26. Kapitel

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Margaret

London, Freitag, 20. September 1940

Gran,

ich habe sie gefunden! Oh, meine Mutter sah so klein und blass aus in ihrem Krankenhausbett. Der Arzt sagte, sie sei im Langham gewesen, als es getroffen wurde, aber ohne allzu große Verletzungen davongekommen. Sie hat einige gebrochene Rippen, ihr Knöchel ist verstaucht, und sie leidet unter nervöser Erschöpfung. Sie befürchteten eine Lungenentzündung, aber das hat sich nicht bestätigt.

Ich bin zuerst gar nicht zum Hotel gegangen, weil ich dachte, man wüsste dort sicher nicht, wo sie ist. Doch Mutter hat zwei Monate lang dort gewohnt und jeden Tag nach dem Spaziergang an der Rezeption gefragt, ob Post für sie gekommen sei. Man kannte sie also. Der Empfangschef nannte mir den Namen des Krankenhauses und wünschte ihr alles Gute.

Sie saß im Bett, als ich hereinkam, die Hände an den Schläfen, und weinte. Doch sowie sie mich sah, sagte sie: »Meine Margaret. Da bist du ja.« Und legte sich sofort hin. Die Krankenschwestern sagten, sie habe keine Ruhe gefunden, seit man sie eingeliefert habe, aber nachdem sie mich gesehen hatte, schlief sie beinahe einen ganzen Tag.

Ich bin bei ihr geblieben und schreibe Dir, damit Du weißt, wie es ihr geht. Der Arzt scheint nicht besorgt und ist froh, dass die Familie sich jetzt um sie kümmert. Sie braucht nur Zeit und unsere Gebete.

Alles Liebe

Margaret

London, Freitag, 20. September 1940

Lieber Paul,

ich habe sie endlich gefunden. Und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie war im Langham, als es getroffen wurde, ist aber nicht schlimm verletzt. Sie möchte unbedingt nach Edinburgh zurück. Ihr Bett wird gebraucht, da nach den Angriffen täglich Verwundete eingeliefert werden. Sie haben nichts dagegen, solange sie nicht allein ist.

Sie hat sich sofort hingelegt, als ich kam, und ist mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Die Oberschwester hat gemerkt, dass ich eine lange Fahrt hinter mir habe – ich trug noch mein graues Reisekostüm –, und ich darf bei Mutter sitzen bleiben, solange ich leise bin und die anderen Patienten nicht störe. Sie glaubt, Mutter werde besser schlafen, wenn ich in ihrer Nähe bin.

Es hieß, sie habe einen Koffer umklammert, als man sie aus den Trümmern barg. Nur einen. Den anderen hatte sie zurückgelassen, aber den braunen Koffer wollte sie nicht hergeben. Ich weiß auch, warum – ich brauche ihn gar nicht zu öffnen.

Mutter schnarchte und murmelte im Schlaf vor sich hin, und der braune Koffer lugte unter ihrem Bett hervor. Ich wusste, dass es nicht richtig war. Die gehorsame Tochter in mir hatte ein schlechtes Gewissen, wenn sie nur daran dachte. Aber der Teil von mir, der alle Vorsicht über Bord geworfen und einem entfremdeten Onkel geschrieben hat, der mit nichts als dem Namen eines Hauses, der auf das Vorsatzblatt eines Buches gekritzelt war, zur Isle of Skye gereist ist, der nach London geeilt ist, um notfalls in den Trümmern nach meiner Mutter zu graben und sie nach Hause zu holen, dieser Teil von mir küsste Mutters schlaffe Hand, die auf der Decke ruhte, und öffnete den Koffer.

Paul, sie haben einander jahrelang geschrieben. Meine Mutter und Davey. Alle seine Briefe waren dort drin. Vom ersten aus dem Jahr 1912 – dem schwärmerischen Fanbrief eines ungestümen Collegestudenten – bis zum letzten von 1917 – einer hingekritzelten, schmutzigen Nachricht aus einem Kriegsgefangenenlager, mit der er ihre Beziehung beendete. Einfach so. Gerade noch blickten sie gemeinsam in die Zukunft, dann machte er mit einem Märchen über die Frau eines Fischers Schluss.

In der Geschichte ging es um sie. Ihr Ehemann Iain war Fischer auf Skye. Er wurde im Krieg vermisst, für tot erklärt und tauchte irgendwann wieder auf. Er erschien mit Daveys Brief in der Hand vor ihrer Tür. Sie hatte überhaupt keine Wahl.

