Kurz vor Aix wurde der Verkehr dichter. Aber am Wochenende gab es hier zumindest keine Staus. Leon parkte in der Altstadt und ging zu Fuß zum Place des Fontêtes. Er mochte diese Stadt mit ihren alten, trutzigen Bauten, die zum Teil noch aus dem 16. Jahrhundert stammten, und mit ihren Studenten, die sich durch die Gassen drängten. Deshalb hatte er auch sofort zugesagt, als Dr. Raymond Desvaux ihm vorschlug, sich in Aix zu treffen. Leon war dem Kollegen vor ein paar Jahren auf einem Seminar in der Universität von Marseille begegnet. Damals hatte Leon einen Vortrag über Blutspurenanalyse gehalten. Seitdem hatte er den Kollegen nicht mehr gesehen, doch sie waren in losem Austausch geblieben.
Das Bistro Petit Baron am Place des Fontêtes gefiel Leon auf Anhieb. Ein gemütlicher Platz, an dem man sich in Ruhe unterhalten konnte. Versteckt zwischen altem Gemäuer und trotzdem mitten in der Altstadt gelegen, der ideale Treffpunkt.
Leon erkannte seinen Kollegen sofort wieder. Ein großer Mann in seinen Sechzigern, mit vollem, weißem Haar, das ihm wie eine Löwenmähne vom Kopf abstand. Der Franzose begrüßte Leon wie einen alten Freund. Er war ein Mensch, in dessen Nähe man sich sofort wohlfühlte.
Sie bestellten ein paar Kleinigkeiten, und Desvaux bestand auf einem Glas Rosé. Sie tauschen ein paar Höflichkeiten aus, aber Leon spürte, dass sein Gegenüber schnell zur Sache kommen wollte. Desvaux brannte darauf, über seinen alten Fall zu sprechen und mehr über die aktuellen Morde in Le Lavandou zu erfahren.
»Die Polizei hatte mich damals gebeten, den Tod von sechs Ponys zu begutachten«, erinnerte sich der Rechtsmediziner. »Das war kein offizieller Auftrag, schließlich handelte es sich ja um keine reguläre Obduktion. Ich sollte nur die Todesursache ermitteln, weil es eben so seltsam war.«
»Wann war das?«, wollte Leon wissen.
»Vor genau 38 Jahren«, sagte Desvaux ohne lange nachzudenken. Er öffnete seine Tasche und nahm einen Notizblock heraus.
»Ich habe mir ein paar Notizen mitgebracht«, Desvaux legte den Block neben seine Vorspeise, Auberginenkaviar auf Toast. »Dieser Fall hat mich damals sehr beschäftigt, müssen Sie wissen.«
»Ich glaube, jeder von uns hat so einen Fall, den er sein ganzes Leben nicht vergisst«, sagte Leon.
Der Kollege aus Aix sah ihn mit einem verständnisvollen Lächeln an.
»Was war mit den Ponys?«, hakte Leon nach.
»Jemand hatte sie erschossen«, antwortete Desvaux. »Und zwar mit Pfeil und Bogen.«
»Das ist ungewöhnlich«, sagte Leo. »Ich weiß von Fällen, in denen jemand Katzen aufgehängt und Kühe mit langen Messern erstochen hatte. Aber dass jemand mit Pfeil und Bogen auf Pferde losgegangen wäre, habe ich nie gehört.«
»Es waren sechs Ponys«, erinnerte sich der Rechtsmediziner aus Aix. »Der Täter hatte die Tiere alle auffallend gut getroffen. Eine Handbreit unter dem Schulterblatt. So konnte der Pfeil tief eindringen und das Herz erwischen.«
»Er hat sie alle tödlich getroffen?«, wunderte sich Leon.
»Man muss kein Kunstschütze sein, um Tiere in einer engen Koppel zu erledigen«, sagte Desvaux. »Wahrscheinlich ist der Täter in das Gehege marschiert und hat die Tiere auf ganz kurze Distanz getötet. Anschließend hatte er den Ponys die Kehlen durchgeschnitten, zur Sicherheit, vermute ich.«
»Er musste sich ausgekannt haben, wenn die Ponys ihn so nahe an sich herangelassen haben«, sagte Leon.
»Das habe ich den Polizisten auch gesagt. Schließlich hat die Polizei einen Jugendlichen festgenommen, der in den Sommerferien zwei Wochen auf dem Ponyhof gearbeitet hatte. Er war erst 14 Jahre alt.«
»Wie kommt ein 14-Jähriger an einen solchen Bogen?«, wunderte sich Leon.
