AM 11. MÄRZ 2011 WURDE DIE Ostküste der japanischen Hauptinsel von einem Erdbeben der Stärke 9 getroffen. Ein Tsunami folgte. Am Tag bevor ich aus Tokio ins Katastrophengebiet aufbrach, summierten sich die Opferzahlen wie folgt: 12 175 Tote; 15 489 Vermisste; 2 858 Verletzte.7 Zufällig befanden sich zwei Atomkraftwerke der Tokyo Electric Power Company (kurz: Tepco) im betroffenen Gebiet. Das Atomkraftwerk Fukushima Nr. 1 mit sechs Reaktorblöcken wies nach der Katastrophe mehr Risse und Lecks auf als sein Gegenstück ein paar Kilometer südlich. Am 26. März gab das Wasser im Reaktorblock Zwei des Kraftwerks Nr. 1 mindestens ein Sievert radioaktiver Strahlung pro Stunde ab.8 Bei dieser Menge hätte ein Mensch seine 5-Rem-Dosis in etwa drei Minuten weg.

Die Lage schien wenig verheißungsvoll, umso mehr, als ich in Japan nicht der einzige Ignorant war:

27. März:

Frage: Woher kam dieses radioaktive Wasser?

Antwort: Kraftwerkverantwortliche und Beamte der Regierungsaufsicht sagen, sie wissen es nicht.9

3. April:

Bis Samstagnachmittag stand nicht fest, wie lange Wasser ausgetreten ist und um wie viel es sich handelt.10

Vor meiner Abreise nach Japan hatte Peter Bradford, ein ehemaliges Mitglied der amerikanischen Atomaufsichtsbehörde, der heute im Kuratorium der Union of Concerned Scientists saß, mir gesagt: »Es beunruhigt mich zunehmend, dass die Öffentlichkeit in Japan keine genauen Informationen erhält. In der ersten Woche habe ich geglaubt, die japanische Regierung sei mit gutem Grund vorsichtig. In der dritten Woche mehren sich die Anzeichen dafür, dass Einzelheiten zurückgehalten werden. Gerade jetzt gibt es da erstens die extrem hohen Strahlungsmesswerte, die als fehlerhaft bezeichnet wurden, und zweitens die Entdeckung von Jod-134, das eine sehr kurze Halbwertszeit hat und nur bei einer Rekritikalität auftreten kann, und auch da wurde von einem Fehler gesprochen. Das macht schon zwei Fehler.«

»Was wäre der schlimmste Fall?«

»Wenn es in einem der Reaktorkerne zu einer kritischen Reaktion käme, zu einer Nuklearexplosion, auch wenn sie klein wäre.«

»Ein wie großer Teil Japans würde unbewohnbar werden?«

»Das ist schwer zu sagen. Hängt ganz vom Wind ab. Bisher hatten die Japaner Glück, weil der Wind aus Westen kam, nach Osten aufs Meer hinaus.«

 

 

WARUM DIESEM ESSAY DIE STATISTIKEN FEHLEN

 

Obwohl meine Akkreditierung als Journalist die wenigen Japaner, die sich für dieses Dokument interessierten, davon in Kenntnis setzte, dass es zu meinen Aufgaben gehöre, »für unsere Publikation Individuen und Beamte zu interviewen«, sah ich es nicht als meine Aufgabe an, Zahlen zu Opfern, Strahlungsintensität etc. zu sammeln, die sehr wohl gefälscht sein konnten und gewiss bald überholt sein würden. (Die atemberaubende Fähigkeit des japanischen Beamten, rein gar nichts zu sagen, wird nur vom absurden Ausmaß des Vertrauens übertroffen, das die Öffentlichkeit in ihn setzt; während das zynische Misstrauen der US-amerikanischen Wählerschaft ihre perfekte Entsprechung in der selbstgefälligen, manchmal vollmundigen Unaufrichtigkeit ihrer Amtsträger findet.)

Ich konnte mir außerdem nicht vorstellen, dass »Experten« mehr zu den wirklich gravierenden Fragen zu sagen hätten, die diese fortdauernde Tragödie aufwarf, als die unmittelbar Betroffenen. Schließlich konnte ich auch keinen Nutzen darin erkennen, die Menschen aufzuspüren, deren emotionales Leid am größten war. Sie werden sehen, dass meine Interviewpartner, bei allen materiellen Verwüstungen, relativ viel »Glück« gehabt haben. Nur die Familie in Ishinomaki hatte eines ihrer Mitglieder verloren – bisher. Die Auswahl war kaum das Ergebnis meines gezielten Vorgehens, vielmehr die Folge der Tatsache, dass, wer nicht um einen Angehörigen trauert, sein Herz einem Fremden eher öffnet; es war also wahrscheinlicher, dass ich solchen Menschen begegnete.

Wie vorsichtig und behutsam ich mir mein Vorgehen auch dachte, unanfechtbar machte es mich nicht. Meine Dolmetscherin, die mir seit vielen Jahren nahestand, war so reizbar und lustlos, wie ich sie nie erlebt hatte; sie gab zu, dass sie deprimiert war, ganz zu schweigen von ihrem Zorn auf Tepco und ihre Regierung. Ihre Kusine, die mir nie begegnet war, ging davon aus, dass ich keinen Schaden anrichten könnte, und ermahnte mich daher, a) niemanden ohne einen japanischen Beistand zu interviewen, einen Vermittler; b) meine Interviewpartner zu Anfang jedes Gesprächs aufzufordern, unliebsame Fragen nicht zu beantworten; und vor allem c) zu zahlen, zahlen, zahlen. Ich hatte immer geglaubt, dass ich genau das tat, wann immer ich Japan besuchte; ich war gewöhnt, nagelneue Zehntausend-Yen-Scheine in »Erkenntlichkeitsumschläge« zu stecken. Früher waren das etwas über 80 US-Dollar; heute waren es 125. Ich war bereit, diesen Betrag weiter auszuzahlen, besonders an Menschen in Not; meine Dolmetscherin und ihre Kusine jedoch fanden eine so kleine Summe »undenkbar«. Sie erwarteten, dass ich wenigstens 40 000 bis 50 000 Yen zahlte. Ich schaltete auf stur und forderte die Dolmetscherin auf, ihr Herz zu öffnen und auf die Beträge in meinen Umschlägen draufzulegen, was immer sie wollte, was sie auch tat, nicht ohne stummen Groll; ich bin sicher, sie hat bestimmt ihren gesamten Verdienst ausgegeben. Wir ließen es dann bei unserem Dissens. Mit diesem hässlichen Zwischenfall begann unsere Arbeit.

