Die Sonne war erst vor einer halben Stunde aufgegangen, aber sie war bereits so warm, dass Leon und Isabelle den ersten Tee des Tages auf der Terrasse tranken.
»Du bist spät nach Hause gekommen«, sagte Leon.
»Ein paarmal dachte ich, dass Favre reden wollte …«, Isabelle unterbrach sich.
»Aber …?«, fragte Leon.
»Dann hatte ich wieder das Gefühl, dass er mit dem Fall tatsächlich nichts zu tun hat.«
»Du kennst ja meine Meinung«, Leon sah sie an. »Patrick Favre hat bestimmt eine Menge angestellt in seinem Leben. Aber Mord, denke ich, war nicht dabei.«
Isabelle sah über die Dächer von Lavandou und nippte an ihrem Tee. Leon spürte, dass sie etwas beschäftigte.
»Hat sich Lilou bei dir gemeldet?«, fragte sie bemüht nebensächlich.
»Eine SMS, gestern Abend. Sie hat geschrieben, dass sie im Haus angekommen sind und alles prima funktioniert«, sagte Leon.
»Die SMS hat sie mir auch geschickt.«
»Na also, kein Grund, sich Sorgen zu machen«, meinte Leon.
Leon kannte den Grund für Isabelles Sorgen genau. Vor ein paar Jahren war Lilou im Zuge einer Mordermittlung entführt worden. Seit dieser Zeit war Isabelle überbesorgt und übervorsichtig, wenn es um ihre Tochter ging. Leon konnte Isabelle in diesem Punkt nur zu gut verstehen. Sie wollte ihrer Tochter so viel Freiraum wie nur möglich geben. Aber es gab Momente, da kostete sie so viel Toleranz eine Menge Kraft.
»Findest du es richtig, dass die beiden nach Nizza fahren?«, fragte Isabelle.
Leon ging zu Isabelle und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Die besorgte Mutter«, sagte er liebevoll. »Lilou wird in zwei Wochen 18.«
»Drei«, korrigierte Isabelle.
»Na gut, in drei Wochen. Wir müssen ihr Luft zum Atmen geben«, er sah Isabelle mit großer Wärme in den Augen an. »Außerdem hat sie Oscar an ihrer Seite.«
»Oscar ist erst 23«, gab Isabelle zu bedenken.
»Oscar ist ein zuverlässiger junger Mann, der mitten in seinem Studium steckt.«
»Ja, ich weiß. Aber ich …«, sie zögerte. »Ich habe vorhin versucht, Lilou anzurufen, aber es hat sich nur der Anrufbeantworter gemeldet.«
»Isabelle, es ist sieben Uhr in der Frühe«, Leon sah Isabelle mit einem Lächeln an. »Da liegt man in diesem Alter noch mit dem Geliebten im Bett und kuschelt.«
»Da kann man doch trotzdem telefonieren.«
»Sei nicht so unromantisch. Verliebt heißt, dass du manchmal einfach keine Lust hast, ans Telefon zu gehen. Nicht mal, wenn die Mutter anruft.«
»Andere Leute stehen auch zeitig auf.«
»Nicht jeder ist so fleißig wie du.« Er küsste sie sanft auf die Wange. »Soll ich uns noch einen Tee holen?«
»Danke«, sagte Isabelle und reichte ihm ihre Tasse. »Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich so ein komisches Gefühl.«
»Du hast doch immer ein komisches Gefühl, wenn Lilou unterwegs ist.«
»Ich weiß, das verstehst du nicht«, rief sie Leon zu, der in der Küche war und Tee nachschenkte.
Als er zurück auf die Terrasse kam, stand Isabelle an der Brüstung, hielt die Augen geschlossen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Leon musste lächeln, wenn er sie so sah. Was hatte er für ein Glück. Er liebte diese Frau.
»Votre thé, Madame «, er servierte die Tasse wie ein Kellner.
»Merci.«
»Die beiden werden zwei tolle Tage in Nizza haben«, sagte Leon. »Der Onkel von Oscar hat sogar ein Segelboot.«
»Ich weiß nicht …«, murmelte Isabelle mehr zu sich selbst. Aber Leon hörte es trotzdem, und er spürte die Sorge, die darin lag.