5. Kapitel
Elspeth
Chicago, Illinois, USA, 17. Juni 1913
Liebe Sue,
ich bin fertig!
Es tut mir leid, dass ich so lange mit der Antwort gewartet habe, aber ich wollte Ihnen schreiben können, dass ich mit allem ganz und gar durch bin. Was für ein Luxus, dass ich mich jetzt hinsetzen und einen Brief schreiben kann, ohne dass mich ein Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch anstarrt! Stattdessen sitze ich im Haus meiner Eltern, bei offenen Fenstern, der warme Sommerwind weht durch die Spitzengardinen, und ich sehe nichts Vorwurfsvolleres als die Chicago Tribune. Einfach zurücklehnen, kühle Limonade trinken und an Sie schreiben – der pure Genuss!
Sie werden ziemlich stolz auf mich sein, wie ich glaube. Ich habe nämlich meinem Vater die Wahrheit gesagt. Sie werden sich fragen, woher ich den Mut genommen habe. Ganz einfach: indem ich meine Prüfungen nur gerade so bestanden habe! Er hat einen Blick auf meine Noten geworfen und die Nase gerümpft. »Erwartest du etwa, mit diesen Noten zum Medizinstudium zugelassen zu werden?«, wollte er wissen. »Das erwarte ich nicht. Ich erwarte es nicht, und es ist mir im Übrigen auch egal.« Er verschluckte sich fast an seinem Morgenkaffee. »Was soll das heißen, es ist dir egal?« »Genau das, was ich sage, Vater. Ich wollte nie Medizin studieren. Und jetzt ist es zu spät, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.« Er stand auf, schob seinen Stuhl mit einem Knall an den Tisch und hat seither nicht mit mir gesprochen. Ich glaube, ich habe es nur meiner Mutter zu verdanken, dass er mich nicht aus dem Haus geworfen hat.
Meine Schwester verbringt den Sommer hier bei meinen Eltern, wodurch ich mit der schlechten Laune meines Vaters besser umgehen und mehr Zeit mit meiner Nichte Florence verbringen kann. Im Wohnzimmer gibt es ein Fleckchen am Fenster, auf das am Nachmittag das Sonnenlicht fällt. Florence und ich sitzen dann in diesem Lichtkreis und beobachten einander. Wenn sie es müde wird, mich aus großen blauen Augen anzuschauen, kriecht sie auf meinen Schoß, zieht an meinen Hosenträgern und bettelt: »Onkel Day! Schichte, bitte.« Wie kann ich da widerstehen? Ich erzähle ihr ein Märchen und sehe zu, wie ihre Augen an den unheimlichen Stellen ganz groß werden und die äußeren Winkel sich nach oben kräuseln, wenn sie lacht. Es ist wunderbar, die unverfälschten Gefühle im Gesicht eines Kindes zu betrachten. Kein Versuch, sie zu verbergen oder als etwas anderes zu verkleiden. Wir werden dicke Freunde, meine Nichte und ich, das weiß ich jetzt schon.
Noch eine Neuigkeit: Ich habe ein Mädchen kennengelernt. Lara. Sie ist wirklich nett, studiert deutsche Literatur. Wir sind uns auf einer Party begegnet, einer dieser langweiligen gesellschaftlichen Veranstaltungen, die man gelegentlich besuchen muss. Ich bin nur hingegangen, um meiner Mutter eine Freude zu machen. Dort habe ich Lara getroffen, und nachdem wir uns eine Zeit lang unterhalten hatten, stellte ich fest, dass sie meine Eltern kennt. Eine dieser Bekanntschaften um drei Ecken – ihre Mutter spielt mit der besten Freundin von Mutters Tante Vivian Bridge oder irgend so ein Unsinn. Wie immer die Bekanntschaft auch sein mag, meine Mutter ist damit einverstanden.
Sie sehen, es läuft im Augenblick sehr gut für mich. Zwei Mädchen in meinem Leben, ein Zimmer für mich allein und keine Prüfungen mehr!
O ja, der Abend, an dem ich die Eichhörnchen im Frauenwohnheim ausgesetzt habe, ist ein Klassiker! Können Sie sich eine bessere Kombination vorstellen als eine gefährliche Kletterpartie, einen Trupp orientierungsloser Eichhörnchen und kreischende, mehr oder weniger entkleidete Frauen? Allerdings enden diese Eskapaden nicht immer im Krankenhaus. Aber die Möglichkeit, dass es passieren könnte, macht diese Streiche für mich so reizvoll.
Daher kommt übrigens auch mein Spitzname. Die Jungs nennen mich »Mort«, da sie davon überzeugt sind, dass meine Mätzchen irgendwann die Mortalitätsrate in Illinois erhöhen. Nett von ihnen, was?
Wie steht es denn bei Ihnen auf Skye? Sie müssen glücklich sein, nun, da der Schnee getaut ist. Ich kann mir vorstellen, wie Sie in Ihrer Hose und dem Hut fröhlich über die Hügel wandern, unter einem Arm das Notizbuch, den Stift hinters Ohr geklemmt. Ach, der Sommer!