An jenem Tag und allen folgenden hatte ich immer das Dosimeter im Blick und las es vielleicht öfter ab als nötig, aber ich konnte nicht wissen, wie bekömmlich die Luft von Stunde zu Stunde sein würde. Tatsächlich zeigte das Display 0,1-Millirem-Schritte an; es gab nichts dazwischen. In San Francisco hatte es, wie gesagt, ungefähr alle 24 Stunden ebenjene 0,1 Millirem registriert, wobei die Anzeige sich irgendwann in der Nacht änderte. Auf dem Flug nach Japan wurde ich mit 1,2 Millirem belohnt, der kürzere Rückflug sollte es auf 0,8 bringen; beides ließ sich auf etwa ein Millirem pro Stunde umrechnen. In Tokio glichen die Strahlungswerte im Wesentlichen jenen in San Francisco, was mich für mich und all meine Mitmenschen freute.

Um sechs Uhr früh betrug der kumulierte Messwert 1,5. Mein Bus fuhr um acht in Tokio ab. Ich befand mich, sagen wir, 230 Kilometer vom Reaktor entfernt.11 Die Pflaumenbäume blühten bereits; im Süden dürfte schon die Kirschblüte eingesetzt haben. Kurz vor zwölf hielten wir zum Mittagessen in Koriyama, 58 Kilometer vom Gefahrenort entfernt, das von Bergen umstandene Land öffnete sich, die Reisfelder waren strohgelb (ein Monat noch bis zur Pflanzzeit), und auf den Gipfeln im Westen glänzte der Schnee; da schaltete die Anzeige um auf 1,6. Wir hatten die Region Tohoku erreicht, von meiner Dolmetscherin Japans Kornkammer genannt, wobei sie hinzufügte: »Ich mache mir solche Sorgen um die Zukunft.« Im Restaurant mit angeschlossenem Laden waren viele Artikel ausverkauft. Hier machten sich auch die japanischen Verteidigungsstreitkräfte bemerkbar; die Soldaten trugen flache Kappen oder Schutzhelme. Wir setzten unsere Reise nach Norden fort, bis wir uns auf der Höhe von Kraftwerk Nr. 1 befanden, dann fuhren wir weiter und erreichten am Nachmittag Sendai (208 Kilometer vom bösen Ort entfernt). Dem Dosimeter nach schätzte ich, dass die Strahlung in Koriyama mindestens doppelt so hoch sein musste wie in Tokio, was ich bei meiner Rückkehr dorthin überprüfen wollte, sobald der ungefährlichere Teil meiner Arbeit abgeschlossen wäre.

In Tokio waren die Belastungen durch die Katastrophe kaum noch zu bemerken: hier und da ein Stromausfall, Mangel an Windeln und Hygienetüchern, die man den Verwandten im Notstandsgebiet schickte. Was Sendai anging – dort verbesserte sich die Lage; der Flughafen war zwar noch nicht wieder geöffnet, Gas zum Heizen war weiterhin nicht zu haben, und Milch, Joghurt, Eier und Zigaretten waren knapp, aber wenigstens hatte es mit der zweistündigen Wartezeit an den Tankstellen ein Ende, und es gab wieder Strom. Die Innenstadt wirkte unberührt, solange man nicht umherspazierte und auf die Warnschilder an diesem oder jenem Gebäude stieß.

Ich nahm mir ein Taxi in das Wakabayashi-Viertel von Sendai, das schwerer betroffen war.

»Ich hatte Dienst und war auf Tour«, sagte der Fahrer, der Sato Masayoshi hieß.12 »Ich hatte keine Fahrgäste. Ich hörte die Erdbebenwarnung im Radio. Ich suchte mir einen freien Platz zum Parken, weil die Häuser schwankten. Man konnte nicht stehen! Ich hockte auf dem Mittelstreifen. Es dauerte gute zwei Minuten, eine Bewegung von Osten nach Süden und zurück, seitwärts.13 Als die Erschütterungen nachließen, stieg ich aus dem Taxi, versuchte es mit meinem Handy, das kein Netz hatte, und rief dann aus einer Telefonzelle bei meiner Familie an. Es klingelte und klingelte, aber niemand nahm ab. Also bin ich zum Büro gefahren, bekam die Erlaubnis, mir frei zu nehmen, und bin schnell nach Hause. Die Verkehrsstaus waren schrecklich, aber ansonsten ging es allen gut. Wir hatten drei Tage lang keinen Strom. Meine Enkelkinder fanden das lustig.«

Er zeigte mit dem Finger. »Da drüben, das ist das Restaurant, das so gewackelt hat. Und sehen Sie, die Tankstelle! Die Decke ist eingestürzt …«

»Ist der Tsunami bis hierher gekommen?«

»Nein, das war alles das Beben.«

»Was war Ihre Meinung, als Sie das erste Mal von dem Reaktorunfall gehört haben?«

»Sendai ist 80 oder 90 Kilometer vom Kraftwerk entfernt,14 also machte ich mir keine großen Sorgen. Um diese Jahreszeit haben wir ablandigen Wind, aufs Meer hinaus. Wenn der Wind auf Süd dreht, dann wird es schwierig. Sie müssen das stark kontaminierte Wasser ablassen, heißt es …«

Dieses Wort bekam ich oft zu hören: kontaminiert. Es klang weniger furchterregend als radioaktiv.

