Archäologischer Ausgrabungsort
Alpha Centauri
»Dr. Katō, Sie verstehen es, ein Angebot zu machen, dem ich nicht widerstehen kann«, lächelte Dr. Audrey Lancaster. »Sie müssen gewaltigen Einfluss haben. Dreißig Sekunden am Telefon mit Ihnen, und meine Vorgesetzten stellen mich unbegrenzt frei, um so viel Zeit wie ich möchte mit diesem Projekt zu verbringen.«
»Nennen Sie mich doch bitte Sakura. Ich habe das Gefühl, dass wir eng zusammenarbeiten werden.«
»Gerne, Sakura.« Sie trat einen Schritt zur Seite und sagte mit gesenkter Stimme: »Zu Ihrer Information: Ich sprach Statthalter Hunt auf die Arbeit an, die sich bereits vor einiger Zeit mit der Humtar-Sprache beschäftigt hat. Leider unterliegen diese Akten offenbar der Geheimhaltung. Es würde mich überraschen, sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Deshalb müssen wir es auf die althergebrachte Weise angehen«, erklärte sie.
»Sie sind die Beste, wurde mir gesagt«, nickte Sakura.
Audrey erlaubte sich ein halbes Lächeln. »Also, warum zeigen Sie mir jetzt nicht, woran wir arbeiten werden?«, schlug sie vor.
»Hier entlang.«
Die beiden Frauen gingen auf den nun freigelegten Eingang des Humtar-Gebäudes zu. Bevor sie über die Schwelle traten, holte Audrey tief Luft und schloss einige Sekunden lang die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stieß sie einen kurzen Pfiff aus. »Meine Güte, das wird ein Spaß werden.«
Ohne ein Wort zu sagen, wanderte sie eine Weile im Innern des Gebäudes herum, um alles in sich aufzunehmen. Vor einer Wand mit einigen der Diagramme hielt sie an und legte den Kopf schief.
Sakura konnte ihre Neugier nicht länger kontrollieren. »Es tut mir leid, wenn ich Ihren Gedankengang unterbreche, aber ich hätte zu gerne gewusst, was Ihnen gerade durch den Kopf geht.«
»Sie wissen, dass die Japaner zwei Alphabete haben – die Silbenschriften Hiragana und Katakana, zusätzlich zu der aus dem Chinesischen abgeleiteten logographischen Symbolsprache Kanji?«
»Ja …«
»Nun, Alphabete verändern sich mit der Zeit«, erläuterte Audrey. »Ein flüchtiger Blick auf die Proto-Sinaitische Schrift und auf das Neuhebräisch verrät zunächst nicht, dass sie miteinander verwandt sind. Trotzdem sind sie es.«
»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht folgen«, gab Sakura zu.
»Es fällt es schwer, Ihnen das mit einer kurzen Erklärung deutlich zu machen, aber ich denke, dass ich hier eine Verbindung zwischen der Schrift dieser Humtar und der sumarischen Sprache erkennen kann. Trotz bestehender Unterschiede bin ich mir relativ sicher, dass meine Software einen großen Teil davon entschlüsseln kann.«
»Gibt es etwas, womit wir Ihnen behilflich sein können?«, forschte Sakura.
»Ja, mit dem Hochladen aller vorhandenen Schriftzeichen in mein System. Haben Sie bereits den Versuch gemacht, Zugriff auf die Bedienungsfelder oder die Bildschirme zu nehmen?«, hakte Audrey nach.
»Nein, wir haben auf Sie gewartet.«
»Ok … Dann ist es wohl an der Zeit, herauszufinden, was geschehen wird. Was halten Sie davon?«, zwinkerte Audrey ihr zu.
»Oh ja«, rief Sakura voller Enthusiasmus.
Audrey lachte. Die Frauen traten an den großen, metallenen Tisch heran, der in diesem wohl als Konferenzraum gedachten Zimmer stand. »Finden Sie uns zwei Leute, die – bevor wir etwas anfassen – alles mit ihren Qpads dokumentieren«, bestimmte Audrey. »Manchmal kann ein anderer Blickwinkel von entscheidender Bedeutung sein.«
Sakura und Jack brachten sich an den gegenüberliegenden Seiten des Tisches in Position und nickten ihr zu.
»Na dann los«, bekundete Audrey.
Die Berührung des Tisches mit einer Hand ließ ihn wie einen Weihnachtsbaum aufleuchten. An den Stellen, an denen unter normalen Umständen eine Person sitzen würde, wurden mehrere Schriftzeilen in humtarischer Sprache sichtbar.
