17. Kapitel
Elspeth
Ste. Geneviève, Paris, 28. April 1916
Meine Sue,
eine Million und eine Entschuldigung, dass ich nicht früher geschrieben habe! Du hast Dir vermutlich schreckliche Sorgen gemacht, als nur die Postkarte aus dem Lazarett kam, aber ich war nicht in der Lage zu schreiben. Ich fühle mich jetzt viel besser und dachte, Du hättest eine Erklärung verdient.
Ich habe eine Route befahren, die zu einem poste in der Nähe des hinteren Grabens führte. Nah genug, um die »Hölle zu riechen«, wie man so sagt. Aufgrund des schweren Beschusses hatte man die Verwundeten noch nicht zu diesem poste gebracht. Ich blieb also im Unterstand und wartete. Bald sah ich, wie sich die Sanitäter die Böschung hinaufquälten. Diese Stelle ist gefährlich, da sie den deutschen Schützen freie Sicht bietet. Es war eine mondhelle Nacht, und einen kurzen Moment lang waren die Sanitäter mit ihren Tragen hell erleuchtet. Lang genug, dass ein Schütze das Feuer eröffnen konnte.
Ich sah die Trage hinfallen und rannte hinauf. Einer der Sanitäter war niedergestürzt, aber der Verwundete schien nicht getroffen zu sein. Ich zog den verletzten Sanitäter irgendwie herunter und half dem anderen mit der Trage. Man schoss erneut auf uns. Eine Granate schlug ganz in der Nähe ein, sodass mich einige Splitter in Schulter und rechten Fuß trafen. Wir schafften es irgendwie, den Verwundeten, den verletzten Sanitäter und mich in den Krankenwagen zu verfrachten. Selbst fahren konnte ich nicht mehr.
Meine Verletzungen waren nicht schwer, aber sie entzündeten sich, und ich bekam hohes Fieber. Man verlegte mich weiter hinter die Linien, bis ich in Paris landete. Es tut mir so leid, Sue. Ich weiß, dass Du Dir Sorgen gemacht hast, als Du die Postkarte aus dem Lazarett bekamst. Ich war nicht in der Lage, Dir selbst zu schreiben. Die französischen Ärzte haben Schläuche in die Wunde gesteckt, damit der Eiter abfließen konnte, und ich konnte den Arm mehrere Wochen nicht bewegen. Keine der Schwestern sprach auch nur ein Wort Englisch, sodass ich nicht einmal einen Brief diktieren konnte. Meine Schulter tut noch ziemlich weh, und ich schreibe den Brief nach und nach. In meinen Fieberträumen warst Du immer da und hast an meiner Seite gesessen.
Dein Davey
PS Bitte, bitte, bitte schick mir ein paar Bücher! Ich weiß nicht, wie lange ich noch im Lazarett bleiben muss, aber ich gehe vor Langeweile allmählich die Wände hoch.
Hôtel République, Paris, 6. Mai 1916
Mein liebes, lustiges Mädchen! Als ich Dich um Bücher bat, habe ich gehofft, dass Du so schnell wie möglich etwas schickst. Aber Louisa May Alcott? Du hast Dir wirklich das Erstbeste geschnappt. Allerdings kann ich nicht begreifen, wie Du eine mehr als zehnstündige Zugfahrt mit Jo’s Boys als einziger Lektüre überstanden hast. Das hast Du nun davon, dass Du ohne Koffer aus dem Haus gerannt bist! Nicht mal ein sauberes Paar Strümpfe hattest Du dabei. Wie gut, dass ich Dir welche von meinen geliehen habe. Ich weiß, Du gibst sie mir irgendwann zurück.
Du bist immer in meinen Gedanken, aber Dich persönlich zu sehen, Dich wie die süßeste Medizin im ganzen Krankenhaus zu trinken – das hat mich zu einem neuen Mann gemacht. Verglichen mit Dir ist die ganze Arznei hier Gerstenwasser. Du bist mein eigenes, persönliches Stärkungsmittel.
Morgen kehre ich an Ort Drei zurück. Dann schreibe ich mehr. Ich wollte nur, dass Dich ein Brief erwartet, wenn Du nach Hause kommst.