»Wie stark ist das Meer vor Sendai kontaminiert?«

»Ich glaube nicht, dass sie das schon gemessen haben.«

Ich blickte auf das Dosimeter in meiner Hemdtasche hinab und freute mich, dass es noch immer 1,6 anzeigte. Wir kamen zu einem Schuppen, der aus dem Fundament gerissen worden war. Ich fotografierte ihn, und dann sagte der Fahrer mit einem Unterton der Entrüstung: »Heute, ein Fischerboot in Chosi Port,15 man hat ihren Fang zurückgewiesen, ohne jede Inspektion!«

Ich fragte mich laut, ob Fisch und Aale und Nahrungsmittel dieser Art jetzt vielleicht gefährlich seien. Der Fahrer wollte nicht genauer darüber nachdenken oder vielleicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen und verkündete wie ein Reiseführer: »Und jetzt biegen wir rechts ab und fahren an eine Stelle, wo die Häuser weg sind. Links haben wir hier eine größere Straße. An manchen Stellen hat sie das Wasser aufgehalten. Von den Menschen, die auf den Straßendamm hinaufgelaufen sind, haben einige überlebt.«

»Haben Sie Angst vor dem nächsten Beben?«

»Das Miyagi-Beben von 1978 ist lange her. Dieses letzte war nicht das, von dem die Experten geredet hatten. Die Menschen reden über das nächste; ja, vielleicht kommt wieder eins … Hier ist das Wasser gekommen«, fuhr er fort und wies über die mit umgestürzten Bäumen und Baumstümpfen gesprenkelte Schlammwüste. »Fünf oder sechs Jahre lang wird man hier nichts mehr anbauen können, wegen des Salzwassers. Sie haben Sojabohnen gezogen.«

Eine umgestürzte Kiefer, Kabel, Schlammhaufen, verbogene Rohre, Eisenroste, umgekippte Masten, so dick wie meine Schulter, diese traurigen und hässlichen Dinge tauchten gleichförmig bis an den Schlammhorizont immer wieder auf. Auf einer Seite der Straße waren die früheren Felder mit Meerwasser überflutet. Auf der anderen, am Rand von schwappendem Schlick (frühere Reisfelder), stützte ein zweigeschossiges Haus ohne Fenster, aber offenbar intakt, ein zweites, das es dagegen geschleudert hatte, das Dach verdreht wie Teile einer zerstörten Panzerung; beide Gebäude erstickten im Müll. Eine Einheit von Angehörigen der Selbstverteidigungsstreitkräfte aus Hokkaido mit Schutzbrillen, geflochtenen Gürteln, Stiefeln und Tarnanzügen nahmen die beiden Häuser auf der Suche nach Leichen auseinander. Der Spruch, den man oft auf ihren Helmen sah, lautete: »Kopf hoch, Sendai!«

Vom Meer wehte eine kühle Brise; ich fragte mich, ob sie mit verstrahlten Teilchen vergiftet war. Wie auch immer, mein Dosimeter zeigte noch immer 1,6 an. Auf allen Grundstücken wahrten Müllhaufen, die einmal Häuser gewesen waren, ihre Geheimnisse. Allein in dieser Präfektur waren 7 800 Menschen ums Leben gekommen, den aktuellen Zahlen zufolge. Hier kam ein Zivilist auf einem Fahrrad, ernst und hager, fuhr auf dem Feldweg an uns vorüber, hinab zwischen die Häuserstümpfe; er suchte wohl nach seinem Haus. Langsam, während die Soldaten herumstanden, öffnete und schloss sich die Klaue des Baggers und zog einen Haufen knackender Baumstümpfe hervor. Ein junger Soldat informierte mich, man habe noch keine Leichen gefunden. Als ich ihn fotografierte, stand er stramm. Die Strahlung mache ihm keine Angst, sagte er; die Wahrscheinlichkeit, dass sie bis hierher komme, sei gering.

Das mit Müll übersäte Flachland lässt sich nur schwer beschreiben; alles war bis zur Bedeutungslosigkeit zermahlen, ein paar Fundamente konnte man noch sehen. Einer der Kollegen des Fahrers hatte hier gewohnt. Jetzt war er bei seinem Sohn untergekommen. Die Stadtviertel Okada, Gamo, Shiratori und Arahama waren verschwunden. Das ehemalige Altersheim war voller Schutt und entwurzelter Bäume. Die Bäume verrotteten schon, so dass sie die Häuserwände, an denen sie lehnten, durchdrangen wie fein gewobener Rattan, vollendet angepasst vom Webmeister und Polsterer namens Tod. Gelegentlich waren die leeren Tür- und Fensteröffnungen stabilerer Häuser mit blauer Plane abgeklebt. Wir fuhren langsam durch den Schlickgeruch nach Süden, in Richtung Natori-Fluss, vorbei an gekräuselten blauen und grauen Wasserflächen und einem Schild: Seaside Park Adventure Field.

»Mir fehlen die Worte«, sagte der Fahrer.