Am nächsten Morgen

Ich habe Dir geschrieben, und dann, als die Sonne orangerot vor dem Fenster aufging, bin ich auch eingeschlafen. Als ich wach wurde, saß Mutter im Bett und betrachtete mich, wie ich inmitten ihrer Briefe dasaß.

»Du hast meine Geschichte gelesen«, sagte sie. Ich fragte, ob sie wütend sei, doch sie schüttelte den Kopf. »Es war nicht richtig von mir, sie für mich zu behalten. Es ist auch deine Geschichte.«

Ich hatte so viele Fragen, doch als ich sie so sah, blass auf ihrem Kissen, die Augen auf die Briefe gerichtet, konnte ich sie nicht stellen. Stattdessen fragte ich, wie es ihr gehe.

Sie richtete sich auf, zuckte aber dabei zusammen. »Viel besser. Ich glaube, ich fahre bald nach Hause.«

Ich war skeptisch und sagte, dass der Arzt ihr womöglich raten werde, sich noch ein wenig auszuruhen, doch sie seufzte. »Ich möchte einfach nur nach Hause, Margaret. Ich war zu lange weg.« Sie fuhr sich mit dem Daumen über die Augen. »Ich hätte nie weggehen sollen. Ich muss zurück nach Edinburgh, meine Spaziergänge machen, still in der Kathedrale sitzen. Ich weiß nicht, wie ich besser zu Kräften kommen sollte als zu Hause.«

»Elspeth«, sagte eine Stimme vom Fußende des Bettes. »Ich bringe dich nach Hause.«

Ob Du es glaubst oder nicht, es war Onkel Finlay. Er war gekommen.

In Liebe

Margaret

London, Samstag, 21. September 1940

Liebe Gran,

Onkel Finlay ist nach London gekommen. Er traf heute Morgen ein und hat den ganzen Tag mit Mutter verbracht. Sie haben zwei Jahrzehnte nachgeholt, ohne viel zu reden. Er bringt sie morgen nach Hause, nach Edinburgh.

Ich weiß nicht, wie Du es geschafft hast, ihn dazu zu bewegen, dass er endlich mit Mutter spricht, aber ich danke Dir. Zum ersten Mal seit langer Zeit hat sie friedlich ausgesehen.

Alles Liebe

Margaret

London, Sonntag, 22. September 1940

Lieber Paul,

bevor sie gestern Abend eingeschlafen ist, hat Mutter gesagt, dass ich nur die Hälfte der Geschichte kenne. Denn ich hätte nur Daveys Briefe gelesen, aber nicht ihre.

Statt heute Morgen mit ihr und Onkel Finlay zum Bahnhof zu gehen, bin ich noch einmal zum Langham gefahren und habe nachgefragt, ob sie den anderen Koffer geborgen haben. Darin befinden sich, wie sie sagt, ihre Schreibhefte, in denen sie die Entwürfe all ihrer Briefe notiert hat. Eine Schriftstellerin durch und durch.

Sie hatten den anderen Koffer gefunden, mitsamt den Heften. Ihre Hälfte der Geschichte. Aber, Paul, es war auch ein Brief für Mutter angekommen.

Tatsächlich hat jemand auf einen der vielen Briefe geantwortet, die sie während der Monate in London geschrieben hatte.

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Es ist ihr Brief, gewiss, aber ich habe sie im Krankenhausbett gesehen, müde und niedergeschlagen, und wie sie am Arm ihres Bruders zum Bahnhof hinkte, weil sie London um jeden Preis hinter sich lassen wollte. Wenn diese Antwort nun eine Enttäuschung ist? Oder, schlimmer noch, schlechte Neuigkeiten enthält?

Ich nehme den nächsten Zug nach Edinburgh. Mir bleiben siebeneinhalb Stunden, um zu entscheiden, ob ich ihr den Brief gebe oder ihn selber öffne.

In Liebe

Margaret

Detroit, Michigan, 10. September 1940

Sehr geehrte Mrs. Dunn,

bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht früher geantwortet habe, aber die Zentrale der American Field Service Association hat Ihren Brief an mich weitergeleitet. Man war der Ansicht, ich könne Ihre Fragen besser beantworten.

Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie, aber mir liegt keine Adresse von David Graham vor. Er hat sich nie an unseren Publikationen beteiligt, keine Adresswechsel angezeigt und keines unserer Ehemaligentreffen besucht.

