Éire – Planet der Gürtelbevölkerung
Das Große Wildnis-System
Nach so vielen Jahren auf Gaelic staunte Liam, wie wunderbar es sich anfühlte, frische Luft zu atmen. Er stand auf einem Hügel, der über ihre neue Hauptstadt hinwegsah. Mit den Armen fest um Sara geschlungen, spürte er eine enorme Zufriedenheit in sich aufsteigen.
»Du hast Recht. Das ist ein unglaublicher Ausblick über die Stadt«, erklärte Liam und knabberte am Nacken seiner Partnerin.
Sara drehte ihm ihr Gesicht zu. »Das stimmt«, nickte sie und küsste ihn. »Ich bin so froh, dass du hier bist.«
»Es gefällt mir überhaupt nicht, Éire so oft verlassen zu müssen. Ich muss jemanden finden, der den gaelischen Vorposten für mich managt, damit ich mein Büro endgültig hierher verlegen kann. Man sollte denken, dass sich die Dinge in Sol nach dem Ende des Krieges beruhigt hätten. Weit gefehlt. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Aufträge für neue Schiffe und die Preise für Mineralien überschlagen sich.«
Sara war von dieser Nachricht überrascht. Sie selbst hatte Éire die letzten Jahre kaum verlassen. Neuigkeiten von der Welt draußen drangen nicht allzu oft in ihr System vor.
»Wieso scheint die Nachfrage zuzunehmen? Ist das etwas, worum wir uns Sorgen machen müssen?«
Liam zuckte mit den Achseln. Er breitete die Picknickdecke auf dem Boden aus, setzte sich und griff nach einem Sandwich. »Nach dem Ende des Krieges scheint ein wilder Ansturm auf die Kolonisierung aller möglichen Planeten stattzufinden. Damit will ich nicht sagen, dass die Menschen die Erde hinter sich lassen wollen. Trotzdem gibt es offenbar eine Menge unterdrücktes Verlangen zur Expansion nach außen, zur Immigration in neue Welten, um zu sehen, was es da draußen sonst noch gibt. Das hat sich als Segen für die kommerziellen Schiffsbauer und die Reisebranche erwiesen, die all diese Leute nach Neu-Eden, Sumara und Intus umziehen müssen. Selbst nach Altus, wenn du das für möglich hältst.«
»Wow, das ist ja fabelhaft. Wie aufregend, sobald wir hier ebenfalls neue Immigranten akzeptieren können.«
»Ja, das denke ich auch. Seit Jahrhunderten kämpft die Menschheit gegen die Fesseln der Knechtschaft an – gefangen von der mächtigen Minderheit, die sie mittels ihrer Schulden kontrolliert und an einen Arbeitsplatz fesselt, der dazu angelegt ist, sie zufrieden, aber arm zu halten. Hier draußen bieten wir ihnen einen Notausstieg – eine Alternative für die Menschen, die Chance für einen Neubeginn.«
Liam pausierte und biss in sein Sandwich. »In jedem Fall muss unsere Stadt erbaut sein, bevor wir die Schleusen zur Erde öffnen. Sie muss den Zustrom der Menschen verkraften können, der ganz sicher auftreten wird.« Er griff nach einem Getränk im Picknickkorb und trank einen Schluck. »Ich habe eine praktisch ununterbrochene Lieferung von Baumaterialien und Ausrüstungsgegenständen an unser Warenhaus in der Umlaufbahn um Sumara arrangiert.«