Davey
Irgendwo auf dem Kanal, 6. Mai 1916
Davey, Davey. Du musstest nicht auf Dich schießen lassen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen! Du weißt, dass ich Dich trotz allem liebe. Das war ein sehr hinterlistiges Komplott, um mich auf ein Schiff zu locken. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte Dir nie geglaubt, dass Du wirklich so krank bist.
Du sahst ziemlich jämmerlich aus, Liebster, ausgestreckt in diesem Krankenbett, und ich habe mir anfangs große Sorgen gemacht! So blass und dünn unter der Decke, Deine Locken ganz schlaff auf dem Kissen – ich wäre fast in Tränen ausgebrochen. Aber dann hast Du die Augen geöffnet, die die Farbe der Hügel haben, und einfach nur gesagt: »Da bist du ja«, als hättest Du mich erwartet, und ich wusste, dass alles gut ist. Ich war überrascht, dass man Dich so bald entlassen hat, aber vielleicht wollten sie Dich loswerden. Wenn ich an die Kommentare denke, die Du in mein errötendes Ohr geflüstert hast, wundert es mich nicht. Die Krankenschwestern waren Nonnen, Davey. Du kannst von Glück sagen, dass sie kein Wort Englisch sprachen.
Erst einmal im Hotelzimmer, brauchten wir nicht mehr zu sprechen. Deine Küsse haben meine Worte wirkungsvoll gebremst, wie schon in London. Sehr wirkungsvoll. Ich möchte keine Sekunde dieser langen, verschlungenen Nacht missen. Aber, mein Liebster, wenn ich gewusst hätte, welche Schmerzen Du am nächsten Morgen haben würdest, hätte ich gezögert. Oder zumindest eine zweite Flasche Brandy gekauft.
Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt als diese eine Nacht! Ich wünschte, wir hätten uns so lange wie beim letzten Mal in diesem Zimmer verstecken können. Neun Tage, um uns zu küssen, Orangen zu essen und den guten Vorsatz zu fassen, endlich zu schlafen. Aber ich weiß, dass Du Dich zurückmelden musstest. Zurück zu Deinem Krankenwagen. Aber Dich nach nur einem halben Tag in meinen Armen wieder gehen zu lassen – oh, Davey, das war unglaublich schwer. Doch Du hast recht. Ich mache mir so viele Gedanken über unser »Morgen«, über jeden einzelnen Abschied, dass ich das »Gerade jetzt« nicht genießen kann.
Die Zukunft bringt genügend Sorgen. Ich habe keine Ahnung, was ich morgen über Iain erfahre. Ich habe keine Ahnung, was ich morgen über irgendetwas erfahre. Aber Du hast auf dem Bett gesessen, mit nackter Brust, und warst wunderschön und hier. Davey, Du bist mein »Gerade jetzt«.
In einer Zeit, in der ich mich so unsicher fühle, hat mich Dein Selbstvertrauen beruhigt. Dich zu sehen war das einzige Stärkungsmittel, das ich brauchte. Es hat meine Sorgen und Zweifel zerstreut.
In wenigen Tagen kehre ich nach Skye zurück. Diesmal fahre ich durch, ohne Halt in Edinburgh. Ich schreibe Dir, sobald ich wieder zu Hause bin. Ich wollte nur, dass Dich an Ort Drei ein Brief erwartet.
Mit all meiner Liebe
Sue
Ort Drei, 9. Mai 1916
Sue,
wieder an Ort Drei. Dort warteten Deine Briefe vom 12., 22. und 25. April auf mich. Hast Du Dir wirklich solche Sorgen gemacht? Ich bin ehrlich gerührt. Ich sollte mich öfter verwunden lassen. Du hast mir nicht nur verziehen und zugegeben, wie sehr Du mich vergötterst, es gab auch noch ein zusätzliches Geschenk: Ich konnte Dein schönes Gesicht noch einmal sehen. Und nachdem Du mich aus diesem düsteren Lazarett befreit hattest, gab es noch dieses zusätzliche Geschenk, das (um ganz ehrlich zu sein) meinem armen, gemarterten Körper mehr geschadet als genutzt, mich geistig aber in einen Zustand der Glückseligkeit versetzt hat.