Sie haben mein Alter übrigens falsch geschätzt. Ich bin schon einundzwanzig! Jetzt sehen Sie, weshalb ich so wild auf den Schnurrbart war …
Entspannt und weiterhin entspannend
David
PS Hier ist ein Foto von mir in Talar und Barett. Der stolze Schössling neben mir ist Paulie. Der Baum und ich haben wie durch ein Wunder das Jahr überstanden!
Isle of Skye, 7. Juli 1913
Lieber David,
Sie klingen so überschwänglich! Ich weiß gar nicht, wer stolzer oder gerader dasteht – Sie oder der Baum. Ich bin froh, dass es sich so gut für Sie anlässt.
Ihre Nichte scheint wunderbar zu sein, und Sie haben Glück, dass Sie so viel Zeit mit ihr verbringen können. Mein Bruder Alasdair ist vor einigen Jahren gestorben, und seine Witwe ist mit den Kindern nach Edinburgh gezogen. Seither habe ich Chrissie, meine Nichte und die Neffen nicht mehr gesehen. Meine beiden anderen Brüder, Finlay und Willie, leben noch zu Hause, dort sind noch keine Kinder zu erwarten (das hofft Màthair jedenfalls). Finlay hat allerdings ein Mädchen, mit dem es ihm ziemlich ernst ist, es wird vielleicht nicht mehr so lange dauern. Kate ist ein süßes Ding; wir drücken alle die Daumen.
Womit verbringen Sie Ihre Zeit, wenn nicht mit dem Medizinstudium? Haben Sie sich schon den Ballets Russes angeschlossen? Oder Kornett spielen gelernt? Den großen amerikanischen Roman begonnen?
Ich bin mir sicher, dass es viel leichter ist, eine Liebste zu haben, wenn Sie abends nicht mehr lernen müssen. Sie haben geschrieben, dass Lara die Universität besucht. Ist das bei amerikanischen Frauen üblich? Alle Mädchen, mit denen ich zur Schule gegangen bin, haben nur daran gedacht, zu heiraten, Vorhänge auszusuchen und zehn oder zwölf Jahre Unterricht aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie hielten mich für völlig verrückt, weil ich Bücher lesen wollte, die nicht im Lehrplan standen, von einem Studium ganz zu schweigen.
Elspeth
Chicago, Illinois, USA, 27. Juli 1913
Liebe Sue,
nein, ich habe mich nicht den Ballets Russes angeschlossen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich jetzt anfangen soll. Ich muss zugeben, es war schon auch ziemlich beruhigend, dass mein Vater meine ganze Zukunft geplant hatte. Ich habe die Stellenangebote in der Zeitung gelesen und mich gefragt, was ich eigentlich machen möchte. Ich bin mir nicht einmal sicher, welche Richtung ich einschlagen soll. Meine Mutter hält es für würdelos, in der Zeitung nach Arbeit zu suchen, und hat sich auf ihren BridgePartys diskret nach etwas »Respektablem« umgehört.
Nein, ich glaube, es ist nicht sehr üblich, dass Frauen studieren. An der University of Illinois gab es Studentinnen, aber nicht viele und vor allem nicht in Biologie. Obwohl sie die Universität besuchten, schienen sie sich auf weibliche Fächer wie moderne Sprachen, Literatur und Hauswirtschaft zu beschränken. Keine einzige Geologin, tut mir leid!
David
Isle of Skye, 14. August 1913
Mein lieber David,
warum sind Fächer wie Sprachen und Literatur eigentlich »weiblich«? Ich will Sie nicht kritisieren, David, immerhin haben Sie nur eine allgemeine Wahrheit wiederholt – wenn auch eine fragwürdige. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Frauen Berufe ausüben können, die ihnen früher verwehrt waren. Obwohl es noch immer wenige sind, haben Frauen ihr Können als Ärztinnen, Wissenschaftlerinnen und Geschäftsfrauen unter Beweis gestellt. Warum drängen nicht mehr Frauen hinein, nun, da ihnen die Türen offen stehen? Stattdessen werden sie häuslich und sagen: »Wer will denn schon wie Marie Curie den Nobelpreis gewinnen? Es ist doch viel befriedigender, wenn man lernt, wie man ein Huhn vor dem Braten ausnimmt.« Natürlich sollte jeder Mensch seinen eigenen Interessen nachgehen, und vielleicht gibt es Frauen, die wirklich nichts lieber lernen möchten als das Ausnehmen von Hühnern oder Hauswirtschaft. Aber weshalb ist eine Frau, die Chemie oder Geologie studiert hat, weniger als Gefährtin geeignet als eine Frau, die Literatur studiert hat? Ich bin keine Suffragette, aber wenn es um Frauen und Bildung geht, werde ich wütend.
Elspeth
Chicago, Illinois, USA, 4. September 1913
Liebe Sue,
endlich habe ich bezahlte Arbeit gefunden! Ich habe mir eine Stelle als Lehrer für Biologie und Chemie an einer Privatschule hier in Chicago gesucht. Lara sagt, dass bis zum Ende des Schuljahres alle Mädchen in mich verliebt sein werden und alle Jungs mich als Kumpel werden haben wollen.
