19. Kapitel

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Elspeth

Ort Fünf, 30. Juni 1916

Liebe Sue,

DU HAST NICHTS FALSCH GEMACHT. Deine Reaktion auf Iains Tod ist in keiner Weise unangemessen. Und wie kann jemand es wagen, Dir etwas anderes einzureden! Weine, wenn Du möchtest. Oder sing, wenn Dir danach ist. Geh im schwarzen Kleid in die Kirche, aber zieh Dir danach etwas leuchtend Gelbes an. Wenn Du schwitzend vor dem Feuer sitzen möchtest, dann mach es. Aber am nächsten Morgen gehst Du barfuß im kühlen Morgentau spazieren.

Verkrieche Dich auf gar keinen Fall in Dir selbst. Du ahnst nicht, welch lebendige Kraft Du auf dieser Erde bist. Du bist nicht zum Trauern geschaffen. Du bist dafür geschaffen, zu leben und zu lieben. Solange Du lebst, würdigst Du ihn. Solange Du ihn noch liebst, würdigst Du ihn. Halte Dich daran fest, Sue.

Und vergiss nicht: »Hier bin ich.« Nur einen Briefumschlag entfernt.

David

Isle of Skye, 7. Juli 1916

Mein Ritter,

selbst wenn Du glaubst, Du hättest nichts zu sagen, findest Du die perfekten Worte. Natürlich hätte es mich schon froh gemacht, nur einen schmuddeligen Umschlag zu sehen, der mit Deinem Gekritzel versehen ist, aber Deine Worte darin sind wie Balsam für mein wundes Herz.

Ich besitze kein gelbes Kleid, aber auf dem Heimweg vom Postamt musste ich einfach den Hut abnehmen und mir einen kleinen Strauß Vergissmeinnicht ins Haar stecken. Es war ein so schöner Tag, warm und schläfrig, und er erinnerte mich an meinen Hochzeitstag. Wusstest Du, dass ich letzte Woche acht Jahre verheiratet gewesen wäre? Ich habe einige Vergissmeinnicht gepflückt, dazu leuchtend gelben Steinbrech, Stiefmütterchen und rote Lichtnelken, und sie mit meinem Hutband zu einem winzigen Strauß gebunden. Dann bin ich zu der Stelle gegangen, an der Iain und ich als Kinder gespielt haben, und habe ihn auf den Feenhügel gelegt, auf dem er mich zum ersten Mal geküsst hat. Es gab keinen besseren Ort, um seiner zu gedenken.

Während ich dort stand und versuchte, mich an den Mann zu erinnern, den ich seit fast zwei Jahren nicht gesehen habe, diesen Ehemann, der mir fremd geworden war, fragte ich mich unwillkürlich, ob ich ihn noch liebe oder nicht.

Ich glaube, ich habe Iain in gewisser Weise immer geliebt. Ich habe Dir gesagt, dass ich ihn seit Jahren kenne. Von der kindlichen Zuneigung zur »Schwärmerei« der Jugend. Von der errötenden Liebe, die man als Heranwachsende empfindet, zur ungezwungenen Liebe einer Ehefrau. Also ja, ich liebe ihn noch. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ihn nicht zu lieben, weil ich es schon so lange tue.

Seltsam, dass Du nach meinen Gedichten fragst. Ich hatte lange nichts geschrieben, seit Weihnachten nicht. Gestern Abend habe ich es versucht, um meine Gefühle zu ordnen, aber es klang so künstlich. Die Worte flossen nicht dahin wie damals, als ich mit Dir zusammen war. Erinnerst Du Dich an das Gedicht, das ich in London über Dich geschrieben habe – als Du ausgestreckt auf dem Bett lagst, einen Arm über dem Gesicht? Schon Deine Haltung war ein Gedicht. Die Worte waren da – ich musste sie nur aus der Luft pflücken und auf die Seite heften. Doch gestern Abend … Ich konnte es einfach nicht. Ist meine Muse verschwunden? Werde ich nie wieder schreiben können?

So merkwürdig es klingen mag, ich fühle mich besser, nachdem ich über Iain gesprochen habe. Es ist, als hätte ich eine Grabrede gehalten. Nun, da ich von ihm gesprochen und den Strauß niedergelegt habe, kommt es mir vor, als würde ich (sanft) eine Tür schließen. Doch wenn man eine Tür schließt, muss man eine andere öffnen.