Wir sahen Schlamm und Schlick und glänzendes Wasser, ein Auto, bis zur Motorhaube im Wasser, einen Polizisten mit Schutzhelm, noch mehr umgestürzte Bäume, einen umgekippten Sportwagen; das Licht spielte währenddessen hübsch auf den Reisfeldern. An einer Stelle war die Straße unterspült; der Asphalt sah idiotisch aus, wie er so in der Luft hing.

»Sind die meisten Menschen ertrunken oder zerschmettert worden?«

»Ertrunken, glaube ich. Einige der Autos standen in einem Verkehrsstau. Ich weiß von einem, der auf eine Kiefer geklettert ist, um zu überleben. Es war schlau von ihm, sein Auto aufzugeben.«

Die kühle Luft kratzte mir im Hals wie Staub. Fahrer und Dolmetscherin trugen Mundschutz. Ich sorgte mich noch ein wenig wegen der Beta-Strahlung, beschloss aber, mich auf das Quadratabstandsgesetz zu verlassen, dem zufolge die Strahlung, grob gesagt, abnimmt, wenn sie sich von ihrer Quelle aus über eine größere Fläche ausbreitet. Die Natori-Brücke war mit einem Fass mit Schachbrettmuster abgesperrt worden. Mutlos stand ein Mann mit Leuchtstab und Schutzhelm neben einem blinkenden Polizeiwagen. Hinter ihm hatte es ein Boot seitlich in den Schlick gerammt.

»Fahrer, glauben Sie, Atomkraft ist klug oder unklug?«

»In dieser Präfektur gibt es drei Atomkraftwerke. Sie stehen höher als die von Tepco, ich glaube, das ist gut so.«

»Dann sind Sie für die Atomkraft?«

»Na ja, wegen des Treibhauseffekts sind Öl und Kohle nicht sauber, also glaube ich, Atomkraft ist gut, solange sie die Sicherheit garantieren.«

Eine alte Frau in Schlabberkleidern und mit einem flatternden Tuch stolperte die Straße entlang. Ein kleiner Friedhof tauchte auf, alle Grabsteine standen aufrecht, aber zwischen ihnen war Schlamm, widerwärtig aufgeworfen. Im Hafen schien der Messepalast von außen in gutem Zustand zu sein. Ein glitzernder Haufen Toyotas, die auf die Ausfuhr gewartet hatten, war zerschmettert worden. Der frische Lack auf den Autowracks bot einen seltsamen Anblick.

»Und was passiert in der anderen Jahreszeit, wenn der Südwind landeinwärts weht?«

»Nun, das kommt bei uns nicht so oft vor.«

»Einmal könnte genügen«, sagte ich.

»Das stimmt!«, sagte er mit einem Lachen.

 

 

SCHLEMMEN

 

Weil sich in Sendai Horden von Soldaten und Freiwilligen drängten (das gesamte Metropolitan Hotel war den Einsatzkräften zur Verfügung gestellt worden), kam ich an einer heißen Quelle unter, mehr als eine Busstunde vor der Stadt. Hier wohnten diverse bedauernswerte Angestellte der Osaka Gas Company, und morgens sah man draußen manchmal eine Lastwagenfuhre Soldaten. Das Hotel war halb leer, ein zweitklassiger Laden mit eingeschweißtem Sashimi. Aber der Inbrunst der zahlreichen Vorschriften musste man Bewunderung zollen. (»Ihrem Wunsch, die Bäder betrunken oder mit Tätowierungen am Körper zu besuchen, werden wir keinesfalls nachkommen.«)16 Die Kellnerin versicherte mir stolz, die Kost stamme so weit wie möglich aus der Umgebung, also packte mich beim Essen wieder die Wut auf Bob, den Händler, der mir einen Messstab versprochen, aber nie geliefert hatte, und natürlich auf Tepco; denn wie konnte ich wissen, wie karzinogen der Fisch war, ganz zu schweigen von der Beilage aus nicht mehr ganz frischem Salat oder der Krebsschere in der Suppe? Dass ich etwas zu essen hatte, während so viele andere hungern mussten, wusste ich sehr wohl zu schätzen; auch galt meine Sorge nicht mir selbst, denn als Mann in den Fünfzigern hatte man schon eine Art Sieg errungen; aber was war mit den schwangeren Frauen, den kleinen Kindern, den Menschen, vor denen noch Jahrzehnte lagen, auf die sie sich hätten freuen können? In den Worten der Zeitung von gestern: »Regierung hält Zahlen über Strahlung zurück: IAEA wird informiert, die Öffentlichkeit nicht.«

Im Hauptteil des Artikels erklärte ein ungenannter Sprecher des Wetteramts, die japanische Regierung treffe ihre eigenen Vorhersagen – dass man nur eine einzige herausgegeben habe, sei kein Problem, denn, wie ein Beamter namens Seiji Shioya erklärte, »das können wir nicht machen, sie sind zu ungenau«. Der ungenannte Sprecher merkte dann an: »Wenn die Regierung widersprüchliche Zahlen veröffentlicht, könnte das in der Gesellschaft zu Unruhe führen.«17 Operierten die offiziellen Statistiken deshalb mit unterschiedlichen Maßeinheiten, so dass das Trinkwasser in Koriyama für sicher erklärt wurde, da seine Radioaktivität unter 100 Becquerel liege, während die Zeitung die radioaktive Strahlung in dieser oder jener Stadt in Millisievert pro Stunde angab? Ich begegnete keinem Menschen, der wusste, was diese Zahlen bedeuteten. Wie praktisch! Und so schob ich mir mit meinen Stäbchen das nächste aufgetaute Stückchen Pferdemakrele in den Mund und fragte mich, wie unbedenklich es wohl war.