Ich bin noch immer nicht ganz auf der Höhe, aber es geht allmählich besser. Man hat mir eine ehrenvolle Erwähnung in Aussicht gestellt. Noch wichtiger aber ist (zumindest für unsere Abteilung), dass ich mir endlich meinen Spitznamen verdient habe! Diese Spitznamen beweisen, dass man sich bewährt hat und wirklich dazugehört. Ich habe Dir ja schon von Pliny und Riggles geschrieben. Harry hat auch schon einen Spitznamen – stell Dir vor, sein richtiger Name ist Harrington, kaum zu glauben! In der Truppe haben wir außerdem Lump, Jersey, Skeeter, Gadget, Bucky und Wart. Frag mich nicht, woher die alle kommen, so genau weiß ich das auch nicht. Mich hat man jedenfalls Rabbit getauft. Die Jungs sagen, ich hätte solches Glück mit den Granatsplittern gehabt, als hätte ich eine Glück bringende Hasenpfote. Nicht auf der rechten Seite, aber die linke hat es gut überstanden, und es ist ja ohnehin die linke, die Glück bringt, oder?
Dein Glückspilz (wie immer!)
Isle of Skye, 15. Mai 1916
Davey,
Du wirst Dich auf gar keinen Fall noch einmal verwunden lassen! Nicht mal einen Splitter im Zeh. Verstanden? Glaub nicht, dass ich Dich noch einmal besuche. Ich werde dann jeden Brief von Dir verbrennen und Deine kindischen Schreie nach Aufmerksamkeit ignorieren.
Du hast mir nicht gesagt, dass es zu Deinen Aufgaben gehört, Krankentragen über gefährliche Wälle zu schleppen. Ich habe mich die ganze Zeit mit der Vorstellung getröstet, dass Du in Sicherheit bist und irgendwo weit hinter den Linien den Chauffeur spielst. Jetzt erfahre ich, dass Du nicht nur mitten in die Gefahrenzone fährst, sondern auch noch aussteigst! Bitte versprich mir, dass das nicht noch einmal vorkommt.
Ich habe endlich die Postkarte erhalten, die Du mir aus dem Krankenhaus geschickt hast. Kein Ruhmesblatt für die Post, dass sie beinahe einen Monat gebraucht hat. Hätte ich diese Karte zum rechten Zeitpunkt erhalten, hätte ich Dich sogar noch früher besucht. Verflucht sei die britische Post!
Als ich hier auf Skye ankam, war mein neues Cottage fertig. Für Dich wäre es vermutlich nichts Besonderes, für mich aber ist es ein Palast. Zwei Stockwerke, Holzboden, ein Schornstein an jedem Ende, Glasfenster und eine Tür, die man verriegeln kann! Das ist wahrer Luxus. Hier eine kleine Zeichnung.
Finlay hat beim Bau des Hauses geholfen. Seit er die Prothese hat, findet er allmählich ein bisschen Frieden. Vater hat einige große Stücke Treibholz besorgt, aus denen Finlay einen Kaminsims fürs Wohnzimmer gezimmert und Meerjungfrauen, Selkies und Kobolde hineingeschnitzt hat. Fürwahr, der Kaminsims eines Inselmädchens. Der Kaminsims eines Mädchens, das das Meer erobert hat, indem es seine eigenen Ängste besiegte.
Der arme Finlay ist allerdings ziemlich melancholisch. Er trauert nicht nur um Iain. Auch mit seinem Mädchen, Kate, steht es nicht zum Besten. Seit er wieder da ist, kommt sie immer seltener vorbei. Er hofft noch immer, dass sie zu ihm zurückkehrt und sich an das Bein gewöhnt, so, wie er es auch musste. Aber ich habe meine Zweifel. Wann immer ich zum Postamt gehe, sehe ich sie dort mit parfumgetränkten Briefen. Ich bringe es nicht über mich, es Finlay zu erzählen. Für ihn würde eine Welt zusammenbrechen.
