2. Kapitel
Margaret
The Borders, Dienstag, 4. Juni 1940
Liebste Mutter,
ich habe wieder einen Schwung abgeliefert! Ich schwöre Dir, wir haben so viele Kinder aus Edinburgh aufs Land evakuiert, um sie vor den Bomben zu schützen, dass kein einziges mehr übrig sein kann. Diese drei waren braver als die meisten; immerhin konnten sie sich selbst die Nase putzen.
Ich muss diese Gruppe unterbringen, und dann habe ich Mrs. Sunderland versprochen, ihrer Brut in Peebles einen kleinen Besuch abzustatten. Hat Paul geschrieben?
Liebe und Küsse
Margaret
Edinburgh, 8. Juni 1940
Margaret,
Du übernimmst Dich; Du bist doch gerade erst aus Aberdeenshire zurückgekommen! Die meisten Mädchen bleiben an Ort und Stelle, rollen Verbände oder bauen Schlachtschiffe oder was immer ihr jungen Frauen heutzutage so macht. Du hingegen läufst wie der Rattenfänger von Hameln durch ganz Schottland, gefolgt von lauter armen Kindern. Wissen die denn nicht, dass Du Dich nicht mal mit einem Kompass in der Hand zurechtfinden würdest? Und dass Du Dir auch erst seit Kurzem allein die Nase putzen kannst?
Nein, Liebes, keine Briefe von Paul. Hab Vertrauen. Wenn Du etwas von diesem Jungen erwarten kannst, dann einen Brief. Und noch hundert weitere.
Pass auf Dich auf!
Deine Mutter
The Borders, Mittwoch, 12. Juni 1940
Liebe Mutter,
wenn mein bester Freund mit der Royal Air Force in Europa herumfliegen kann, warum sollte ich dann nicht durch Schottland fliegen?
Du hast nichts von ihm gehört, oder? Alle behaupten, die R. A. F. sei in Dünkirchen nicht dabei gewesen, aber Paul hat gesagt: »Ich bin bald zurück«, und seitdem nicht mehr geschrieben. Wo sonst hätte er hinfliegen sollen? Also hat er entweder keine Briefmarken mehr, oder er ist nicht aus Frankreich zurückgekommen.
Ich versuche wirklich, mir keine Sorgen zu machen. Die Kleinen leiden schon genug ohne ihre Mütter; ich möchte sie nicht noch mehr beunruhigen.
Morgen früh fahre ich nach Peebles und von dort aus nach Edinburgh. Sieh zu, dass zu Hause Tee und Kuchen aus Mackies Bäckerei auf mich warten! Sonst bleibe ich einfach im Zug und fahre weiter nach Inverness …
Liebe und Küsse
Margaret
Edinburgh, 15. Juni 1940
Margaret,
wenn ich gewusst hätte, dass ein Teller Kuchen von Mackies ausreicht, um Dich nach Hause zu locken, hätte ich das schon vor Jahren versucht, Zuckerrationierung hin oder her!
Noch immer nichts von Paul. Aber in Kriegszeiten ist auch kein Verlass auf die Post. Früher hast Du Dir nicht solche Sorgen um ihn gemacht. Ist er mehr als nur ein Brieffreund?
Mutter
Peebles, Montag, 17. Juni 1940
Mutter,
ja, ich bin immer noch hier in Peebles. Bei der Bahn herrscht Chaos, und eine sehr hartnäckige Annie Sunderland wollte mich davon überzeugen, sie in meinen Koffer zu stecken und mit nach Edinburgh zu nehmen. Wenn ich ihr damit drohe, sie mit den Füßen an den Boden zu kleben, bettelt sie, ich solle ihr noch eine Geschichte erzählen. Und schaut mich aus großen braunen Augen an. Wie kann ich da widerstehen? Natürlich vermisst sie ihre Mama, aber die Familie, bei der Annie und die Jungs untergebracht sind, ist einfach wunderbar. Ich kann Mrs. Sunderland nur Gutes berichten.
Ich sollte Dir wohl erklären, dass Paul vielleicht ein bisschen mehr als ein Brieffreund ist. So sieht er das jedenfalls. Er glaubt, er sei in mich verliebt. Ich finde es eher lächerlich und habe ihm das auch gesagt. Wir sind nur Freunde. Sicher, beste Freunde. Du weißt ja noch, wie wir immer zusammen gewandert und geklettert sind und uns dann ein Sandwich geteilt haben. Aber verliebt? Ich habe Dir nichts davon erzählt, weil ich mir sicher war, dass Du darüber lachen würdest. Es ist doch auch lächerlich, oder?
Ich müsste eigentlich morgen oder übermorgen zu Hause sein, und wenn ich von Peebles aus zu Fuß laufe. Los geht’s!
Liebe und Küsse
Margaret
TELEGRAMM
18.06.40 PLYMOUTH
MARGARET DUNN, EDINBURGH
KEINE SORGE MAISIE BIN IN sicherheit =
KURZER AUFENTHALT IN PLYMOUTH =
DENKE AN DICH =
PAUL+
Mutter!
Er hat geschrieben!
Ich habe das Telegramm auf dem Tisch gesehen und konnte nicht abwarten, bis Du aus der Kirche heimkamst. Ich hatte Sorge, den Zug nach Süden zu verpassen. Habe den Kuchen eingepackt. Als Überraschung für ihn. Ich hoffe, es macht Dir nichts aus.
Mein Koffer und ich sind schon wieder unterwegs zur Waverley Station. Ich schreibe Dir, sobald ich dort bin.
Er hat geschrieben.
Margaret
Edinburgh, 18. Juni 1940
Oh, meine Margaret,
ich weiß, ich kann diesen Brief niemals abschicken; er wird im Kamin landen, sobald ich die Worte zu Papier gebracht habe. Wenn Du wüsstest, wie es mir das Herz zerrissen hat, als ich Deine Nachricht auf dem Tisch fand, zwischen den Krümeln auf dem leeren Kuchenteller. Wenn Du wüsstest, wie es sich anfühlt, jemandem für kurze Zeit nachzulaufen, wie die Welt einen Moment lang stehen bleibt, wenn man sie in Armen hält, und sich dann so schnell weiterdreht, dass einem schwindlig wird und man zu Boden fällt. Wenn Du wüsstest, wie es sich anfühlt, wenn jedes Hallo mehr schmerzt als hundert Lebewohl. Wenn Du wüsstest.
Aber Du weißt es nicht. Ich habe es Dir nie erzählt. Du hast keine Geheimnisse vor mir, aber ich habe einen Teil von mir weggesperrt, schon immer. Einen Teil von mir, der an der Wand zu kratzen begann, als dieser neue Krieg ausbrach, der heulte und hinauswollte, als Du weggelaufen bist, um Dich mit Deinem Soldaten zu treffen.
Ich hätte Dir beibringen sollen, wie man sein Herz dagegen wappnet. Hätte Dir beibringen sollen, dass ein Brief nicht immer nur ein Brief ist. Worte auf Papier können die Seele durchdringen. Wenn Du nur wüsstest.
Mutter