oscar.
»Da ist nur ein Camion«, sagte Lilou. »Und der fährt die ganze Zeit hinter uns her.«
»Ist vielleicht der böse Mann …« Oscar grinste und streckte seine rechte Hand wie eine Klaue zu Lilou hinüber.
»Hör auf, das ist nicht lustig!« Lilou war froh, dass sie nicht alleine auf der einsamen Landstraße unterwegs war.
»Da vorne ist es schon.« Oscar hatte den Fuß vom Gas genommen, und sie bogen in die Abzweigung zum Weingut Le Lézard ein. »Jetzt werden wir ja sehen, wie anhänglich dein neuer Freund ist«, sagte Oscar und fuhr ein Stück den Feldweg hinauf und schaltete die Scheinwerfer aus. Nur einen Augenblick später rauschte ein Lieferwagen an der Abzweigung vorbei und verschwand auf der Straße in der Dunkelheit.
»So groß scheint die Leidenschaft ja nicht zu sein«, scherzte Oscar.
»Hätte ja sonst jemand sein können«, sagte Lilou und lächelte entschuldigend.
Oscar schaltete die Scheinwerfer wieder an, und sie fuhren den Weinberg zum Haus hinauf.
Hätten sie nur eine Minute länger gewartet, hätten sie gesehen, wie der Lieferwagen angehalten und gewendet hatte und dann in Schrittgeschwindigkeit an der Abzweigung vorbeigerollt war.