Ich bin auf dem Rückweg zum Hof, um meine Sachen ins Cottage zu räumen. Die Bettwäsche muss gründlich gewaschen und die Matratze gelüftet werden. Aber auch alles andere hat wohl eine gründliche Reinigung nötig, bevor ich es in das saubere, neue Haus bringe. Ich werfe den Brief auf dem Weg dorthin ein.
Ich vermisse Dich jetzt schon.
E
Ort Drei, 22. Mai 1916
Sue,
mein Ehrenwort, Hand aufs Herz. Du wirst etwas so Dummes nie wieder von mir hören. Das schwöre ich. Wie klingt das?
Hier hat sich etwas verändert. Ich habe ja schon erwähnt, dass es eine Art Initiationsritus ist, wenn man seinen Spitznamen erhält. Von da an gehört man dazu. Mein Verhältnis zu den anderen hat sich tatsächlich verändert. Die Jungs waren immer freundlich zu mir, aber außer Harry stand ich niemandem wirklich nahe. Ich verspürte den ständigen Drang, mich mit ihnen zu messen und jeden Einzelnen zu übertrumpfen. Jetzt aber wird mir klar, dass wir alle auf derselben Seite stehen. Vielleicht finde ich sogar ein paar Freunde.
Das ist neu für mich. Ich weiß, ich weiß, schwer zu glauben, dass ich angesichts meiner schillernden Persönlichkeit und meines einzigartigen Sinns für Humor nicht der beliebteste Bursche an der ganzen Uni war, aber ich gehörte immer zu denen, die viele Bekannte, aber wenige Freunde haben. Jetzt erlebe ich die Kameradschaft, von der ich immer nur gelesen habe.
Gestern Abend habe ich in Darleys Gedichten gelesen, und da wurde mir bewusst, dass Du schon lange nicht mehr über Deine Poesie gesprochen hast. Ich weiß, ich habe Dich durchs halbe Land gejagt, aber hast Du überhaupt Zeit zum Schreiben gefunden?
Neulich habe ich ein kleines Märchen über eine Prinzessin geschrieben, die eine magische Krone besitzt, und an Florence geschickt. Erst später wurde mir klar, dass sie schon vier ist. Heißt das, sie ist zu alt für Onkel Daves Märchen? Was mögen vierjährige Mädchen? Sie lernt Zeichnen und schickt mir ganz verrückte Bilder (zum Glück versehen mit einer handschriftlichen Erklärung von Hank). Das letzte hieß »Mama und die Hühner und Tante Sallys Katze am Meeresufer«.
Ich schreibe beim Mittagessen. Es gibt einen ziemlich erbärmlichen Eintopf, der hauptsächlich aus Steckrüben und Kohl besteht, und ich erinnere mich an unser Essen im Carlton. Geschmorte Ente, Austern, Dein erster Schluck Champagner. Ich sehe noch, wie Deine Augen beim Anblick der Desserts aufleuchteten. Nicht zu fassen, dass Du von jedem eins bestellt hast! Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dabei ist es nur ein halbes Jahr. Ein halbes Jahr, ein halbes Leben – es scheint ein und dasselbe zu sein, wenn wir beide getrennt sind.
Weißt Du noch, was Du gesagt hast, als wir uns in King’s Cross zum ersten Mal sahen? Die ersten Worte, die Du gesprochen hast? Du bist auf mich zugekommen, und während ich mich noch um einen intelligenten Satz bemühte, sagtest Du einfach: »Da bist du ja.« Daran muss ich oft denken, Sue. Hier bin ich. Wo immer ich in der Welt sein mag: »Hier bin ich.«
Davey
Isle of Skye, 29. Mai 1916
Davey,
ich bin in meinem Cottage und habe mit einem kleinen Projekt begonnen. Das ganze Gebäude ist weiß gekalkt und schreit förmlich danach, als Leinwand benutzt zu werden. Also habe ich in Portree alle verfügbaren Farben gekauft und begonnen, die Außenseite zu verschönern. Ich hocke auf der Leiter, die Taschen voller Pinsel und Gläser, ein gebogenes Stück Treibholz auf dem Dach als Palette, und lasse meine Fantasie und meine Erinnerungen frei durch die Finger fließen. Für vorbeifahrende Boote oder Wanderer am anderen Ufer des loch sieht es sicher wie blanker Unsinn aus, aber in meinem Kopf passt alles zusammen. Jeder Farbwirbel, jeder Pinselstrich ist ein Tribut an uns beide.