Sue

Ort Sechs, 15. Juli 1916

Sue,

es hört sich an, als ginge es Dir gut. Ich wusste, dass Du erkennen würdest, was Du zu tun hast.

Wir sind mal wieder verlegt worden. Ich komme mir vor wie ein Zigeuner, lebe praktisch im Laderaum meiner Blechkiste und schlafe nie lange genug an einer Stelle, um eine Mulde auf dem Boden zu hinterlassen. Wir sind offiziell wieder en repos und damit ein ziemliches Stück hinter den Linien, müssen aber immer noch die eine oder andere Evakuierung übernehmen. Meist transportieren wir Kranke anstatt Verwundete.

Ort Sechs ist einer der schönsten Orte, die ich in Frankreich gesehen habe, umso mehr, da er uns Frieden und Erholung bietet. Ich wünschte, ich könnte Dich an die Hand nehmen und ihn Dir zeigen. Wir sind in einem kleinen Tal außerhalb der Stadt stationiert, es ist grün, und überall wachsen Blumen. Nach dem Geruch von Schießpulver und Blut und dem widerlich süßen Gestank von entzündetem Fleisch können wir gar nicht genug bekommen vom Duft des frischen Grases und der Wildblumen. Hier ist eine Mohnblume für Dich, Sue. Presse sie in Deinem Huck Finn, und bewahre sie für mich auf.

Ich weiß noch, wie Du in London das Gedicht geschrieben hast. Könntest Du es mir schicken? Yeats und Shakespeare sind gut und schön, aber ich hungere nach einem Original von Elspeth Dunn.

Hast Du bemerkt, dass ich mir gar keine Gedanken darüber mache, dass Du nie wieder schreiben könntest? Das hast Du auch geglaubt, nachdem der Krieg ausgebrochen war, und Du hast dennoch weitergeschrieben. Auch wenn es dunklere, nachdenklichere Gedichte waren. Du hast in London viel geschrieben. Die Muse hat Dich nicht verlassen, Sue. Nur Geduld.

Außerdem sind da doch die Briefe. Deine Worte sind nicht künstlich geworden. Du schreibst immer noch an mich, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Du jemals natürlichere oder aufrichtigere Gedanken geäußert hast als in diesen Briefen.

Oh, die Kantine ruft. Ich muss jetzt Schluss machen, möchte Dich aber daran erinnern, dass in Frankreich jemand an Dich denkt.

David

Isle of Skye, 22. Juli 1916

Davey,

gestern war ich ziemlich nachdenklich. Während ich meiner Arbeit nachging, musste ich die ganze Zeit daran denken, was es bedeutet, verheiratet zu sein. Was die anderen von einem erwarten, was man von sich selbst erwartet. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was es bedeutet, Witwe zu sein. Ich weiß nicht, was ich fühlen oder tun darf.

Iains Mutter meint sicher, ich müsste den Rest meiner Tage in Trauer verbringen, jeden Morgen für ihn beten und jeden Abend eine Kerze für ihn anzünden. Als ich im Garten kniete und darüber nachdachte, habe ich es fast selbst geglaubt.

Dann kam Dein Brief und erinnerte mich daran, dass einer der Männer, die mich von fern geliebt haben, tatsächlich in Sicherheit und gesund und wohlauf ist.

Ich habe das Gedicht hervorgekramt, um es für Dich abzuschreiben. Obwohl ich in Eile war, versetzten mich die Worte wieder zurück an diesen trägen Nachmittag. Ich weiß noch, wie ich Dich auf dem Bett beobachtet habe, Du warst so gelassen, so glücklich. Wir hatten nichts gegessen, seit Tagen kaum geschlafen, und doch warst Du vollkommen zufrieden. Weißt Du noch, wie Du mich mit den Orangen aus der Obstschale gefüttert hast? Ich weiß nicht, was besser geschmeckt hat – die Orangen oder Du.

Das Gedicht erinnert mich nicht nur an jenen Nachmittag, sondern auch daran, dass ich Dich schon so lange liebe. Statt mich nach jemandem zu sehnen, der nie zurückkommen wird, könnte ich mich nach jemandem sehnen, der zurückkommt. Wenn ich jeden Morgen bete, dann für Dich, Davey. Ich bete, dass der Krieg vorübergeht und ich Dich wieder bei mir habe.