»Das sieht mir wie eine Bildschirmübersicht aus«, schätzte Audrey. »Sehen wir, was passiert, sobald ich auf eine dieser Zeilen drücke.«
Vor ihr erschien eine 3D-Übersicht über die Einrichtung. Die meisten Bereiche waren in Blau eingezeichnet. Der Raum, in dem sich die Energiequelle befand, war grau umrissen – wie ein leeres Gehäuse, das noch entdeckt werden musste. Unterhalb der beiden oberen Etagen, die sie bereits kannten, gab es eine dritte Etage. Ein Teil dieses Bereichs war ebenfalls in Blau eingezeichnet, andere Bereiche waren grau gehalten, wie der Raum der Energiequelle. Und in einem Raum waren drei gelbe Indikatoren sichtbar.
»Was die wohl bedeuten?«, zeigte Sakura mit dem Finger auf sie.
»Das weiß ich noch nicht«, gab Audrey zu. »Vergrößern wir die Texte und sehen dann, welche Daten wir erheben können.«
Nach der Sammlung aller Daten auf der Karte, nahm Audrey das nächste Projekt in Angriff – mehrere mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnete Textzeilen.
»Meiner Ansicht nach könnte das die Liste ihres Inventars sein. Manche Artikel leuchten orangefarben auf. Ich schätze, dass ihnen bestimmte Artikel ausgegangen waren oder zur Neige gingen. Die blauen Posten sind wohl die, die im normalen Umfang vorhanden waren, und diese graue Textbox hier unten enthält wahrscheinlich gesicherte Informationen, auf die ich ohne das Passwort keinen Zugriff nehmen kann.«
»Sie verstehen all das anhand von einigen Farben?«, staunte Sakura beeindruckt.
»Ich sehe Schemata«, erwiderte Audrey. »Genau lesen kann ich es noch nicht. Aber Sie kennen das: Sobald Sie Spanisch lernen, verstehen Sie vielleicht auch ein wenig Italienisch? Das ist das gleiche Konzept. Der Computer wird weit bessere Arbeit leisten als ich es kann.«
Die nächste Referenz brachte eine Sternenkarte hoch. Verschiedene Planeten, alle in schwarzer Farbe, waren mit Anmerkungen versehen. Audrey versuchte auf eine der Anmerkungen zu klicken. Eine Nachricht erschien, die ihnen noch unverständlich war. Sie mussten sie ungelesen zurücklassen.
Audrey hielt die nächste Menüzeile für eine Kommunikationsschnittstelle. Leider gab es niemandem, mit dem sie kommunizieren konnten.
Endlich blieb ihnen nur noch der Bildschirm mit den blinkenden Quadraten und der grauen Textbox. »Ich denke, er fragt nach einem Passwort«, wiederholte Audrey.
»Ist es möglich, dass es identisch mit dem ist, das die Tür zum Raum der Energiequelle öffnet?«, überlegte Jack.
»Finden wir es heraus.«
*******
Die Sammlung von Daten nahm Stunden in Anspruch. Die Arbeit war mühsam und ging nur langsam voran. Neben jeder Arbeitsstation gab es ein Datenpad. Allerdings war das Ausmaß der Informationen, die sie ohne ein Passwort erfassen konnten, relativ gering. Im Büro fanden sie mehrere Arbeitstaschen voller Dinge, die jemand mit ins Büro nahm, wenn er dort einige Zeit verbringen musste. Kleider zum Wechseln, Schuhe und kleine Behältnisse, die Audreys Meinung nach einst Nahrungsmittel oder Toilettenartikel enthalten hatten.
»Nur für den Fall … Die bringen wir in Säcken für biologisch gefährliche Materialien unter«, bemerkte Sakura.
Jack kicherte.
»Das ist nicht unbedingt abwegig«, verteidigte Audrey sie. »Wir werden später alles im Labor analysieren.«
Jack bewunderte die Schuhe, die wie eine glänzende, cremefarbene Mischung aus einem Turnschuh und einem Stiefel aussahen. »Ich habe keine Ahnung, aus welchem Material sie sind«, stellte er fest. »Über 1.000 Jahre alt ... und sehen brandneu aus. Die Verschlüsse scheinen sich den Füßen von ganz alleine anzupassen.«
Sakura hielt staunend eine Jacke vor sich hoch. »Das Material ist immer noch in gutem Zustand. Es ist das erste Mal, dass ich an einer Ausgrabungsstätte einen solch gut erhaltenen Stoff gefunden habe. Das setzt ein ungemein starkes Luftfilterungssystem voraus, sowie die luftdichte Versiegelung der Türen.«
Am Ärmel der Jacke entdeckte Sakura eine Markierung, von der sie mit ihrem Qpad ein Foto machte. Außerdem war dort auch eine Art Knopf befestigt, hinter dessen aufgedrucktem Humtar-Wort verblichene Farben erkennbar waren.