Finlay hat meinen Kaminsims fertiggestellt, er ist ein wahres Kunstwerk geworden. Er hat sich solche Mühe gegeben, bis hin zu den winzigsten Details. Genau in der Mitte befindet sich eine Feenprinzessin, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Kate hat. Ich habe gesagt, er verschwende seine Zeit auf Skye und solle lieber an der Glasgow School of Art Bildhauerei studieren. Nicht wie ich hier herumlungern und seine Kunst an Bauernhäuser vergeuden. Nun, da er nicht zum Fischen hinausfährt, ist er, anders als wir Übrigen, frei und ungebunden. Er kann in die Welt hinausziehen, so, wie wir es uns als Kinder immer erträumt haben.
Ehrlich gesagt möchte ich, dass er von hier weggeht; er soll nicht mehr an Kate denken. Als ich Deinen letzten Brief abgeschickt habe, war sie im Postamt. Der Wind, der durch die offene Tür wehte, riss ihr den Brief aus den Fingern, und ich habe ihn aufgefangen. Oh, Davey, er war an Willie adressiert. Und stank nach billigem Parfum. Sie sah, dass ich es bemerkt hatte, doch da sie ein hochnäsiges Luder ist, stolzierte sie wortlos an mir vorbei. Ich hätte Finlay gleich erzählen sollen, dass Kate ihn schon eine ganze Weile mit seinem Bruder betrügt, aber ich konnte es einfach nicht. Nicht jetzt, da er endlich ein wenig Frieden gefunden zu haben scheint.
Allerdings glaube ich, er ahnt etwas. Letzte Woche kam Willie nach Hause und gebärdete sich wie ein Pfau, unterhielt uns mit Geschichten über kühne Schlachten und eilte schon wieder davon. Ich habe ihn vor dem Cottage erwischt, als er gerade nach Portree gehen wollte. Ich habe gesagt, ich wisse über Kate Bescheid. Dass sie sein Mädchen sei und er um Finlays willen Schluss machen solle. Er lachte nur und erwiderte, mich habe mein Ehemann auch nicht davon abgehalten. Außerdem hätte ich gesagt, es sei richtig, seinem Herzen zu folgen. Er folge nur meinem Beispiel. Wir seien einander ähnlich.
Davey, sein Tun kommt mir so falsch vor. Und dann sehe ich Finlay, der daran zugrunde geht. Wenige Tage später hat Willie ihm in meinem neuen Haus geholfen. Er kam mit einer blutigen Nase heim, und Finlay tauchte erst am nächsten Tag wieder auf. Er weiß sicher Bescheid. Wie soll er den beiden je verzeihen?
Willie sagt, ich hätte mich Iain gegenüber genauso verhalten. Hätte nur an mich statt an ihn gedacht. Die leisen Stiche der Schuld, die ich manchmal empfinde, trafen mich bei diesen Worten mit ganzer Wucht. Ich war nicht nur eine hinterhältige Betrügerin, ich hatte meinen eigenen Bruder dazu verführt, das Gleiche zu tun. Ich hatte nicht nur meine Ehe zerstört, sondern auch meine Familie.
Ich hätte Willie einen besseren Rat geben können. Ich hätte Finlay von Kates Briefen erzählen können, als es noch nicht zu spät war. Aber ich habe nichts getan, und nun sprechen meine Brüder nicht mehr miteinander.
Und ich bin an allem schuld. Hätte ich Iain das nicht angetan, hätte Willie sein eigenes Handeln nie damit gerechtfertigt. Und meine Familie wäre noch heil.
