24. Kapitel

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Margaret

London, 7. September 1940

Oh, Màthair,

ich weiß nicht, was ich noch versuchen soll. Ich bin seit zwei Monaten in London, mitsamt einem Koffer voller Briefe mit Daveys Gekritzel, die ich wieder und wieder lese. Ich habe an sämtliche Adressen geschrieben, die mir nur einfallen – sein Elternhaus in Chicago; die Wohnung, die er sich mit Harry geteilt hat; sein Wohnheim; das Haus seiner Schwester; sogar an die Ehemaligenorganisation seiner Universität und die American Field Service Association – an jede Adresse, die mich zu irgendjemandem führen könnte, der weiß, was aus ihm geworden ist. Aus »meinem Amerikaner«.

Ich habe keine einzige Antwort erhalten. Ich weiß, nach mehreren Jahrzehnten konnte ich nicht damit rechnen. Die Menschen blicken nach vorn, sie leben weiter. Ich kann nicht erwarten, dass sie noch unter derselben Adresse wohnen. Ich kann nicht erwarten, dass sie etwas über Davey wissen. Ich kann nicht erwarten, dass sie mein Herz heilen können.

Ich habe diese langen Wochen des Wartens damit verbracht, durch London zu laufen. Habe jeden Ort besucht, an dem wir gemeinsam gewesen sind, jedes Geländer, an dem er vorbeigestrichen ist, jede Straßenbiegung, an der er stehen geblieben ist, um mein Gesicht zu berühren. Habe ich Dir je von dem Weihnachtsfest erzählt, das ich mit Chrissie in Edinburgh verbracht habe? An dem Davey und ich um Mitternacht nach draußen gegangen sind, nur um den anderen über all die Meilen hinweg zu spüren? Ich habe gedacht, ich könnte ihn spüren, wenn ich die richtigen Orte in London aufsuche: seinen Atem auf meinem Gesicht, seine Stimme in meinem Ohr, seine Hand in meiner. Ich dachte, ich könnte jene Momente wiederfinden und in meinen Händen halten.

Aber dies ist nicht mehr das London, in dem ich mein Herz verschenkt habe. Diese Stadt rüstet sich für die Belagerung. Alles ist etwas trüber, etwas grauer. Die Schaufenster, an die wir uns damals gedrückt haben, sind voller Konservendosen und Gasmasken. Die Hauseingänge, in denen wir uns geküsst haben, sind mit Sandsäcken blockiert. Es gibt keine Romantik unter den Kronleuchtern des Langham. Heutzutage ist es voller Uniformen und aufdringlicher Leute. Der Krieg ist überall.

Einmal trat ich aus dem Hotel, und mir war, als hätte ich Davey auf der anderen Straßenseite gesehen, auf den Stufen der All Souls Church. Aber dann fuhr ein Bus vorbei, und das Bild war verschwunden. Selbst hier gibt es nichts als Geister.

Màthair, ich kann keine Spur von Davey finden. Nicht mehr. Nicht einmal in unserem alten Zimmer im Langham. Ich dachte, ich könnte ihn herbeilocken, wenn ich die Orte von früher aufsuche. Dass ich durch diese Briefe endlich Antworten bekommen würde. Dass ich endlich herausfinden könnte, was aus meinem Amerikaner geworden ist.

Ich bin müde. Es kommt mir vor, als hätte ich mein halbes Leben lang gewartet, und ich weiß nicht, wie lange ich das noch kann. Es erschöpft mich.

Ich bleibe noch eine weitere Woche im Langham, um sicherzugehen, dass keine Briefe eintreffen. Dann kehre ich nach Edinburgh zurück, wo ich die Erinnerungen wieder in mir verschließen und weiter warten werde. Ich kann nicht anders. Ich vermisse meine Margaret so sehr.

Alles Liebe

Elspeth

9. September 1940

Maisie,

hast Du von Deiner Mutter gehört? Ich hoffe es sehr. Geht es ihr gut?

Sowie ich von den Bombenangriffen auf London erfuhr, habe ich nur gehofft, dass sie die Stadt verlassen hat. In keinem der Artikel steht, wie viele Flugzeuge es waren, wie viele Gebäude getroffen wurden. Hunderte? Tausende? Es heißt, London brenne noch immer. Sie nennen es Blitz.

Ich werde mehr herausfinden, aber schreib mir bitte, dass Deine Mutter es rechtzeitig geschafft hat.

In Liebe

Paul

Beagan Mhìltean, Skye, Samstag, 14. September 1940

Paul,

Mutters Brief kam zusammen mit Deinem, ist aber zwei Tage älter.

Oh, Paul, wir hatten ja keine Ahnung! Tagelang keine Post, geschweige denn eine Zeitung. Ein Blitzangriff, der ganz London in Brand gesetzt hat? Gran hat mich sofort nach Portree geschickt, um Neuigkeiten zu erfahren und ein Telegramm an Emily zu schicken, falls Mutter London schon verlassen und es nach Edinburgh geschafft haben sollte.

Ich kann kaum glauben, was ich lese. Hunderte Bomben, überall in der Stadt. Gewiss, es gab früher schon Luftangriffe auf London. Wir alle haben Luftangriffe erlebt. Aber so viele Bomben in so rascher Folge auf eine einzige Stadt … Das kann ich nicht begreifen. Wenn Bomben fallen, machen sie keine Unterschiede. Das London, das meine Mutter kannte, ist wirklich und wahrhaftig verschwunden.

Und seither greifen sie fast täglich an! Eine Stadt im Belagerungszustand. Ich hoffe und bete, dass sie nicht mehr dort ist, aber Emily sagt, das Haus in Edinburgh sei noch immer fest verschlossen. Also mache ich, was sie die ganzen Monate gemacht hat. Ich warte. Und hoffe auf die Post.

Ich weiß, dass Du da draußen fliegst. Pass bitte auf Dich auf, Paul, für mich.

In Liebe

Maisie

LONDON TROTZT AUCH DER ZEHNTEN ANGRIFFSNACHT

London, Dienstag, 17. September

Auch nachdem Hunderte deutscher Bomber in der vergangenen Nacht und am frühen Morgen den bisher heftigsten Angriff geflogen haben, bleibt die Stadt stark. Es gibt nur einen einzigen Todesfall und geringe Schäden.

Tagsüber heulten mehrfach die Sirenen, ein Alarm dauerte beinahe vier Stunden – bisher die längste Warnung, die es tagsüber gegeben hat. Der Angriff wurde schwierig, weil Nebelbänke tief über der Stadt hingen. Die Sirenen erklangen um kurz nach 20.00 Uhr, als der Himmel aufklarte, und ertönten ohne Pause bis 2.42 Uhr morgens, als die Flak endlich die Nazi-Angreifer verjagen konnte. Doch die Bürger von London konnten nicht lange in ihren Bunkern ausruhen, da um 3.52 Uhr die nächste Angriffswelle die belagerte Stadt heimsuchte.

Hochexplosive Bomben wurden in mehreren Wellen über der Stadtmitte abgeworfen, sie beschädigten Gebäude und zerstörten Fensterscheiben im Umkreis von einer halben Meile. Brandbomben fielen auf eine beliebte Einkaufsgegend und einige Wohngebiete. Die Feuerwehr trotzte ihnen in ritterlichem Kampf. Eine schwere Bombe fiel auf Portland Place, zerstörte eine Kohlegasleitung in der Straße und beschädigte das elegante Langham Hotel …