Audrey winkte ihnen zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Sehen Sie sich das an«, rief sie aus. Auf einem der Bildschirme in der Nähe des Tisches schien sich ein holografisches Fotoalbum zu aktivieren.
»Mein Gott …«, flüsterte Sakura. »Sie hatten damals bereits digitale Bilderrahmen.«
Das Bild eines Mannes erschien, sowie die weiterer Humtar. »Das muss seine Familie sein«, sagte Jack, als er ein Foto des Mannes mit einer Frau und zwei kleinen Kindern sah. »Es ist unglaublich. Sie sahen wirklich genauso aus wie wir.«
Fasziniert verfolgten sie die Bilderreihe, bis sie sich zu wiederholen begann. Sakura fiel auf, dass der Junge im Familienfoto den gleichen Knopf wie der trug, den sie an der Jacke gefunden hatte. Gerührt fragte sie sich, ob diese kleine handgemachte Dekoration wohl ein Bastelprojekt in seiner Schule gewesen war.
Sie arbeiteten sich weiter voran, katalogisierten alles, auf das sie Zugriff hatten – von den Karten bis hin zur Cafeteria. Endlich erreichten sie einen Punkt, an dem sie pausieren konnten.
»Ich denke, das ist genug für heute«, kündigte Audrey an. »Schicken Sie mir zu, was immer Sie haben. Danach überlassen wir dem Computer die Arbeit. Zeit, uns etwas auszuruhen.«
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Am nächsten Tag
Archäologischer Ausgrabungsort
Alpha Centauri
Dr. Audrey Lancaster war ausnehmend gut gelaunt, als sie Dr. Katō Sakura und Jack Walker traf. »Wollen Sie die gute oder die sehr gute Nachricht hören?«, erkundigte sie sich.
»Ihre Wahl«, erwiderte Sakura lachend.
»Ok. Die Software war in der Lage, einen Großteil des Textes, der uns zur Verfügung steht, zu übersetzen. Wie erwartet sind die Sprachen der Humtar und die der Sumarer miteinander verwandt.«
»Und die wirklich gute Nachricht?«, forschte Jack.
»Ich habe einige vielversprechende Vermutungen hinsichtlich einer Reihe der Passwörter.«
»Wirklich?«, drängte Sakura. »Wie in der Welt haben Sie das geschafft?«
»Die Sprachensoftware sucht nach Mustern, entdeckt aber auch Elemente menschlicher Psychologie. Wir tendieren dazu, in der Erstellung eines Passworts etwas zu verwenden, zu dem wir eine Verbindung haben. Die Software untersuchte alle halbwegs relevanten persönlichen Gegebenheiten. Basierend auf dieser Information habe ich ungefähr 20 Wort- und Zahlenkombinationen, deren Wahl am logischsten wäre.«
»Wow …« Jack war beeindruckt. »Was sollen wir also als Erstes öffnen, Sakura?«, drehte er sich grinsend zu ihr um.
»Sehen wir, ob wir an die Energiequelle herankommen«, entschied sie.
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Minuten verstrichen, ohne dass die ersten Versuche der Passwortkombinationen zum Erfolg führten. Sakura wurde zunehmend nervöser. Sie griff nach Jacks Hand und wartete mit angehaltenem Atem ab, während Audrey ihre Arbeit fortsetzte.
Und dann, wie ein Wunder, öffnete sich die Tür – so einfach, wie die Eingangstür, die sie als Erstes entdeckt hatten.
Jack betrat den riesigen Raum und blieb wie angewurzelt stehen. Ein Teil des Raums wurde von einem Zylinder eingenommen, dessen in der Mitte gelegenes, hell erleuchtetes Fenster den Blick auf stark glühende Kristalle freigab. »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was dieses Ding ist oder wie es funktioniert«, gab Jack überrascht zu.
»Dann müssen wir wohl die Experten hinzuziehen«, folgerte Audrey. »Vielleicht können die Sumarer oder die Gallentiner uns Auskunft darüber geben.«
»Ich denke, dass wir zunächst so viele Informationen wie möglich zusammentragen sollten, bevor wir sie an Dr. Katherine Johnson weitergeben«, meldete sich Sakura zu Wort. »Gut möglich, dass all das am Ende als Streng Geheim klassifiziert werden wird.«
»Ein guter Punkt«, gestand Audrey ihr zu. »Ok, wollen Sie sehen, ob uns dieser Code Zugang zum unteren Bereich gewährt?«
»Auf alle Fälle.«
Nach der Vorsichtsmaßnahme eines weiteren Sicherheitschecks kletterten sie kurze Zeit darauf die Leiter in die dritte und letzte Etage der Einrichtung hinunter.