 

 

BEDÜRFNISSE DES AUGENBLICKS

 

Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, für mich war die Sache mit dem Reaktor die eigentliche Story. So traurig das Erdbeben und der Tsunami auch gewesen sein mochten, der Schaden war angerichtet, die Menschen waren tot und der Besitz vernichtet; nun konnte man sich bis zum nächsten Beben mit dem Wiederaufbau beschäftigen. Aber dieser andere Schrecken, verpackt in Becquerel, Sievert und Millirem, begann gerade erst, und niemand wusste, wie schlimm die Sache stand.

(Ich hatte Peter Bradford gefragt: »Könnte das hier in den Staaten passieren? Soweit ich weiß, haben wir ein paar Reaktoren des japanischen Typs.«

»Ich denke, die Wahrscheinlichkeit hängt weniger vom Reaktortyp ab als von der Tatsache, dass wir uns angesichts dessen, was man als Störfall der Stufe 7 bezeichnet hat, ebenso sehr in falscher Sicherheit wiegen wie die Japaner. Ich glaube nicht, dass wir weniger gefährdet sind als die Japaner.«)

Es mag unpassend sein, im Angesicht von Beben, Tsunami und damit einhergehender Reaktorkatastrophe die Worte Buddhas zu zitieren: »Nichts auf dieser Welt ist von Dauer; alles wandelt sich, ist flüchtig und unberechenbar. Aber die Menschen sind selbstsüchtig und dumm und immer nur mit den Wünschen und dem Leid des Augenblicks beschäftigt. Sie hören nicht auf die weisen Lehren; sie versuchen nicht, sie zu verstehen; sie widmen sich einfach den Bedürfnissen des Augenblicks, der Geldgier und der Lust«18 – zum Beispiel dem Streben nach den Steuervorteilen für die Anwohner eines Atomreaktors, ganz abgesehen von dem, was der Reaktor alles möglich macht und antreibt. In Tokio wird es im U-Bahn-Waggon ein oder zwei Haltestellen lang dunkel, zweifellos der Stromengpässe wegen. Der Infoschirm an der linken Tür belehrt uns, dass eine Linie wegen »Blackouts« außer Betrieb sei und zwei Hochgeschwindigkeitszüge wegen »Erdbebens« gestrichen wurden.

Der blasse junge Geschäftsmann gegenüber blickte über seinen weißen Mundschutz auf seinen glänzenden Laptop; die stilisierten gelben Mann- und Fraufiguren leuchteten nebeneinander in ihrem schwarzen Kasten und informierten uns, dass beide Toiletten besetzt seien; und weiter ging unser Flug über Häuser und Gärten. Aus der Perspektive des Buddha ist es kaum von Bedeutung, ob diese ganze Leichtigkeit ihren Ursprung in Uran-Pellets, Solarzellen oder einem Perpetuum mobile hat; es ist sowieso allein unsere Selbstgefälligkeit, die all die hübschen Dächer und Bäume dieses Augenblicks davor schützt, in jene Trümmer zu sinken, in die der nächste Augenblick sie sehr wohl verwandeln kann. Aber wie vielen von uns (von Mönchen abgesehen) gelingt es schon, zu leben und zu hoffen – mit anderen Worten, unseren Augenblicksbedürfnissen zu folgen –, ohne unser unausweichliches Ende außer Acht zu lassen? Gewiss sind wir »besser dran«, wenn wir so tun, als könne der Hochgeschwindigkeitszug nicht entgleisen. Das Risiko ist gering; wir werden wahrscheinlich an etwas anderem sterben. Wenn die Gefahr näher rückt, widerspricht es den Bedürfnissen des Augenblicks, sie zu missachten. Je aktueller unsere Bedürfnisse, je weniger aktuell – wirklich oder scheinbar – die Gefahr, desto verführerischer wird ihre Missachtung.

Und so erklärt sich die folgende Parabel, die ich dem Oberhaupt der Familie verdanke, die mich auf der Insel Oshima aufnahm. Als der Mann mir im dunklen und kalten, mit Schlamm verschmutzten Esszimmer Sake nachschenkte, erzählte er, nach einem berüchtigten Tsunami in der Meiji-Zeit19 habe man viele Ufergrundstücke hier und anderenorts für die Wiederbesiedlung gesperrt, aber »irgendwie«, fuhr er mit einem Augenzwinkern fort, hätten die Menschen das vergessen oder den Erlass umgangen. Natürlich hätte der jüngste Schrecken auch dann eine Unzahl von Opfern mitgerissen, wenn man dem Erlass gefolgt wäre, weil die Flutwelle höher war als alle, die damals die Menschen der Meiji-Zeit erlebt hatten. Wer will den Einwohnern Oshimas vorwerfen, das nicht vorhergesehen zu haben?

Die Ingenieure und Vorstandsvorsitzenden der Unternehmen jedoch, die Gouverneure der Präfekturen, die Behörden, deren Aufgabe darin bestehen sollte, die öffentliche Sicherheit zu verbessern, diese Hauptakteure auf der Bühne der Gesellschaft müssen zur Verantwortung gezogen werden, sobald sie sich ihren eigenen aktuellen Bedürfnissen widmen. Mein Grund, standfest gegen die Atomkraft zu sein, ist so offensichtlich, dass es mich immer wieder erstaunt, dass mir nicht jeder Mensch auf Erden beipflichtet: Gefährlich strahlender radioaktiver Abfall muss für Zeiträume gelagert und bewacht werden, die den Bezugsrahmen einer jeden Zivilisation auf irrwitzige Weise sprengen. Könnte man diese verbrauchten Brennstäbe nach, sagen wir, fünf Jahren für harmlos erklären, selbst dann würden Sorglosigkeit und Habgier mich noch beunruhigen, aber ich wäre zumindest bereit, davon auszugehen, dass die Atomkraft nützlich sein könnte. Auch mit dieser Haltung müsste man mich allerdings noch immer zu jenen selbstgefälligen Ignoranten zählen, denen Buddhas Warnung galt.