Davey, mein Liebster, es muss aufhören. Ich muss aufhören. Glaub mir, meine Hand will diese Worte nicht schreiben. Aber ich kann Iain das nicht länger antun. Wenn er gefunden wird, wenn er nach Hause kommt, muss ich es ihm sagen. Ich muss das in Ordnung bringen, bevor es mit uns etwas werden kann. Zwischen Iain und mir stand es nicht zum Besten; gewiss wird er mir zustimmen. Aber, Davey, ich muss es richtig anfangen, sonst kann ich mir nie verzeihen.
Darum habe ich unsere Geschichte auf die Seite meines Cottages gemalt. Als Erinnerung an das, was war. Ein Denkmal für uns, geschaffen mit Farbe und Pinsel.
Bitte versteh mich. Du weißt, dass ich Dich liebe, aber bitte versteh mich.
Elspeth
Ort Drei, 8. Juni 1916
Sue,
Du ahnst nicht, wie sehr ich mich vor diesem Brief gefürchtet habe. Ich wusste, dass er eines Tages kommen würde, aber gefürchtet habe ich mich dennoch.
Als Du damals geschrieben hast, dass Du mich auch liebst, hast Du meine Welt auf den Kopf gestellt. Seit ich diese Worte gelesen habe, war das Leben für mich nie mehr wie früher. Aber Dein letzter Brief hat sie wieder auf die Füße gestellt, und mir ist schwindliger als zuvor. Ich habe seitdem nicht geschlafen.
Ich könnte Dich bitten, mich nicht zu verlassen. Genau das möchte der selbstsüchtige Junge in mir am liebsten tun. Und tief in Deinem Inneren möchtest Du das wohl auch. Aber ich mache all das hier nur, um mich Deiner und dem, was zwischen uns ist, würdig zu erweisen. Als dieser Mann würde ich Dich nicht von den Menschen wegreißen, die Du liebst, würde ich nicht zulassen, dass Dein Leben zerbricht.
Ich bitte Dich jedoch, es noch einmal zu überdenken. Schließ mich nicht einfach so aus. Es kam sehr plötzlich. Ich werde Dich nicht gegen Deinen Willen festhalten, aber gib mir ein bisschen Zeit. Lass mich Dich noch eine Weile halten. Bleib bitte bei mir, bis Iain zurückkehrt.
Immer
Davey
Isle of Skye, 19. Juni 1916
Lieber Davey,
ich habe ein offizielles Schreiben des Kriegsministeriums erhalten. Da es keine weiteren Nachrichten gibt, geht man mit großem Bedauern davon aus, dass Private Iain Dunn im Kampf gefallen ist.
Als es an die Tür klopfte, wusste ich sofort Bescheid. Ich habe den Brief nicht gleich geöffnet, sondern auf den Kaminsims gestellt, den Finlay für mich geschnitzt hat. Komisch, ich musste als Erstes an Finlay denken und dass er bei der Nachricht zusammenbrechen würde. Ich musste mich beherrschen. Ich musste für meinen Bruder da sein.
Ich habe nicht geschlafen, seit ich den Brief bekommen habe. Ich verbrachte die Nacht im alten Cottage und ging Iains Habseligkeiten durch. So wenig ist von ihm geblieben, so wenige Beweise dafür, dass er einmal gelebt hat. Ich brachte es nicht über mich, etwas wegzuräumen, und habe alles so gelassen, wie er es hingelegt hatte.
Auf einem Regal fand ich einen vergessenen nautischen Almanach von 1910 – hat er früher wirklich gelesen? – und eine geschnitzte Pfeife. Wenn ich abends dasaß und schrieb, hat Iain geschnitzt. Das hatte er von Finlay gelernt. Ich weiß noch, wie die beiden als Jungs am Ufer saßen, die dunklen Köpfe zusammengesteckt, und aus Treibholz kleine Püppchen und Kreisel für mich schnitzten. In den letzten Jahren hat er begonnen, in tieferen Gewässern zu fischen, und ist die ganze Nacht mit dem Boot draußen geblieben. Ich habe mir eingeredet, es habe daran gelegen, dass er es müde war, jeden Abend zu schnitzen und ins Feuer zu starren. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
Er hatte eine Truhe für seine Kleidung, obwohl er das meiste, was er besaß, am Leibe trug. Es war nichts darin außer zwei häufig geflickten blauen Hemden, die ich kurz nach unserer Hochzeit genäht hatte. Ihre Nähte waren schief, aber die Hemden waren mit Begeisterung gemacht. Er hat sich nie beschwert und brachte sie mir zum Ausbessern, wenn die alten Flicken abfielen. Ich habe noch immer irgendwo ein Stück von diesem blauen Stoff. Erstaunlich, dass die Hemden unsere Beziehung überdauert haben.