E

Ruhe

Er liegt ganz still im Lichterschein,

Die Muskeln schimmern golderfüllt.

Den Körper lang, gestreckt das Bein,

Vom Bett liebkost und eng umhüllt.

Er ist entspannt – ganz nackt und weich.

Der Körper ehrlich, unverstellt.

Harte Faust wird sanft und streicht,

Muskeln öffnen sich der Welt.

Halb zu die Augen, Wimpern beben,

Sein Arm ruht über dem Gesicht.

Er atmet, seufzt, still, voller Leben,

Komm zu mir, hör ich, als er spricht.

Er gähnt und reckt sich löwengleich,

Und kehrt zurück in seine Ruh.

Er winkt mich lässig in sein Reich,

Und ich geselle mich dazu.

Ort Acht, 31. Juli 1916

Sue,

wir sind ein bisschen herumgekommen, aber immer noch en repos. Zurzeit kampieren wir auf dem Gelände einer prachtvollen Villa und haben unsere Zelte im baumbestandenen Park aufgeschlagen. Es gibt nicht viel zu tun außer einem gelegentlichen Krankentransport, also entspannen wir uns, lesen oder gehen in der nahe gelegenen Stadt spazieren. Manchmal vergessen wir beinahe, dass um uns herum ein Krieg tobt.

Dein Gedicht hat auch bei mir Erinnerungen wachgerufen. Ja, ich weiß noch, wie ich Dich mit den Orangenstücken gefüttert habe. Der Saft ist Dir aus den Mundwinkeln gelaufen, und ich habe sie sauber geküsst. Wir haben so oft gebadet! Ich wünschte, Du hättest die Badewanne als Andenken mit nach Hause nehmen können. Ich hätte die Orangen mitgenommen. Oder die Blumen, die Dir in Piccadilly so gut gefallen haben, die nach dem Hochland rochen, wie Du sagtest.

Kauf lieber noch keine Zugfahrkarte, aber es kann sein, dass ich Anfang September en permission bin. Wir dürfen alle drei Monate eine Woche Urlaub nehmen, aber nach neun Monaten stehen uns zwei Wochen an einem Stück zu. Es lohnt sich nicht, in der einen Woche nach Schottland und zurück zu fahren (weshalb ich auch bisher nicht weiter als bis Paris gekommen bin), aber zwei Wochen würden reichen. Also, en garde, Liebste, wenn alles gut geht, werde ich Dich im September besuchen. Vielleicht können wir uns in Edinburgh treffen?

David

Isle of Skye, 7. August 1916

Davey, mein Davey!

Darf ich überhaupt zu hoffen wagen, dass ich Dich im September sehe? Ich weiß, wie launisch die Armee sein kann, wenn es um Urlaub geht. Diesmal werde ich auch an einen Koffer denken. Edinburgh wäre herrlich. Ich habe mich in die Stadt verliebt. Oder wir treffen uns wieder in London, wenn es für Dich einfacher ist. Ich will nicht einen einzigen Augenblick Deines Urlaubs verschwenden. Irgendwann hole ich Dich nach Skye.

Letzte Woche tauchte meine Mutter mit Chrissie und den Kleinen im Schlepptau vor meiner Tür auf. Angesichts der Lebensmittelknappheit in Edinburgh und des Zeppelinangriffs vom Frühjahr dachte Chrissie, dass die Kinder bei uns auf Skye besser aufgehoben seien. Sie und Màthair haben einander angesehen, und dann sagte Màthair: »Du hast ja so viel Platz …« Da bin ich nun und »spiele Mutter« wie ein kleines Mädchen.

Chrissie ist am nächsten Morgen nach Edinburgh zurückgekehrt – Krankenschwestern werden heutzutage dringend gebraucht, sodass sie nur ein paar Tage Urlaub nehmen konnte –, doch die Kinder haben sich gut eingelebt. Ich habe nur ein Bett, darin schlafen Emily und ich. Màthair hat Drillichsäcke mitgebracht, die wir mit Heu und trockenem Bettstroh ausgestopft haben. Emily ist die Einzige, die sich vielleicht noch an das Leben auf Skye erinnert. Allie trug kaum die ersten Kniehosen, als sie weggezogen sind, und Robbie war ein Winzling. Die Jungs kennen nur das Leben in der Großstadt, für sie ist die ganze Reise ins Hochland zu Tante Elspeth so aufregend wie Marco Polos China-Expedition.