Mit einer ausladenden Handbewegung über die Stadt, die sich unter ihnen erstreckte, bewunderte er Sara. »Sieh dir diesen Ort an. Es ist unglaublich, wie schnell du alles organisiert hast. Wir haben einen funktionierenden Weltraumhaften, massive Warenhäuser, einen funktionierenden Weltraumaufzug, Dutzende von Wohngebäuden und den Baubeginn von mehreren großen Hochhäusern. Wie ist dir das nur gelungen?«
Sara errötete bei diesem Kompliment und küsste ihn. »Ohne dich, mein Liebster, hätte ich es niemals geschafft. Du hast mich in allem unterstützt und mir alles, was ich verlangt habe und mehr gegeben, um diese wunderbare Leinwand, die wir St. Patrick, unsere Hauptstadt nennen, zu bemalen.«
Sara wischte sich eine Träne aus den Augen. » Unsere Hauptstadt, Liam. Stell dir vor – unsere Hauptstadt . Vor 20 Jahren lebten wir in einem beengten Frachtschiff, das wir im Asteroidengürtel in eine Behausung verwandelt hatten. Und jetzt …« Sie hielt inne und deutete mit der Hand auf die Wälder um sie herum und auf die Stadt unter ihnen. »Und jetzt haben wir das. Unseren eigenen Planeten. Das haben wir dir zu verdanken, Liam. Ich bin so stolz auf dich.«
Jetzt war es Liam, der bei diesem Lob rot anlief. Er war froh, dass ihnen niemand zuhörte. Seiner Ansicht ergab sich alles aus einer Kraftanstrengung der Gruppe. Nicht er hatte es geschafft, sondern ihr Team.
Er brachte das Thema zurück auf das Geschäftliche. »Sara, ich muss wissen, ob es möglich ist, unsere Bemühungen auf Éire voranzutreiben. Wir erhalten eine Menge Anfragen bezüglich der Immigration, nicht nur von unseren Brüdern aus dem Gürtel, sondern auch von der Erde und vom Mars. Selbst einige der Sumarer wollen herkommen. Die Sumarer, mit denen ich gesprochen habe, erklärten mir, dass sie einen neuen Anfang auf einem neuen Planeten machen wollen, weit weg von den Erinnerungen an diese Zodark-Kreaturen.«
Liam sah, wie sie sich bei der Erwähnung der Zodark verkrampfte. Sie hatte schreckliche Angst, dass sie in Sol einfallen würden. Es war einer der Hauptgründe, weshalb sie die Einrichtung ihrer neuen Welt vorangetrieben hatten. Sie wollten ihrer Gürtelgesellschaft einen Fluchtort bieten, an dem sie sich hoffentlich vor diesen grauenvollen Biestern verstecken konnte.
»Du musst dich nicht länger vor den Zodark fürchten«, beruhigte sie Liam, der ihre Gedanken spürte. »Der Krieg ist vorbei. Sie kommen nicht zurück.«
»Das kannst du nicht mit Sicherheit sagen, Liam. Es ist eine bösartige, heimtückische Rasse. Ich muss dir etwas sagen … Ich habe die Einwanderung von zwei sumarischen Familien genehmigt. Die Geschichten, die sie uns erzählt haben … Wie aus einem Horrorroman.«
Es hätte Liam nicht überraschen sollen, dass Sara bereits einige sumarische Familien aufgenommen hatte. Sie war ein durch und durch humanitäres Wesen. Frustriert schüttelte er laut seufzend den Kopf. Er musste zugeben, dass er noch nie einen echten Zodark gesehen hatte, nur Videos und Bilder von ihnen. Auf der John Glenn stand ein originalgroßes Wachsmodell eines Zodark-Kriegers, von denen es auch mehrere auf der Erde gab. Die Erinnerung an ihr Aussehen verursachte ihm eine Gänsehaut. Er hoffte, nie einem im echten Leben zu begegnen.