Mir fällt keine gute Erklärung dafür ein, weshalb manche Studienfächer als »weiblich« gelten. Sie haben recht, wir bewegen uns allmählich in aufgeklärteren Zeiten, sind aber noch weit vom Ziel entfernt. Wenn es erst mehr gemischte Universitäten gibt, kann eine Frau studieren, was immer ihr gefällt. Sie kann sogar eine »radikal« neue Stelle finden und als Wissenschaftlerin oder Akademikerin arbeiten. Aber nur unter der Voraussetzung – oder mit der Erwartung –, dass sie alles aufgibt, sobald sie Mutter wird. Gleichheit und Bildung müssen immer hinter der Mutterschaft zurückstehen.
Nun scheint es so, als wären Frauen viel besser geeignet, um Kinder aufzuziehen. Gott weiß, mein eigener Vater hätte ein furchtbares Chaos angerichtet, wenn er für uns verantwortlich gewesen wäre. Aber Kinder werden groß und ziehen weg. Weshalb sollte eine Frau später im Leben nicht in der Lage sein, einen Beruf auszuüben?
Sue, Sie haben gute Argumente. Ich wünsche mir jedenfalls eine Frau, die über interessantere Dinge sprechen kann als das Braten von Hühnern. Eine Frau, die die gleichen Bücher liest wie ich und sich die gleichen Fragen stellt. Oder sogar jemanden, der völlig anders denkt als ich, aber eine lebhafte Debatte schätzt und mich dennoch liebt.
David
Isle of Skye, 30. September 1913
David,
was, bitte schön, führt Sie zu der Annahme, dass Frauen besser Kinder aufziehen können? Es hört sich an, als würde Ihre Nichte Sie vergöttern, also machen Sie mit dem Kind irgendetwas richtig. Vertrauen Sie nicht auf Ihre Fähigkeit, Kinder aufzuziehen und länger für sie zu sorgen, als es dauert, ein Märchen zu erzählen?
Elspeth
Chicago, Illinois, USA, 17. Oktober 1913
Liebe Sue,
würden Sie mir nicht zustimmen, dass Frauen die angeborene Fähigkeit besitzen, Mutter zu sein? Ich bin mir nicht sicher, was genau es ist. Frauen sind viel selbstloser als Männer. Sie sind geduldig und großzügig. Eine Frau kann alle Abschlüsse der Welt in Hauswirtschaft haben, ist aber selbst ohne Studium in der Lage, einen Haushalt zu führen und Mutter zu werden.
David
Isle of Skye, 31. Oktober 1913
David,
Ihre Briefe entwickeln sich von nur ärgerlich hin zu regelrecht empörend. Es gibt keine angeborene Fähigkeit, die uns zu Ehefrauen, Müttern oder Hausfrauen macht. Werden wir mit einer besonderen Eigenschaft geboren, die uns zum Kochen oder Sockenstopfen befähigt? Meinen Sie, der Allmächtige hätte in weiser Voraussicht dessen, was man im 20. Jahrhundert von einer Hausfrau erwartet, einen ganz bestimmten Teil ihres Gehirns fürs Pastetenbacken reserviert? Denn ich sage Ihnen, ich kann nichts davon. Weder kochen noch Pasteten backen und schon gar nicht Socken stopfen. Vielleicht wurde ich mit einem halben Gehirn geboren, in dem ein wichtiger Teil fehlt. Wollen Sie das damit andeuten?
Sie sagen, dass Frauen, vor allem Mütter, selbstlos sein müssen. Diese Eigenschaft ist nicht angeboren, und doch setzt man sie voraus. Niemand missgönnt einem Mann sein Bier nach einem langen Arbeitstag oder die Gelegenheit, die Füße vor dem Kaminfeuer hochzulegen, oder auch nur die Möglichkeit, morgens die Zeitung zu lesen. Wenn eine Mutter hingegen eine Stunde spazieren gehen oder in Ruhe ihren Tee trinken oder (Gott behüte) eine Freundin besuchen möchte, gibt es einen empörten Aufschrei. Mütter müssen immer bei ihren Kindern sein wollen. Sie müssen gänzlich selbstlos sein. Eine gute Mutter würde niemals das letzte Stück Kuchen essen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Kinder haben möchte. So selbstlos kann ich nicht sein. Wenn ich einen Knirps hätte, der sich ständig an meine Beine klammert, könnte ich nicht durch die Berge streifen. Ich könnte nicht stundenlang dasitzen und auf die Wellen schauen und Gedichte schreiben. Ich könnte mich nicht darauf beschränken, nur Würstchen und Christmas pudding zu machen. Ich könnte nicht lange aufbleiben und beobachten, wie sich die Sterne über den Himmel bewegen, oder früh aufstehen, um über die Hügel zu laufen, bis die Sonne über dem Horizont explodiert. Sie können mir nicht weismachen, dass all das mit Kindern im Schlepptau möglich wäre. Und ich würde ganz gewiss nicht auf das letzte Stück Kuchen verzichten.
Unabhängigkeit macht Frauen gierig.
Elspeth