Ich weiß, dass Màthair und Chrissie mich ablenken und meine Tage und Nächte ausfüllen wollen. Das ist sehr rücksichtsvoll von ihnen. Aber sie wissen nicht, dass ich, seit mir der Briefträger vor viereinhalb Jahren an einem regnerischen Frühlingstag den ersten Brief eines frechen Amerikaners gebracht hat, nie mehr einsam gewesen bin. Ich liebe Dich.

E

Ort Neun, 14. August 1916

Liebe Sue,

wenn wir herumlungern und nicht viel zu tun haben, gibt es immer zwei Gesprächsthemen. Eigentlich drei. In jeder Unterhaltung taucht unwillkürlich das Thema Mädchen auf. Wer eins hat, holt das zerknitterte, sorgsam gefaltete Foto hervor. Pliny, der Schlauberger, hingegen zeigt eine pikante französische Postkarte, die er irgendwo gekauft hat, und schwört feierlich, dies sei »seine Süße«. Und das Beste daran? Es ist jedes Mal eine andere Postkarte.

Das zweite beliebte Thema ist, wenig überraschend, das Ende des Krieges. Wir sind stets optimistisch und setzen auf einen Zeitpunkt um den nächsten wichtigen Feiertag. Um diese Jahreszeit behaupten wir alle zuversichtlich, der Krieg sei Weihnachten zu Ende. Wenn der Januar näher rückt, drücken wir die Daumen für ein Finale zu Ostern.

Beim dritten Thema, das uns beschäftigt, geht es um die Zeit nach dem Krieg. Diese Zukunftsvision beginnt immer mit einem Festmahl, das es mit dem Besten aufnehmen kann, das Delmonico’s zu bieten hat. Brot mit richtiger Butter, gehaltvoller Eintopf, Steaks so dick wie ein Männerarm, Kuchen und Torten und Doughnuts, Kaffee mit frischer Sahne, guter Bourbon. Verzeih bitte die Tropfen auf dem Papier; ich habe wohl gesabbert.

Nachdem wir in Gedanken dieses sehnlich erwartete Festmahl verschlungen und vielleicht mit einigen gymnastischen Übungen mit den zuvor erwähnten »Süßen« abgerundet haben, malen wir uns unsere berufliche oder private Zukunft aus. Der gute alte Wart wünscht sich nichts sehnlicher, als sich mit seinem Mädchen niederzulassen und die Produktion von Wart Junior in Angriff zu nehmen. Pliny hat große Pläne, er will Politiker werden. Er sieht sich schon als hohes Tier mit einem endlosen Vorrat an Zigarren und Frauen. Gadget, der von uns allen am besten an den Blechkisten herumschrauben kann, möchte für Henry Ford Autos entwerfen. Riggles will ein Geschäft eröffnen und sie dort verkaufen. Harry wird zu seiner Minna nach England zurückkehren und vielleicht Professor werden. Er sagt, er habe so viele Verstümmelungen und Verwundungen gesehen, dass ihm der Spaß am Arztberuf vergangen sei.

Aber das sind natürlich lauter Seifenblasen. Keiner dieser Pläne bedeutet etwas. Es ist gut und schön, darüber zu sprechen, was man tun wird, wenn man das Ganze hinter sich hat, aber es ist nur heiße Luft, bis man es tatsächlich hinter sich hat. Wir können heute über unsere Zukunft reden und sie morgen verlieren.

Na ja, alle bis auf Deinen Davey. Du weißt ja, dass ich zu Dir nach Hause komme, nicht wahr, Sue? Ich habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um meine Sue wiederzusehen. Es mag unpatriotisch sein, heutzutage auf Faust anzuspielen, und wenn meine Kameraden das hier läsen, würde ich vermutlich geteert und gefedert. VERDAMMTES BOCHE-GESCHWAFEL. So, vielleicht konzentrieren sie sich nur auf die Großbuchstaben.

Oh, wir müssen jetzt die Lizzies ankurbeln. Ich schreibe noch kurz die Adresse auf den Brief und werfe ihn ein.

