82. Kapitel

Leon drückte auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses war das scheppernde Brummen einer ramponierten Glocke zu hören. Das Haus der Marchants befand sich in Gardanne, einem unattraktiven Vorort im Süden von Aix. Leon wartete eine halbe Minute, dann öffnete sich die Tür, und eine Frau in ihren Sechzigern erschien. Sie hatte ein schmales Gesicht, teigige Haut und hängende Augenlieder.

Alkoholikerin, dachte Leon: »Madame Marchant?«

»Ja?«, sagte die Frau kurz angebunden.

»Guten Tag, Madame.« Leon versuchte, freundlich zu klingen, was ihm angesichts des grimmigen Gesichtsausdrucks der Frau nicht leichtfiel. »Ich bin Docteur Ritter, ich hätte gerne mit …«

»Was wollen Sie?« Die Frau unterbrach Leon unwirsch und musterte ihn.

»Ich hätte gerne mit Ihrem Mann gesprochen.«

»Der will aber nicht mit Ihnen sprechen.«

»Sie haben ihn ja noch gar nicht gefragt«, antwortete Leon betont freundlich. »Sagen Sie ihm doch bitte, Docteur Ritter wäre hier. Ich habe seine Adresse von meinem Kollegen, Doktor Desvaux.«

»Ich sag doch, mein Mann will mit niemand reden.«

In diesem Moment hörte Leon eine Stimme, die ihren vollen Klang schon lange verloren hatte. »Lass ihn rein, Helène«, sagte der Mann, der hinter dem Türrahmen erschien.

»Du weißt, was der Arzt gesagt hat. Es ist nicht gut für dich, wenn du dich aufregst.«

Monsieur Marchant war klein, vielleicht 1,70 Meter. Er trug einen dunkelblauen Jogginganzug mit grauen Streifen. Seine Füße steckten in schwarzen Espadrilles. Leon fiel sofort die blasse Gesichtsfarbe des Mannes auf. Auf seiner Haut glänzte Schweiß. Tiefe Augenringe gaben seinem Gesicht etwas Maskenhaftes.

»Sehen Sie mich nur genau an, Docteur, so sieht jemand aus, der dringend zur Dialyse müsste. Aber die Idioten waren noch nicht hier, um mich abzuholen.«

»Guten Tag, Monsieur Marchant«, sagte Leon. »Docteur Desvaux war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben.«

»Kommen Sie rein«, bat Monsieur Marchant.

»Aber was soll ich denn den Leuten vom medizinischen Dienst sagen, wenn sie kommen?«, fragte Madame Marchant.

»Dann warten die eben auch mal einem Moment, mich lassen sie doch ständig warten.«

Kurz darauf saß Leon bei den Marchants im Wohnzimmer, einem kleinen dunklen Raum, dessen Fenster mit Jalousien halb verdeckt waren. An den Wänden hingen keine Bilder, sondern Landkarten, darunter auch eine große Karte von Nordamerika.

»Wundern Sie sich nicht über die Karten«, sagte Marchant. »Nach der Pensionierung wollte ich die ganze Welt bereisen«, der Gastgeber hob enttäuscht die Hände, »c‘est la vie

»Tut mir leid«, sagte Leon. »Aber hier im Süden ist es schließlich auch sehr schön. Manche Menschen reisen um die halbe Welt, nur um einmal die Provence zu erleben.«

»Die wollen bestimmt nicht zu uns nach Gardanne. Also, warum sind Sie gekommen?«

»Wir haben eine Mordserie in Lavandou.«

»Ich habe die Berichte im Fernsehen gesehen.« Marchant sah Leon neugierig an.

»Ich bin der zuständige Rechtsmediziner«, erklärte Leon.

In Marchants Augen blitzte etwas auf. »Ah, dann geht es bestimmt um die Geschichte vom kleinen Paul«, sagte er. Leon sah den Ex-Polizisten fragend an.

»Paul Bonal, der Junge mit Pfeil und Bogen«, sagte Marchant. »Sechs Ponys hat er damals getötet. Das war wirklich einer der außergewöhnlichsten Fälle in meiner Karriere.«

»Sie haben den Täter also kennengelernt?«

»Zwangsläufig. Ich war der Erste, der ihn verhört hat. Der Junge war erst 14 Jahre alt. Ein verschlossenes Kind. Es kam mir immer so vor, als lebte er in einer durchsichtigen Kapsel. Er war unerreichbar für mich und meine Kollegen. Er schwieg meistens, er schwieg und sah durch mich hindurch. Außer man redete mit ihm über Pferde, da zeigte er tatsächlich so etwas wie Begeisterung. Eigentlich mochte er Tiere. Ich hatte manchmal das Gefühl … aber ich bin ja kein Psychologe.«

»Ich bin trotzdem neugierig. Was war das damals für ein Gefühl, das Sie hatten?«

»Er hat die Tiere umgebracht, um sich selbst zu bestrafen«, sagte Marchant.

»Für was wollte der Junge sich bestrafen?«, fragte Leon neugierig.