Klage und Rechtfertigung der Firma Tepco – wie kann man von uns erwarten, einen so hohen Tsunami vorherzusehen? – sind beinahe legitim, greifen vielleicht aber zu kurz. »Die Kühleinrichtungen haben das Erdbeben unbeschadet überstanden, zumindest zum Teil«, erklärte meine Dolmetscherin. »Zur Katastrophe kam es, weil die Kühleinrichtung vom Tsunami völlig zerstört wurde. Die Kühleinrichtung befand sich dichter am Meeresspiegel als der Reaktor. Man ging von 5,7-Meter-Tsunamis aus, während der Tsunami tatsächlich 14 Meter hoch war.« Hätte Tepco also auf einen 14-Meter-Tsunami vorbereitet sein müssen?

Wie immer Ihre Antwort auch ausfallen mag, bitte erwägen Sie die Mahnung des Buddha noch ein wenig länger. »Sie hören nicht auf die weisen Lehren; sie versuchen nicht, sie zu verstehen; sie widmen sich einfach den Bedürfnissen des Augenblicks, der Geldgier und der Lust.« Wenn unsere aktuellen Bedürfnisse von uns verlangen, immer mehr Energie zu verbrauchen, dann kann es sein, dass gefährliche Formen der Energiegewinnung akzeptabel werden. Praktisch gesagt, ist jeder einzelne Japaner (oder Amerikaner) dem Bau von Atomkraftwerken gegenüber machtlos. Aber bitte erwägen Sie beim Lesen dieser Geschichte, wie oft Sie die Reaktorkatastrophe von Fukushima sich noch ereignen sehen möchten. Falls Sie mir am Ende beipflichten, sollten Sie ins Auge fassen, in windgeschützte Lagen umzuziehen.

 

 

HIER IST NIEMAND BESONDERS BEUNRUHIGT

 

Unweit eines unscheinbaren Einkaufszentrums, wo Mitglieder einer Gruppe namens Antiatom mit Petitionen gegen Atomwaffen und -reaktoren hausieren gingen, steht in einem beinahe unbeschädigten Stadtviertel die Sendai City War Reconstruction Memorial Hall, die gerade als Notunterkunft für einunddreißig freiwillig aus Fukushima Evakuierte diente. Man trat durch die Hintertür ein, weil die Eingangshalle nach dem Beben einsturzgefährdet war. In Japan sind die nachbarschaftlichen Beziehungen so eng, dass Gemeinden oft im Ganzen umsiedeln. Daher beherbergte die Memorial Hall Menschen aus einem spezifischen Gebiet: aus dem nördlichen Sektor der strahlenvergifteten Zone.

Anstatt einen Amtsträger zu suchen, der mir vielleicht den Zutritt verweigert hätte (man hatte mir bereits in verschiedenen Notunterkünften verboten, dort zu übernachten), lauerte ich dem erstbesten nichtuniformierten Menschen auf, der nicht in Eile schien – und landete bei einer ungefähr 25-jährigen Frau mit Brille, die aus dem Bezirk Haramachi-ku der Stadt Minami Soma geflüchtet war.

Behördlicherseits waren zwei Kreise um das Kraftwerk Nr. 1 gezogen worden. Der innere, mit einem Durchmesser von 20 Kilometern, bezeichnete eine Zone der Zwangsevakuierung. Bewohnern des äußeren Kreises dagegen wurde das Verlassen des Gebietes – auf eigene Kosten – lediglich angeraten; sie durften bleiben, wenn sie wollten, und sollten sich so weit wie möglich in geschlossenen Räumen aufhalten. Die Frau, die Hotsuki Minako hieß, hatte im äußeren Kreis gewohnt.

Sie sagte: »Am Freitag gab es ein Erdbeben. Am Sonntag und Montag hieß es in den Nachrichten, man solle in den Häusern bleiben. Wir wollten abwarten, aber weil wir Kinder haben, sind zunächst nur meine beiden Kinder und ich mit meinem Mann nach Sendai gekommen. Nach ein paar Tagen sind die Eltern meines Mannes nachgekommen.«

»Ihr Haus steht nun also leer?«

»Ja.«

»Könnten Sie mir genauer erzählen, wie sie Minami Soma verlassen haben?«

»Als wir das Video von der Reaktorexplosion gesehen haben, sind wir sofort los. Selbst nach der Explosion glaubten wir noch, wir könnten irgendwann zurückkehren …«

»Haben Sie die Explosion gespürt oder gehört?«

»Nein. Wir haben nur die Bilder im Fernsehen gesehen. Es gab drei Explosionen, glaube ich« – sie hielt sich die Faust vor den Mund und überlegte. »Und wir waren besorgt, der Kinder wegen. Sonst wären wir einfach im Haus geblieben.«

»Wenn sich jemand um Ihre Kinder kümmern würde, würden Sie dann irgendwann wieder zurückgehen?«

»Wir haben hier kein schlechtes Leben, also ist es uns mit der Rückkehr nicht so dringend.«

Sie hatte ein sehr rundes, mädchenhaftes Gesicht; ihr Pony lag auf ihren dicken Augenbrauen. Ihr blaues Kapuzenshirt sah zu groß an ihr aus.

Bald, so glaubte sie, würden sie und ihre Nachbarn wieder umziehen müssen, in ein Hotel, »damit sich die Gemeinde nicht auflöst«. Sie hatten schon bei Verwandten Station gemacht, dann in einer Grundschule. Sie ging davon aus, dass sie nach dem Hotel erneut umgesiedelt werden würden.