Die Räume, die in den Plänen grau markiert worden waren, schienen Laboratorien irgendwelcher Art zu sein. Allerdings würden sie weitere Analysen des Computers abwarten müssen, um einen kompletten Überblick darüber zu erhalten, welche Gerätschaften sie hier vor sich sahen und wonach hier geforscht worden war.
Ein letzter Raum … dessen Tür sich ohne die Eingabe eines Passworts öffnete. Zwei Reihen mit je fünf Betten füllten den Raum aus, getrennt durch ein wenig Platz für die Aufbewahrung persönlicher Gegenstände.
»Sind das …?«, fragte Audrey schockiert. »Sind das …?«
»… Mumien?«, vervollständigte Jack ihre Frage.
»Ja«, bestätigte Sakura sachlich. »Wir haben drei Mumien gefunden.«
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Büro des Gouverneurs
Neu-London, Alpha
Yani starrte den Attaché an, einen Colonel der republikanischen Armee. Seine Abneigung gegen den Mann wuchs mit jedem ihrer Gespräche, je mehr Steine er Yani in den Weg zu legen versuchte.
»Colonel, Sie behaupten, dass mir – als Gouverneur – kein Recht auf Zugang zusteht, und dass Sie mir aus diesem Grund keinerlei Information darüber geben können, wieso diese Ausgrabungsstätte gesperrt und zur Verschlusssache erklärt wurde?«
Mit einem selbstzufriedenen Lächeln nickte der Colonel. »Genauso ist es, Gouverneur.«
Yani legte den Kopf zur Seite. So leicht gab er nicht auf. »Ok, ganz wie Sie meinen. Da wir Ihrer Ansicht nach kein Recht auf Information haben, will ich Ihnen unseren Anspruch deutlich machen. Falls mir kein überzeugender Grund genannt wird, weshalb dieser Standort tabu ist, wird die Konstruktion unserer Hyperloop-Linie durch diesen Bereich umgehend wieder aufgenommen werden. Zudem beginnen wir mit dem Bau der nächsten Wohnsiedlung, die zufälligerweise einen Teil dieses Bereichs einnehmen wird. Was halten Sie nun von meinem mangelnden Informationsbedarf?«
Der arrogante Gesichtsausdruck des Colonels fiel in sich zusammen. Der Mann lief rot an. Es war deutlich, wie wenig er davon hielt, dass anstelle des Militärs nun Zivilisten wieder das Sagen hatten. Damit wird er sich abfinden müssen , dachte Yani. Der Krieg war vorbei, ebenso der Ausnahmezustand. Die zivile Obrigkeit war wieder an der Macht.
Im Versuch, Haltung zu bewahren, erwiderte der Colonel: »Alles, was mir gesagt wurde, Gouverneur, war, dass am Grabungsort außerirdische Artefakte gefunden wurden. Mehr als das kann ich Ihnen ganz ehrlich nicht darüber sagen. Mir wurde jedoch mit allem Nachdruck mitgeteilt, dass weder ich noch jemand meiner Garnison dieser Stelle auf dem Planeten auch nur nahe kommen darf. Wenn mir der Zugang untersagt ist, kann ich Ihnen garantieren, dass er Ihnen ebenfalls nicht genehmigt werden wird.«
Yanis Interesse war geweckt. Wieso hat er es so formuliert?, fragte er sich. »Colonel, wenn Sie und Ihre Männer den Ort nicht bewachen oder nicht sehen dürfen, was sie dort gefunden haben, wer bewacht die Stelle dann? Was hält uns davon ab, uns dort selbst umzusehen?«
Der selbstsichere Ausdruck des Colonels kehrte zurück. »Dort draußen kampiert eine ganze Kompanie Deltas, plus ein Bataillon von C100-Kampfsynthetikern. Was immer sie auch gefunden haben, niemand soll es sehen oder davon erfahren. Vielleicht ist es nichts, vielleicht ist es ein Überbleibsel des letzten Krieges. Mit Sicherheit weiß ich allerdings, dass Sie – falls Sie dort auftauchen sollten – Glück haben, wenn Sie nur gestoppt werden. Ich möchte wetten, dass diese Killermaschinen Todesschussermächtigung haben, falls jemand den ihnen zugewiesenen Bereich unbefugt betreten sollte. So arbeiten diese Toaster. Ich habe sie oft genug bei der Tötung der Zodark beobachtet. Diese Maschinen wollen sie sich nicht zum Feind machen, Gouverneur.«
Mist. Jetzt müssen wir das gesamte Wohnungsbauprojekt neu konzipieren. Der Krieg ist vorbei und das Militär hat immer noch die Zügel in der Hand, kochte Yani vor Wut. Er verabschiedete den Attaché. Es gab nichts mehr, worüber sie reden mussten. Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen …