6. Kapitel

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Margaret

Edinburgh, Freitag, 19. Juli 1940

Lieber Paul,

sie ist weg.

Am Morgen, nachdem die Bombe gefallen war, bin ich nach Hause gegangen, um mich mit ihr zu versöhnen. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und an unseren Streit gedacht und wie sie mich weggestoßen hatte, nachdem die Briefe aus dem Loch in der Wand gefallen waren.

Doch als ich in die Wohnung kam, war sie leer. Die Täfelung klaffte noch offen, alle Briefe waren verschwunden. Und meine beiden Koffer.

Meine Mutter, die das Haus nie länger als ein paar Stunden verlassen hat, hat gepackt und ist verschwunden. Und ich habe keine Ahnung, wo sie ist.

Ich war bei den Nachbarn. Habe in der Bücherei nachgesehen. Ich bin dreimal durch den Holyrood Park gelaufen. Ich war sogar in der St. Mary’s Cathedral, weil ich nicht ausschließen konnte, dass sie sich mitsamt den Koffern voller Briefe in ihre übliche Bank gesetzt hatte. Doch niemand hatte sie gesehen. Dann ging ich zur Waverley Station. Ich war mir sicher, dass sie dort auf einer Bank saß und versuchte, genügend Mut zu fassen, um in einen Zug zu steigen. Aber nein. Auch dort war sie nicht.

Jetzt bin ich wieder in der leeren Wohnung und weiß nicht, ob ich mir Sorgen machen muss. Wenn sie einen kleinen Urlaub machen möchte, ist das ihr gutes Recht. Sie kann auf sich selbst aufpassen. Doch, Paul, wie sie mich gestern Abend angesehen hat. Ihre Augen wirkten gehetzt. Sie sah irgendwie besiegt aus, als sie so auf dem Boden saß. Ich mag zwar nicht wissen, wo sie ist, bin mir aber sicher, dass sie nicht einfach Ferien am Meer macht. Wo immer sie hingefahren ist, sie hat ein Ziel. Sie jagt hinter etwas her. Erinnerungen, Bedauern, ihrer Vergangenheit. Ich weiß es nicht.

Ich weiß nur eins: Es hat mit dem Brief eines Amerikaners an eine Frau namens Sue zu tun. Ich habe immer gern Geheimnissen nachgespürt. Soll ich?

In Liebe

Margaret

21. Juli 1940

Liebste Maisie,

ich hoffe, Du liest diesen Brief, bevor Du Dich ins Abenteuer stürzt. Du wolltest schon immer Detektivin werden. Weißt Du noch, wie wir im Zwielicht durch den Meadows-Park gekrochen sind, auf der Suche nach dem Hund von Baskerville? Wir waren noch solche Kinder damals.

Ich wünschte, ich könnte auch Abenteuer erleben, aber ich sitze hier fest, bis mein Handgelenk verheilt ist. Statt zu fliegen, lungere ich auf dem Flugplatz herum. Darf ich Dein Watson sein?

Ich hoffe allerdings, dass Deine Detektivarbeit Dich weit weg von Edinburgh führt, wo es sicherer ist. Granny hat die Luftangriffe nie erwähnt. Aber so, wie ich sie kenne, hat sie draußen vor dem Haus gestanden und die Fäuste geschüttelt, als die Deutschen über sie hinwegflogen. Nun, da ich weiß, dass Bomben fallen, wo wir früher Schlagball gespielt haben, möchte ich Dich am liebsten ganz weit wegschicken.

Vielleicht hatte Deine Mam die gleiche Idee. Mach Dir keine Sorgen um sie, Maisie. Sie ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie meine Gran. Es geht ihr sicher gut.

Pass auf Dich auf, mein süßes Mädchen.

Der Deine

Paul

Edinburgh, Mittwoch, 24. Juli 1940

Lieber Paul,

ich dachte, wenn jemand etwas über Mutters »vergriffenen ersten Band« wissen könnte, dann meine Cousine Emily. Sie kennt Mutter länger als ich. Ich nahm den vergilbten Brief mit zu ihr, und sie erzählte mir beim Waschen, was sie wusste. Leider ist das nicht viel.

Sie kann sich erinnern, wie sie während des letzten Krieges bei Mutter gewohnt hat. Tante Chrissie hatte die Kinder nach einem Zeppelinangriff aus der Stadt weggeschickt. Selbst damals gab es schon Evakuierungen. In ihrem Fall bis auf die Isle of Skye.

Ich kann noch immer nicht glauben, dass meine Mutter, die niemals aus Edinburgh hinausgekommen ist, früher auf den Hebriden gelebt hat! Es ist kein Geheimnis – sie hat mir erzählt, wie sie dort aufgewachsen und auf der Suche nach Feen durch die Böschungen gehüpft ist –, aber ich habe sie mir immer als eingefleischte Edinburgherin vorgestellt. Doch sie hat ihre Kindheit und Jugend dort verbracht. Daher ist es nicht wirklich seltsam, dass sie diesen Brief bei sich trug.

Es gab irgendeinen Skandal mit einem Mädchen und unseren beiden Onkeln. Vielleicht hieß dieses Mädchen Sue? Emily konnte sich nicht daran erinnern. Und ich kann meiner Großmutter nicht schreiben und sie fragen, weil sie nur Gälisch versteht. Emily schlug vor, mich bei unserem Onkel Finlay danach zu erkundigen.

Ich weiß, dass meine Mutter drei Brüder hatte (noch zwei, nachdem Emilys Vater gestorben war), aber sie hat nie viel von ihnen erzählt. Nur dass Alasdair der Kluge, Willie der Freche und Finlay derjenige war, der etwas verlor und nie zurückkehrte. Das wollte Mutter nie genauer erklären. Nur dass Finlay eines Tages seinen Zorn nicht mehr beherrschen konnte und weggegangen ist.

Emily erfuhr nur durch Zufall, dass Finlay in Glasgow lebt, denn niemand wusste, wohin er von Skye aus gegangen war. Vor einigen Jahren ging sie in Glasgow einkaufen und bemerkte dabei einen Mann, der genauso aussah wie ihr Vater. Er war gestorben, als sie noch klein war, doch Tante Chrissie hatte immer ein Hochzeitsfoto neben dem Bett gehabt. Emily folgte dem Mann und rief aus einer Laune heraus den Namen ihres Vaters. Entsetzt stellte sie fest, dass er Alasdairs jüngerer Bruder war. Doch die Begegnung verlief nicht herzlich. Onkel Finlay gab ihr die Hand, äußerte ein paar Allgemeinplätze, trug ihr Grüße auf und ging seines Weges. Wäre Emily nicht sofort in eine Telefonzelle gelaufen und hätte seine Adresse in Glasgow nachgeschlagen, wäre Onkel Finlay seiner Familie erneut verloren gegangen.

Ich bin froh, dass sie neugierig war. Sonst hätte ich kaum die Gelegenheit, einem Onkel zu schreiben, von dessen Existenz ich bislang nichts wusste. Einem unangenehmen Onkel obendrein, wenn ich den Gerüchten glauben darf. Wünsch mir Glück!

In Liebe

Margaret