»Glauben Sie, dass Sie in absehbarer Zeit wieder nach Hause können?«

»Mein Gefühl sagt mir, dass es ein Jahr dauern wird oder länger.«

»Wenn Sie an Strahlung denken, was kommt Ihnen in den Sinn?«

»Ich habe bei einem Tochterunternehmen von Tepco im Büro gearbeitet. Also weiß ich über die Gefahren der Radioaktivität und den Umgang damit Bescheid, aber es hieß, so gefährlich sei sie auch wieder nicht. Heute, wenn ich im Fernsehen höre, dass sie das Blut schädigen kann und so weiter, na ja, das wusste ich nicht.«

»War Tepco ein guter Arbeitgeber?«

»Den Arbeitern in der Nuklearanlage scheint ihr Job gefallen zu haben, aber ich habe sie nur einmal im Monat gesehen. Ich saß ja in einem Büro.«

»Wie kommen Sie heute mit dem Geld zurecht?«

»Wir greifen unser Erspartes an. Ich habe gehört, die Stadt wolle rund 50 000 Yen pro Haushalt zahlen,20 aber ich habe es nicht geschafft, mich dafür registrieren zu lassen. Das Rathaus ist nicht richtig in Betrieb. Ich habe meine Arbeit verloren, aber ich weiß nicht, ob ich in dieser Präfektur Arbeitslosengeld beantragen kann.«

»Sollen wir für Sie auf dem Amt nachfragen?«

»Meine Firma hat noch nicht alle Formalitäten erledigt, das geht also nicht.«

Sie hatte zwei Kinder, sieben und fünf Jahre alt. Sie waren gerade mit ihrem Mann im Park. Ich fragte, wie sie zurechtkämen, und sie antwortete: »Sie haben sich zurückentwickelt. Zuhause konnten sie alles allein. Hier, und ich weiß nicht, ob das daher kommt, dass wir schon so lange so leben, sagen sie: ›Das kann ich nicht …‹«

Ich bat sie, mir zu zeigen, wie ihre Familie lebte. Sie zögerte. »Meine Schwiegermutter ist ein wenig deprimiert, also …« Am Ende bekam ich sie dazu, die ältere Dame wenigstens zu fragen. Diese bat mich und die Dolmetscherin höflich in den langgestreckten, fast leeren Raum, auf dessen Boden viele lange, schmale Tatamimatten ausgebreitet lagen, sehr hell und sauber, mit ein paar Taschen voller Habseligkeiten säuberlich aufgereiht an einer Wand. Laken und Decken waren säuberlich gefaltet und aufgestapelt.

Hotsuki Keiko, die Schwiegermutter, hatte sich hingelegt. Als wir hereinkamen, setzte sie sich auf, lächelte höflich, senkte den Blick und reckte sich diskret; vielleicht hatte sie geschlafen. Sie wirkte nicht viel älter als ihre Schwiegertochter. Ich verbeugte mich so respektvoll wie möglich und erkundigte mich, wie sie das Erdbeben erlebt habe.

»Ich war gerade zuhause. Ich lief aus dem Haus, dort stand ein großer Pflaumenbaum. Ich hielt mich lange daran fest.«

Da Minami Soma sich in einiger Entfernung vom Meer befindet, machte der Tsunami ihr persönlich keine Angst. Aber ihre Tante und ihr Onkel waren in ihrem Auto ertrunken. Glücklicherweise, sagte sie, habe die Familie ihre Leichen bergen können. Unglücklicherweise sei der Friedhof fortgespült worden.

»Innerhalb eines Radius von 30 Kilometern durften wir bleiben. Die Empfehlung lautete, drinnen zu bleiben. Der Bürgermeister wies uns an, die Evakuierung ›eigenverantwortlich‹ durchzuführen, also wohnen manche noch immer dort.«

»Was ist Ihre Meinung zum Reaktorunfall?«

»Alle haben immer gesagt, Atomkraft sei sicher …«

»Hier eine Frage, die mich ratlos macht, Frau Hotsuki. Als Bürger des Landes, das Atombomben auf Japan abgeworfen hat, frage ich mich, wie dies in Ihrem Land zweimal geschehen konnte. Beim ersten Mal waren Sie unsere Opfer, und dann, so scheint es, haben Sie sich dasselbe ein zweites Mal selbst zugefügt.«

»Von der Atombombe wissen wir nicht viel«, erklärte sie. »Das ist ziemlich weit von hier, Hiroshima und Nagasaki, und wir haben nur von unseren Eltern gehört, da sei irgendein Flugzeug gekommen und so weiter. Sie haben nicht darüber geredet.«

»Warum nicht?«

»Wenn man nicht hinfährt und es selbst sieht, dann interessiert man sich vielleicht nicht dafür.« Frau Hotsuki versuchte, meine Erwartungen zu erfüllen, und kramte in ihren Erinnerungen. Dann wurde sie plötzlich ganz lebhaft, sie gestikulierte, verzog das Gesicht, als wäre sie den Tränen nahe, und sagte nickend: »Einmal habe ich in der Präfektur Chiba eine Ausstellung über die Kamikazepiloten gesehen. Ich war so gerührt, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen.«

Vom Schicksal der Kamikazepiloten weniger gerührt, als es vielleicht angebracht gewesen wäre, grub ich das Thema Hiroshima und Nagasaki wieder aus. Es zeigte sich, dass die beiden Damen Hotsuki die Atombombe für schlimmer hielten als den Reaktorunfall, weil »wir ja immerhin umgesiedelt sind«. Minako, die junge Schwiegertochter, erklärte, vom Amt der Präfektur habe es geheißen, »man könne es einfach abbürsten, dann sei es schon gut, und man müsse nicht einmal durch die Strahlungsuntersuchung. Da ging es uns besser.«