In der Truhe lag auch ein zerbrochener Holzkamm. Er trug sein Haar immer zu lang. Er sagte, er spüre es gern auf der Stirn, wenn er draußen auf dem Wasser sei. Am Abend, bevor er wegging, saß er nur mit seiner Hose bekleidet vor dem Feuer und schnitt sich die Haare kurz. Ich wollte sie eigentlich aufsammeln und ein paar Strähnen zwischen die Seiten meines Byron legen, aber er warf sie ins Feuer. Ich bin ohnehin nicht sentimental.
Ganz unten in der Truhe fand ich eine verbeulte Keksdose, die mit Salz verkrustet und völlig verrostet war. Er musste sie in seinem Seesack gehabt haben, bevor er ihn ausgeleert und für die Armee gepackt hatte. Ich musste sie mit dem Fleischmesser aufhebeln. Davey, ich habe darin eine Ausgabe meines ersten Buches Wellen gen Peinchorran gefunden. Wir waren noch nicht verheiratet, als ich es ihm geschenkt habe, und ich wusste nicht, ob er es je gelesen hat. Die Seiten hatten Wasserflecken, und genau in der Mitte, bei einem Gedicht über Sommernächte, lag eine gedrehte Strähne von meinem Haar. Er hatte mit Bleistift den Satz »warm wie ein Atemhauch auf meinem Gesicht« unterstrichen. Neben dem Buch lag eine geschnitzte Babyrassel.
Seitdem sitze ich hier, eingewickelt in einen seiner Pullover, und starre ins Feuer. Màthair ist gestern gekommen und hat mit der Zunge geschnalzt, weil ich in einem Wollpullover am Feuer schwitze. Sie holte Wasser zum Baden herein und machte sich daran, eine Fischpastete zu backen. Während sie im Ofen war, half sie mir beim Haarewaschen und fragte: »Fühlst du dich schuldig?«
Wie sollte ich ihr erklären, dass ich mich nicht schuldig fühle, weil ich Dich liebe, sondern weil ich Iain nicht genug geliebt habe? Weil ich die ganze Zeit über gedacht habe, er hätte sich von mir abgewendet, obwohl das nicht stimmte? Er fuhr hinaus und jagte Heringe im Minch, trug aber immer etwas von mir bei sich. Er hatte mich immer in seiner Nähe.
Ich fühle mich so leer. Als ich den Brief mit der Vermisstenmeldung bekam, sagte ich mir, er sei tot. Damals habe ich meinen Teil an Tränen vergossen. Was hätte ich auch sonst glauben sollen? Hoffnung ist in diesen Zeiten nutzlos. Hoffnung ist der erste Schritt zur Enttäuschung.
Davey, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Mit der Trauer. Ich habe keine Träne vergossen, seit der Brief gekommen ist. Ich kann nicht aus dem Haus gehen, denn wer würde mich verstehen? Da ist seine Witwe, die sich weigert zu weinen. Da ist seine Witwe, der es egal ist.
Aber das ist es nicht. Er war mein Mann. Wie könnte mir das egal sein?
Ich weiß nicht, was ich von Dir erwarte. Ich bin mir auch nicht sicher, weshalb ich Dir schreibe. Es ist eben das, was ich tue. Màthair hat gesagt, ich solle nicht damit aufhören. Ich solle weiterhin »meinem Amerikaner« schreiben, es gebe keinen besseren Weg, um weiterzuleben.
Bitte verlass mich nicht, Davey.
Sue