Ich habe jedoch eine kleine Information, die Ihnen womöglich weiterhelfen kann. Einige der anderen Männer sind nach dem Krieg in Verbindung geblieben. Und ich habe ihn in Paris gesehen. Der gute alte Dave hat den Krieg überstanden. Er war immer ein Glückspilz.

Dave – wir nannten ihn »Rabbit« – war einige Jahre in Gefangenschaft. Er muss 1916 gefangen genommen worden sein, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten und das Rote Kreuz den Field Service übernahm. Er hat nur seinem engen Freund Harry aus dem Lager geschrieben. Ich weiß aber, dass er nach dem Waffenstillstand freigekommen ist. Immerhin haben wir ihn nach dem Krieg alle in Paris gesehen.

Er war zur Erholung im Lazarett, aber Rabbit hat sich hinausgeschlichen und kam in unser Hauptquartier in der Rue Raynouard. Sie können sich vorstellen, wie überrascht wir waren! Er war gut in Form, wenn man bedenkt, wie lange er im Lager gewesen war. Er bat uns um Ersatzkleidung, etwas Geld und so viel Schokolade, wie er tragen konnte, und erklärte dann, er fahre nicht nach Hause, noch nicht. Er müsse erst sein Mädchen in Schottland besuchen.

Wie Sie sehen, Mrs. Dunn, habe ich Ihren Namen erkannt. Sie mögen verzeihen, aber Rabbit hat ständig von Ihnen geredet. Er war bis über beide Ohren verliebt. So, wie er sich anhörte, müssen Sie die Verkörperung aller Märchenprinzessinnen gewesen sein. Harry schwieg sich über die ganze Sache aus, aber die anderen wussten, dass während seiner Zeit im Lager etwas schiefgegangen war. Und dann tauchte Rabbit plötzlich in der Rue Raynouard auf und bat uns um Geld, damit er nach Schottland fahren und sich für etwas entschuldigen konnte. Ich vermute, dass auch Sie ihn damals zum letzten Mal gesehen haben.

Einige andere Jungs sind nach dem Krieg in Kontakt geblieben. Rabbit hat wieder unterrichtet. Er wohnte eine Zeit lang in Chicago und zog dann nach Indiana, um näher bei seiner Schwester zu sein. Wohin es ihn danach verschlagen hat, weiß ich nicht. Er hat ein Buch veröffentlicht, ein Märchenbuch für Kinder. Sie hätten sehen sollen, wie wir alle gegrinst haben, als jemand es zu einem Ehemaligentreffen mitbrachte. Unser Rabbit war ein richtiger Schriftsteller geworden!

Immerhin kann ich Ihnen die Adresse von Harry Vance geben. Er ist sehr viel zuverlässiger als Rabbit und bleibt mit allen in Verbindung. Harry unterrichtet in Oxford. Das ist doch nicht so weit von London, oder?

Ich wünsche Ihnen viel Glück, Mrs. Dunn. Und falls Sie Rabbit sehen, bestellen Sie ihm viele Grüße.

Herzlich

Billy »Riggles« Ross

Sekretär, Abt. Mittlerer Westen

American Field Service Association

Edinburgh, Dienstag, 24. September 1940

Sehr geehrter Mr. Vance,

ich schreibe Ihnen im Namen meiner Mutter, Mrs. Elspeth Dunn. Sie hat versucht, David Graham zu finden, den sie vor Jahren gekannt hat. Ich habe Ihre Adresse von Billy Ross über die American Field Service Association erhalten. Er dachte, Sie würden vielleicht Mr. Grahams derzeitige Adresse kennen.

Mir sind alle Nachrichten willkommen. Meine Mutter sucht schon seit einer ganzen Weile nach Mr. Graham. Wir beide wären Ihnen dankbarer, als Sie jemals ahnen können.

Mit freundlichen Grüßen

Margaret Dunn

Oxford, 27. September

Sehr geehrte Miss Dunn,

ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen Daves Adresse geben soll. Er ist ein Einsiedler und schätzt seine Privatsphäre. Aber er hat viel zu viel Zeit allein verbracht und sich selbst bemitleidet. Er hat sich viel zu lange gewünscht, die Vergangenheit zu verändern.

Seine Adresse finden Sie unten. Er wohnt in London, gleich um die Ecke vom Langham Hotel. Er hat immer gesagt, London sei voller Erinnerungen.

Harry Vance