91. Kapitel

Blaulicht zuckte durch die Dunkelheit. Rufe waren zu hören. Fünf Streifenwagen und zwei Krankenwagen standen vor der Villa. Durch die geöffnete Eingangstür konnte man das Blitzlicht des Polizeifotografen aufflammen sehen. Isabelle stand beim Krankenwagen und hielt ihre Tochter im Arm, während sich gleich daneben ein Arzt und ein Sanitäter um Oscar kümmerten. Der Notarzt nickte, und Lilou setzte sich neben ihren Freund.

Leon unterhielt sich mit den Bestattern. Als er in dem Trubel Isabelle sah, ging er auf sie zu und legte seinen Arm um sie.

»Habe ich Ihnen schon dafür gedankt, dass Sie mein Leben gerettet haben, Capitaine?«, fragte er gespielt höflich und fügte dann ernster hinzu: »Wie geht es Lilou und Oscar?«

»Gut, wirklich. Sie sind durstig.« Isabelle lächelte, aber Leon erkannte sofort, dass sie etwas beschäftigte.

»Was ist?«, fragte er. »Den Kindern geht es gut, und der Mörder ist ausgeschaltet. Aber irgendetwas beschäftigt dich …?«

»Ich habe einen Menschen getötet, Leon«, sagte Isabelle leise. »Was, wenn wir uns irren, was, wenn dieser Koenig mit dem Fall gar nichts zu tun hat?«

»Das glaubst du nicht wirklich?«, sagte Leon. »Sogar Zerna hält Koenig inzwischen für den Täter.«

»Einen richtigen Beweis haben wir aber nicht«, sagte Isabelle müde.

»Warte«, sagte Leon und wandte sich an die Bestatter, die gerade die Bahre mit Koenigs Leiche in den Wagen schoben.

»Einen Moment noch«, Leon zog den Reißverschluss des grauen Leichensacks am Fußende ein Stück auf und legte das rechte Bein des Toten frei. Dann schob er das Hosenbein nach oben. Mit der Taschenlampe leuchtete er auf die Wade, auf der eine entzündete Wunde von der Größe eines Zwei-Euro-Stückes zu erkennen war.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Leon.

»Nein, was?«

»Ich wette, das hier ist der Hundebiss, nachdem wir gesucht haben. Die Wunde an Rybauds Bein war alt. Aber das Vieh hatte später noch mal zugeschnappt. Nämlich als der Mörder sein Frauchen und ihren Geliebten umgebracht hat.«

In diesem Moment kam Lieutenant Kadir aus dem Haus und lief zu Leon.

»Docteur«, rief der Lieutenant kurzatmig, noch bevor er Leon erreicht hatte. »Wir haben da was gefunden. Das sollten Sie sich ansehen.«


Drei Minuten später stand Leon zusammen mit Zerna und Masclau im Keller der Villa. Im hintersten Raum befanden sich deckenhohe Regale mit Konserven und Wein. Zwischen zwei Regalen stand eine alte, fleckige Tiefkühltruhe, deren Kompressor laut brummte. Die Männer starrten in die geöffnete Truhe: Mitten zwischen Tüten mit gefrorenen Pommes frites, Speiseeis und Rindergulasch lag eine tote Frau.

»Ist sie das?«, fragte Zerna, als Leon sich wieder aufrichtete. »Die Tante?«

»Ich denke, ja.« Leon sah den Polizeichef an. »Vom Alter her könnte es hinkommen. Ich schätze die Tote auf Anfang 70. Sie liegt seit mindestens einem Monat in der Kühltruhe. Genauere Werte erst nach der Obduktion.«

»Und die Todesursache?«, wollte Zerna sofort wissen.

»Auch da muss ich im Augenblick erst mal spekulieren«, sagte Leon und deutete auf den Kopf der Toten. »Hirntrauma nach einem oder mehreren Schlägen mit einem schweren, scharfkantigen Gegenstand.

»Tödlich?«, erkundigte sich Zerna bei seinem Médecin Légiste.

»Vermutlich«, meinte Leon, »ich weiß natürlich im Augenblick nicht, ob das Opfer noch weitere Verletzungen hat.«

»Wann bekomme ich den Bericht«, fragte Zerna.

»Wann bekomme ich etwas Schlaf?«, entgegnete Leon.

»Natürlich«, sagte Zerna ungewohnt rücksichtsvoll. »Der Oberstaatsanwalt wird mich morgen als Erstes nach dem Bericht fragen. Aber schlafen Sie sich erst mal richtig aus.«

»Mach ich. Gute Nacht.« Leon ging zur Tür.

»Ich würde sagen, morgen um 8:15 Uhr bei mir im Büro«, rief Zerna ihm hinterher.

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Leon und verließ den Kellerraum, ohne sich noch einmal umzudrehen.