»Nicht so eilig«, unterbrach der Ex-Polizist. »Eines nach dem anderen.«

Leon nickte beschwichtigend und hob die Hand. »Was können Sie mir sonst noch über den Jungen sagen?«

»Paul war ein Einzelgänger. Ich glaube, er hatte überhaupt keine Freunde«, erinnerte sich der pensionierte Polizist. »Gelegentlich führte er Selbstgespräche.«

»Worüber?«

»Das weiß ich nicht mehr. Aber er tat so, als spräche er mit einer zweiten Person.«

»Er war aber nicht immer so zurückgezogen, oder?«

»Nein, war er nicht. Er konnte zornig werden, sehr zornig sogar. Diese Wutanfälle kamen angerollt wie eine Welle, aus heiterem Himmel. Dann schlug er um sich und schrie. Nach wenigen Minuten ebbte der Anfall wieder ab. Danach war er völlig erschöpft, so als wäre er einen steilen Hügel hinaufgerannt.«

»Das ist jetzt genug, Gil«, Madame Marchant hatte die Wohnzimmertür geöffnet und den Kopf hereingesteckt.

»Wir sind noch nicht fertig, Helène«, sagte ihr Mann sachlich.

»Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Docteur«, wandte sie sich an Leon. »Gil überfordert sich. Dann kann er wieder die ganze Nacht nicht schlafen.«

»Unsinn, mach uns lieber einen Tee, ma chérie «, bat Marchant und wandte sich an Leon. »Sie nehmen doch einen Tee?«

»Vielen Dank, das ist wirklich nicht nötig«, sagte Leon.

»Für unseren Besucher auch einen«, sagte Marchant zu seiner Frau. »Und jetzt lass uns bitte allein.«

»Sie hatten gerade von den Wutanfällen gesprochen«, nahm Leon den Faden wieder auf, nachdem Madame Marchant den Raum verlassen hatte.

»Richtig. Es war nicht besonders schwer gewesen, Paul zu überführen. Der Junge hatte sich keine Mühe gegeben, Spuren zu beseitigen.«

»Ich habe gehört, er wurde nicht vor Gericht gebracht.«

»Es gab ein ziemliches Hickhack zwischen Jugendamt und Justiz. Das zog sich über Wochen hin. Zuletzt endete die Sache aber vor einer Jugendrichterin.«

»Wegen der toten Ponys?«, wunderte sich Leon.

»Sie kennen nicht die ganze Geschichte?« Monsieur Marchant sah seinen Besucher erstaunt an. »Es gab da eine Vorgeschichte.«

»Nämlich …?«

»Pauls Mutter hat Suizid begangen, da war der Junge gerade mal 14 Jahre alt«, sagte Marchant. »Sie hatte Pflanzengift geschluckt. Der Junge hat sie gefunden, einige Tage später.«

»Wie schrecklich«, sagte Leon. »Was war mit dem Vater?«

»Ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Mutter hat Paul seinen Vater mit Spiritus übergossen und angezündet.«

Der ehemalige Kommissar hatte das so nüchtern erklärt, dass es Leon für einen Moment die Sprache verschlug.

»Er hat seinen Vater … verbrannt?«, fragte Leon.

»Das ist zumindest meine Theorie«, sagte Marchant. »Nach dem Feuer war nicht mehr genau zu ermitteln, was wirklich in dem Haus vorgegangen ist.«

»Erinnern Sie sich noch, wann das war?«

»15. Oktober 1981, das Datum werde ich nie vergessen«, sagte Marchant. »Wir wurden von der Feuerwehr gerufen, wegen des Verdachts auf Brandstiftung.«

»Hat der Junge gestanden?«, wollte Leon wissen.

»Da war zunächst gar kein Junge. Die Feuerwehr dachte anfangs, Paul wäre ebenfalls in den Flammen umgekommen. Aber dann habe ich ihn gefunden.«

»Wo?«, fragte Leon.

»In einer alten Hundehütte, draußen im Garten. Er lag da, zusammengekauert, und wimmerte wie ein verletztes Tier. Als ich nach ihm gegriffen habe, hat er mich gebissen.«

»Gab es Verwandte?«

»Nein, niemand. Die Nachbarin meinte, es gäbe noch eine entfernte Verwandte an der Küste. Mehr weiß ich nicht. Das betraf ja dann nicht mehr unsere Dienststelle.«

»Dann hat sich also das Jugendamt um ihn gekümmert?«

»Erst kam er in die Jugendpsychiatrie. Nach zwei Monaten wurde er entlassen und einer Pflegefamilie übergeben.«

»Wissen Sie, was aus dem Jungen geworden ist?«

»Das weiß ich nicht so genau. Nach der Sache mit den Ponys kam er erneut in die Nervenklinik. Da habe ich ihn noch ein paarmal gesprochen. Dann kam er in ein Heim. Ich habe irgendwann von Kollegen gehört, dass er in die Provinz gezogen ist und ein Geschäft eröffnet haben soll. Aber das liegt auch schon wieder viele Jahre zurück. Ich fürchte, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«