Küsse!

D

Isle of Skye, 22. August 1916

Lieber Davey,

was erzählst Du ihnen denn über Deine »Süße«? Dass ich atemberaubend schön bin? Erstaunlich klug? Die genialste Köchin diesseits des Hadrianswalls?

Oh, Davey! Mir ist gerade bewusst geworden, dass Du, wenn alles gut geht, dieses Jahr meinen weltberühmten Christmas pudding bei mir essen wirst! Dann ist das Jahr vorüber, für das Du Dich verpflichtet hast. Mir kann es eigentlich egal sein, ob der Krieg Weihnachten zu Ende ist, denn dann gehörst Du mir und nicht mehr dem Field Service.

Du hast davon gesprochen, was sich die anderen für die Zukunft erhoffen, aber kein Wort über Dich selbst verloren. Hast Du Geheimnisse vor mir? Es mögen »Seifenblasen« sein, aber ich weiß, dass Du darüber nachgedacht hast. Davey, Liebster, Du bist ein zu großer Optimist, um nicht von der Zukunft zu träumen. Gehst Du mit mir zu Delmonico’s? Bringst Du mir das Autofahren bei? Entführst Du mich auf Ski-Ausflüge nach Michigan? Küssen wir alle zum Abschied und segeln um die Welt? Seit ich Dich kenne, habe ich mehr erlebt, als ich mir je vorstellen konnte. Allein im vergangenen Jahr bin ich in London, Paris und Edinburgh gewesen. Ich habe im Carlton gegessen, im Langham geschlafen und in der Charing Cross Road eingekauft. Mir ist, als könnte ich Skilaufen oder Autofahren lernen. Mit Dir an meiner Seite kann ich jedes Abenteuer bestehen.

Ich liebe Dich.

Sue

Ort Zehn, 31. August 1916

Sue,

ich habe viel zu tun. Kaum eine Pause, um die Socken zu wechseln. Wir bedienen nur einen einzigen poste, aber hier kommen so viele Männer durch, dass wir ständig mit zwanzig Wagen unterwegs sind. Ich habe fast achtundvierzig Stunden gearbeitet, ohne ein Auge zuzutun. Gerade esse ich einen Kanten Brot, den ich in lauwarme Suppe getunkt habe, und versuche, die Augen lange genug offen zu halten, um Dir zu schreiben.

Gott, was bin ich müde!

Keine Geheimnisse um die Zukunft, Sue. Ich hoffe, die erste Hochland-Balletttruppe der Welt zu gründen. Und Du kannst im Chor von und in einem

Tut mir leid, bin eingedöst …

Sei geküsst –

Ort Zehn, 1. September 1916

Sue,

tut mir leid, dass mein letzter Brief so kurz und am Ende so verworren war. Ich bin wirklich darüber eingeschlafen. Ich könnte schwören, dass ich einen Präriehund vorbeilaufen sah, als mein Kopf heruntersank. Ich sitze gerade im Krankenwagen und versuche, diese Nachricht auf meinen Knien zu schreiben, während ich einen (oder zehn) Becher Kaffee trinke.

Bin immer noch hier in ______, und alles ist völlig verrückt. Kein Wort über den Urlaub, aber Du weißt, ich sage Bescheid, sobald ich etwas höre.

Wir sind jetzt seit knapp zwei Wochen hier, werden also über kurz oder lang entweder en repos sein oder Urlaub bekommen. Wenn sie uns weiterhin so antreiben, fallen wir um. Gadget hat sich etwas eingefangen und ist im Feldlazarett, also fehlt uns auch noch ein Mann.

Warten wir ab mit Weihnachten. Du hast recht, mein Jahr ist fast vorbei, aber ich kann mich jeweils für weitere drei Monate verpflichten. Wer weiß? Die Zukunft läuft uns nicht davon. Wir können darüber sprechen, wenn wir uns sehen. Ich drücke die Daumen für den Urlaub!

Riggles wirft gerade den Motor an, also muss ich jetzt Schluss machen. Der letzte Schluck Kaffee!

D

Isle of Skye, 11. September 1916

Lieber Davey,

ich hoffe, Du konntest Dich ein bisschen ausruhen. Irgendetwas Neues über den Urlaub? Kannst Du herkommen? Sonst treffen wir uns wieder in London. Ich habe Màthair schon vorgewarnt – sie wird sich um die Kinder kümmern, sobald ich Dein Telegramm erhalte.