»Ganz einfach, er hat ihn auf einer Schießanlage in der Nähe von Rognes gestohlen.«
»Wurde er verurteilt?«
»Nicht dass ich wüsste. Damals schickte ihn der Richter in eine psychiatrische Pflegeeinrichtung für Jugendliche«, sagte Desvaux. »Zumindest habe ich das später gehört.«
»Wissen Sie, in welche Klinik sie den Jungen gebracht haben?«
»Nein, ich habe in diesem Fall auch nicht als Gutachter aussagen müssen. Wie gesagt, ich sollte nur die Verletzung an den Tieren beurteilen. Ich erinnere mich nur noch, dass er aus der Gegend von Manosque kam.«
Leon kannte den Ort nördlich von Aix. »Gab es noch irgendetwas, etwas Besonderes bei diesem Fall?«, fragte er.
»Sie meinen, außer dass jemand sechs Ponys mit Pfeil und Bogen erschießt?«, erwiderte Desvaux ironisch.
»Sie haben recht. Entschuldigen Sie, aber ich suche nach Kleinigkeiten, Ähnlichkeiten mit den beiden Fällen in Le Lavandou.«
»Sie sagten am Telefon, dass die Opfer auch mit Pfeil und Bogen getötet wurden?«, fragte Desvaux.
»Genau gesagt wurden die Frauen mit einer Armbrust erschossen. Den Spuren nach zu urteilen, hat der Täter seine Opfer regelrecht gejagt.«
»Daher also die eigenartigen Schnittverletzungen an den Eintrittswunden«, sagte der pensionierte Mediziner nachdenklich. »Ich habe sofort an die Verletzung der Ponys denken müssen. Identische Muster, aber das hatte ich Ihnen ja schon in meiner Mail geschrieben.«
»Unser Täter in Lavandou hat den Männern die Kehle durchgeschnitten.«
»Hinweise auf eine psychische Erkrankung?«, fragte Desvaux.
»Sie wissen ja, dass es sich um eine laufende Ermittlung handelt«, sagte Leon, »ich kann Ihnen also nur meine Sicht auf die Morde berichten. Und auch hier gilt, wie Sie wissen, die Schweigepflicht.«
»Ich haben diesen Job fast 40 Jahre lang gemacht«, sagte Desvaux »Bei mir sind Ihre Untersuchungsergebnisse gut aufgehoben.«
Leon musterte den Kollegen und erzählte ihm schließlich die ganze Geschichte. Desvaux hört aufmerksam zu, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Als Leon geendet hatte, schwieg Desvaux einen Moment, als müsste er all diese Informationen erst verarbeiten.
»Sie haben mich gefragt, ob ich wüsste, in welche psychiatrische Einrichtung man den Jungen damals gebracht hat«, sagte Desvaux.
»Wenn Sie so freundlich wären und mir den Namen sagen könnten? Von da käme ich schon alleine weiter.«
»Sie glauben, dass der Fall von damals mit den aktuellen Morden zusammenhängen könnte.« Es war keine Frage. Desvaux sah seinen Gast an, als hätte er ihn bei einem kleinen Trick ertappt.
»Es ist nur so ein Gefühl«, sagte Leon zurückhaltend.
Sein Gegenüber lächelte. »Ich kenne den Namen der Klinik nicht«, sagte Desvaux, »aber ich kenne den Kommissar, der den Fall damals geleitet hat. Gil Marchant. Er ist schon lange pensioniert, aber wir haben damals viel über den Jugendlichen gesprochen. Ich schreibe Ihnen seine Adresse auf.«
Der Rechtsmediziner notierte einen Namen und die Adresse auf einen Zettel seines Blocks, riss ihn ab und reichte ihn Leon.
»Danke«, sagte Leon. »Das hilft mir bestimmt weiter.«
»Etwas wollte ich Sie schon die ganze Zeit fragen.« Desvaux legte den Kopf schräg, als er Leon ansah. »In den Nachrichten haben sie gesagt, dass die Gendarmerie den Täter festgenommen hat. Es gibt sogar ein Geständnis«, sagte der Mediziner. »Also, warum interessieren Sie sich so für die Vergangenheit, wenn der Fall doch gelöst ist?«
»Wir dürfen nicht alles glauben, was in den Nachrichten gesagt wird«, sagte Leon.