»Ich verstehe, Sara, und bin ganz deiner Meinung. Es ist eine heimtückische Rasse. Ich denke, dass wir einen ausreichend guten Plan entwickelt haben, um uns und unsere Leute zu schützen. Nach einer gewissen Zeit wird dieses System isoliert und unabhängig sein. Konzentrieren wir uns darauf, was wir kontrollieren können. Da wir gerade von Kontrolle sprechen … Ich denke, dass die Abmachungen, die die Republik und das Büro des Statthalters vorgeschlagen haben, fair sind. Sie werden uns dabei helfen, dass sich alle hier draußen vollauf zu unserer Zukunft im Wildnis-System bekennen können. Sie geben allen die Chance, sich komplett von Sol zu trennen und die Jahrzehnte ihrer harten Arbeit zu Geld zu machen – das sie dann in den Aufbau der Zukunft investieren können, von der wir alle gesprochen haben«, schloss Liam.
Sie hatten diesen Handel bereits am gestrigen Abend diskutiert. Er war erleichtert gewesen, dass auch sie es für ein gutes Angebot hielt. Er brauchte sie auf seiner Seite. Während eine Menge Menschen nach Éire immigrieren wollten, fiel es den Unternehmen und verschiedenen Faktionen der Gürtelgesellschaft schwer, ihren neugefundenen Reichtum und das sichere und beständige Geschäft mit der Republik aufzugeben. Aus dem Nichts ein neues Unternehmen auf Éire zu gründen, würde nicht einfach sein, da bislang weder die regelmäßige Versorgung garantiert noch die benötigte Infrastruktur vorhanden war.
»Alles, was du tun kannst, Liam, ist die Erläuterung der Vereinbarungen, bevor du sie entscheiden lässt. Wenn du mich fragst, solltest du – falls du es tatsächlich für eine gute Abmachung hältst – mit gutem Beispiel vorangehen. Lass den Gürtel komplett hinter dir und zeige allen, dass du hier einen Neubeginn machst. Sobald sie sehen, welche Opfer du bringst, um die Träume unserer Leute in die Realität umzusetzen und wie es dir möglich ist, hier von neuem erfolgreich zu sein, bin ich mir sicher, dass es sie motivieren wird, die Angebote des republikanischen Konglomerats anzunehmen, uns beim Aufbau dieser neuen Welt zu unterstützen«, führte Sara aus.
Liams Herz schwoll voller Stolz an. Er war so froh, eine solche Seelenverwandte gefunden zu haben. Sie hatte Recht. Wie konnte er als der Anführer ihrer Gesellschaft erwarten, dass sie diesen Vorschlag akzeptierten und ihn in der Entwicklung eines vollkommen neuen Landes unterstützten, wenn er nicht bereit war, das Gleiche zu tun?
Sara runzelte die Stirn, als sie beobachtete, wie er das von ihr Gesagte gerade überanalysierte. »Ich schätze, du weißt immer noch nicht, wie du ihnen den Tausch von Gaelic gegen das Wildnis-System beibringen sollst. Stimmt’s?«
»Bin ich wirklich so transparent?«
Sie lachte, bevor sie sich vorbeugte und ihn erneut küsste. »Mein Schatz, wir sind schon weit über das Lesen deines Pokergesichts hinaus. Ich habe dich schon vor Jahren einer vulkanischen Gedankenverschmelzung unterzogen.«
Liam lachte bei dieser kulturellen Anspielung auf die Fernsehserien und Kinofilme der Star Trek- Reihen, die nach mehreren Jahrzehnten immer wieder neu aufgelegt wurden. »Das trifft wohl zu, Sara. Manchmal kennst du mich besser, als ich mich selber kenne.«
Sie wurde ernst. Ihr Gesicht drückte Zuversicht aus. »Liam, Gaelic und der Gürtel war unser Zuhause.« Sie breitete die Arme aus. »Jetzt ist die Wildnis unser Heimatsystem und Éire unser neues Zuhause. Dieser Planet, unsere Hauptstadt, St. Patrick – sie sind unsere Zukunft!«
Liam holte tief Luft, bevor er seinen Atem entweichen ließ. Er wusste, dass sie Recht hatte. Wenn er ihr Volk hier in eine neue Zukunft führen wollte, dann musste er mit gutem Beispiel vorangehen.