Mein Gott, es klingt seltsam: Màthair wird sich um »die Kinder« kümmern. Es sind nicht meine, aber ich fühle mich trotzdem für sie verantwortlich. Immerhin forme auch ich ihren jugendlichen Verstand!

Chrissie wird ihre Kinder gar nicht wiedererkennen, wenn sie sie abholt. Sie sind ganz braun und sommersprossig. Die Jungs sind richtig rund geworden von all dem Frischkäse und der Sahne, die ich ihnen vorsetze. Emily kommt mir immer noch zu dünn vor, aber sie hat wenigstens ein bisschen mehr Energie, weil ich sie hinaus in den Sonnenschein treibe.

Schreib mir bitte, egal, wie müde Du bist. Selbst ein »Ich liebe Dich« auf der Rückseite einer Postkarte lässt mein Herz höher schlagen.

Und ich liebe Dich.

E

Ort Elf, 11. September 1916

Mein liebes, liebes Mädchen,

es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so wenig geschrieben habe. Wir waren in einer hart umkämpften Gegend und mussten beinahe rund um die Uhr fahren. Mir blieb nur Zeit zum Fahren und Aus-der-Schusslinie-Bleiben. Obwohl ich weder die Zeit noch die Energie hatte, um Dir zu schreiben, Sue, bist Du immer in meinen Gedanken.

Wir sind endlich en repos. Ich glaube, die hätten uns mitten in einen Sumpf verlegen können, es wäre uns egal gewesen, weil wir so müde sind. Mir ist ohnehin egal, wo ich bin, solange ich schlafen und meiner Sue schreiben kann.

Wir waren ganz in der Nähe der Front, man hat uns den einen oder anderen Schrecken eingejagt. Während Harry fuhr, explodierte eine Granate genau vor ihm. Er hat nur ein paar Kratzer abbekommen, und seine Ohren klingeln, aber der Krankenwagen sah danach nicht mehr so gut aus. Wir alle sind schon am Steuer eingedöst, aber Bucky ist dabei von der Straße abgekommen und gegen eine Mauer geprallt. Er ist ein bisschen ramponiert, wie Du Dir vorstellen kannst, und hat sich die Fahrkarte nach Hause verdient.

Keine Ahnung, wie lange wir en repos bleiben, aber es wird nicht lange genug sein. Ich habe meinen vorgesetzten Offizier auf den Urlaub angesprochen, mal sehen, was er dazu sagt. Wir sind gerade an Ort Elf angekommen, und ich bin mir sicher, dass er einiges zu erledigen hat, bevor er sich um Urlaubswünsche kümmern kann.

Ich werde noch ein bisschen schlafen, bevor wir zum Essen gerufen werden. Es tut so gut, sich endlich auszustrecken!

Ich vermisse Dich.

D

POSTES ET TELEGRAPHES

PARIS

13. SEP. 1916

E. DUNN ISLE OF SKYE=

HABE 14 TAGE URLAUB

TELEGRAFIERE ANKUNFT IN ENGLAND

BRECHE MORGEN FRÜH AUF=

D+

21 Rue Raynouard, Paris, 13. September 1916

ich schicke diese Postkarte zusätzlich zu dem Telegramm, falls Du es nicht bekommst oder die Postkarte schneller ist.

Ich habe Urlaub! Vierzehn Tage, ist das zu fassen? Wenige Stunden, nachdem ich den letzten Brief an Dich abgeschickt hatte, habe ich meinen Passierschein nach Paris bekommen. Eine halbe Minute später waren meine Sachen gepackt. Der Vorteil, wenn man so viel unterwegs ist!

Du brauchst nicht nach London zu kommen. Ich fahre nach Norden, Du nach Süden, und wir treffen uns irgendwo in der Mitte …

D

TELEGRAMM

S 16.04 PORTREE

13. SEP. 1916

D. GRAHAM=

EDINBURGH=

WIR TREFFEN UNS IN EDINBURGH=

ST. MARYS CATHEDRAL UND DIESMAL BIN ICH DA=

MEIN HERZ SINGT WIEDER VOR POESIE=

SUE+