79. Kapitel

Leon war mit seinem Wagen rechts rangefahren und ausgestiegen. Kurz vor Cuges-les-Pins hatte man einen großartigen Blick auf das Massif de la Sainte-Baume. Eine Hügelkette, die ihre höchste Erhebung im 1000 Meter hohen St. Pilon hatte. Leon genoss die kurze Unterbrechung seiner Reise nach Aix-en-Provence.

Es gab nur wenig Verkehr auf der alten Nationalstraße Nummer 8. Noch in den Sechzigerjahren war der ganze Verkehr in Richtung Süden über diese eine Straße geflossen. Heute hatten die Menschen weniger Zeit als früher und fuhren lieber auf der Autobahn. Sie wissen nicht, was sie verpassen, dachte Leon. Hier oben auf der Hochebene mit den kleinen, vergessenen Ortschaften konnte man es noch erleben, dieses Gefühl, in der echten Provence zu sein. Dort wo die Menschen sich am Markttag auf dem Platz vor der Kirche trafen. Und wo die Bistros noch Café des Sports oder Café du Commerce hießen und nicht Le Tam Tam oder Max Burger . Ein paar Meter weiter, im Schatten einer Korkeiche, stand ein Mann mit Strohhut, der frische Feigen verkaufte.

Auf die Entfernung wirkte er wie ein alter Mann, jetzt, als Leon näher kam, erkannte er, dass der Bauer jünger als er war. Der Obstverkäufer trug den ockerfarbenen Staub der Hügel im Gesicht, in den sich um die Augen ein Geflecht von Lachfältchen gegraben hatten. Sie redeten ein paar Sätze über das Wetter und die Trockenheit des Sommers. Dazu lärmten die Grillen, wie sie nur in der Provence lärmten, und es roch nach Rosmarinbüschen, deren ätherische Öle in der Hitze verdampften. Für einen Augenblick dachte Leon, wie das wohl wäre, an der Nationalstraße Nummer 8 im Schatten einer Korkeiche seine Feigen zu verkaufen. Leon kaufte fünf Feigen. Dann verabschiedete er sich und fuhr weiter. Bis Aix-en-Provence war es keine Stunde mehr.

Eigentlich hätte Leon längst bei seinem Kollegen in Aix sein sollen, aber der Vormittag war turbulent gewesen. Die Nachricht, auf die alle so sehnsüchtig gewartet hatten, erreichte sie während des Frühstücks gegen acht Uhr, als Isabelles Smartphone ein kleines vorwurfsvolles Pingen von sich gab. Es war Masclau. Seine Nachricht war kurz: »Patrick Favre hat gestanden.«

Leon hatte von Anfang an Probleme mit dem Geständnis, genau wie Isabelle. Aber die Siegesfeier in der Gendarmerie nationale war nicht mehr aufzuhalten. Wer jetzt noch Zweifel an Favres Täterschaft äußerte, würde als Spielverderber dastehen. Sie hatten einen Verdächtigen, und dieser Verdächtige hatte endlich zugegeben, fünf Menschen getötet zu haben. Das war das Einzige, was jetzt noch zählte.

Zerna hatte eilends für acht Uhr ein Meeting in der Kantine einberufen. Die Beamten der Gendarmerie drängten sich in dem völlig überfüllten Raum, niemand wollte etwas von der großen Show versäumen. Sogar Madame Lapierre hatte es sich nicht nehmen lassen, bei der frühen Besprechung dabei zu sein.

Pünktlich um 8:05 erhob sich Zerna von seinem Platz am Tischende und eröffnete die Besprechung mit den Worten:

»Die Gendarmerie von Le Lavandou ist stolz darauf, Ihnen mitteilen zu können, dass es gelungen ist, einen der brutalsten Mörder, den dieses Département jemals ertragen musste, dingfest zu machen. Patrick Favre hat heute Nacht um 4:30 Uhr vollumfänglich gestanden.«

Obwohl natürlich längst jeder die Gerüchte um ein Geständnis gehört hatte, brach jetzt in der Kantine Jubel aus. Applaus brandete auf, und Zerna strahlte. Isabelle würde Leon später erzählen, dass sie ihren Chef selten so stolz gesehen hatte. Zerna bedankte sich namentlich bei seinen Mitarbeitern und zählte jede einzelne Leistung auf. Als er an die Stelle kam, an der er die Festnahme des Täters durch Isabelles »heldenhaften« Einsatz beschrieb, gab es erneut Applaus, und einige der jungen Polizisten trampelten Zustimmung.

In Wirklichkeit war die Nachricht über das Geständnis keineswegs so strahlend und makellos, wie sie vom Polizeichef präsentiert wurde. Was Zerna im Moment noch verschwieg, war die Tatsache, dass Patrick Favre sein Geständnis bereits am Morgen um 7:00 Uhr widerrufen hatte. Nach Zernas Meinung hatte das aber nichts zu bedeuten. Es war nur natürlich, dass ein Verdächtiger, nachdem er gestanden hatte, plötzlich kalte Füße bekam, weil ihm die Konsequenzen seines Handelns klar wurden.

»Heute Nacht hat der Mörder die entsetzlichen Taten gestanden«, sagte Zerna, »jetzt werden wir ihn überreden, uns auch noch die Details zu erzählen.«

Wobei er das Wort »überreden« mit einem dermaßen süffisanten Lächeln ausgesprochen hatte, dass nicht nur Leon begriff, was damit gemeint war. Sie hatten Patrick in der vergangenen Nacht fertiggemacht. Ein verletzter und psychisch verstörter Mensch, der sich tagelang auf der Flucht befunden hatte, erzählte viel, nach 10 Stunden intensivem Polizeiverhör.