Unwissenheit ist Stärke, wie Orwell sagen würde. Oder hatte das Amt Recht? Teilchen mit Alpha-Strahlung waren nahezu harmlos, wenn es einem gelang, sie nicht einzuatmen; Beta-Strahlung konnte, waren die strahlenden Teilchen einmal abgewaschen oder abgebürstet, keinen Schaden mehr anrichten. Während ich mich bemühte, darzulegen, warum diese Vorgehensweise unzulänglich sein könnte, trat unter Verbeugungen ein hübsches Mädchen mit einem roten Armband ein, mit der Ansage, dass die Kinderbetreuer wieder da seien und diesmal Süßigkeiten mitgebracht hätten; außerdem wollte sie wissen, ob jemand krank geworden sei. Es war also vielleicht alles in bester Ordnung; so höflich ich mich auch bemühte, keine meiner beiden Gesprächspartnerinnen wollte einen Zehntausend-Yen-Schein annehmen, nicht einmal um der Kinder willen; mochte man da nicht gerne glauben, dass es ihnen an nichts mangelte?

Als ich mein Interview in der Tasche hatte, wagte ich es, mich dem Amtsapparat zu stellen, und so traf ich einen bebrillten, pickligen und schmalgesichtigen jungen Mann, Herrn Maeda, der sich mir gegenüber als »ein einfacher Angestellter dieser Einrichtung« auswies. »Bevor dies in Ihrem Artikel erscheint, müssen Sie auf dem Bürgermeisteramt anrufen. Das hat man mir gesagt.« (Ich habe seine Instruktionen unentschuldbarerweise nicht befolgt, doch, Leser, solltest Du dies tun wollen, die Telefonnummer lautet 022-214-1148.) Er fertigte höchst eifrig eine Fotokopie meiner Akkreditierung als Journalist an; zum Glück hatte meine Dolmetscherin mich immer daran erinnert, sie säuberlich zu falten und in Ehren zu halten. »Was glauben Sie«, fragte ich, »wie gefährlich ist die Strahlung?« Herr Maeda antwortete: »Hier ist niemand besonders beunruhigt.«

 

 

EIN ALTER MANN BEI DER AUSSAAT

 

In Ishinomaki, so hieß es, sehe es jetzt so aus wie vor zwei Wochen in Sendai. In Sendai hatten manche zwei Tage lang auf ihren Dächern ausgeharrt, bevor das Wasser zurückgegangen war. In Ishinomaki gab es Menschen, die eine Woche lang auf dem Dach in der Falle gesessen hatten.

Andererseits war Ishinomaki noch besser weggekommen als Rikuzentakada. Aber egal; gibt es nicht immer einen Ort, an dem alles noch schlimmer ist?

Die Fünfzig-Kilometer-Fahrt im Wagen der Professorin der Veterinärwissenschaft hätte normalerweise eine Stunde in Anspruch genommen. Seit dem Beben gab es Staus. Es dauerte beinahe zwei Stunden bis nach Ishinomaki; und ich saß meine ganze Reise über beinahe täglich wieder für 400 oder 600 Dollar im dahinkriechenden Taxi oder in einem Bus, der einen halben Tag lang stecken blieb (die Eisenbahnlinien der Gegend waren zerstört), auf dieser Straße oder jener Autobahn, von Autos verstopft oder auch nicht, ein paar Kilometer vor oder hinter Fukushima, und die Scheibenwischer tanzten in einem Regen, von dem man nicht wissen konnte, wie gesund er war, leise erklangen die Nachrichten aus dem Radio, und wenn das Taxi so zwischen anderen Autos einherkroch oder zum Stehen kam, verlor der Fahrer gelegentlich seine japanische Geduld.

In Ishinomaki war das erste Geschoss des Supermarkts geöffnet und glänzte wie neu. Die meisten Waren waren im Überfluss der Vorbebenzeit vorhanden. Es gab nur einen Joghurt pro Kunde, einige Regale waren leer, auf anderen fanden sich Milchprodukte aus Kyushu und Hokkaido, die hier normalerweise nicht verkauft wurden. Die brandneuen Waschmaschinen waren ausverkauft, weil der Tsunami so viele zerstört hatte; aus ähnlichem Grund boomte der Autohandel.

Die Professorin hieß Morimoto Motoko. Sie wohnte in Sendai. Nach dem Tsunami waren ihre beiden Kinder im Teenager-Alter über Nacht in der Obhut ihrer Lehrer geblieben; jetzt wohnten sie bei Verwandten in Osaka. Sie hatte sich auf den Weg gemacht, um einem ihrer Studenten Vorräte zu bringen, einem jungen Mann namens Utsumi Takehiro, der sich nun vor uns verbeugte; genau wie seine Mutter, Yoshie. Sie stiegen in ihr Auto, und wir fuhren ihnen bis nach Hause nach, da man sich in Ishinomaki nicht mehr so leicht zurechtfand wie früher. »Hinter der Straße Nr. 45«, sagte Takehiro trocken, »ändert sich das Bild.«

Wir kamen am Gemüsemarkt vorbei, der jetzt als provisorische Leichenhalle diente, und hinter der nächsten Ecke sah ich zahlreiche tiefe Furchen in der weichen braunen Erde, mit einer Schlange von Autos und Menschen, die auf der anderen Seite senkrecht darauf zu lief, und im hintersten dieser offenen Gräben lagen weiße Särge. Takehiros Großmutter lag hier begraben. Der Tsunami hatte sie erwischt. Aus der Art, wie er über sie sprach, schloss ich, dass er sie sehr gemocht haben musste.

»Ich habe sie nicht tot gesehen«, sagte er. »Meine Eltern haben jeden Tag hundert Tote gesehen. Sie haben dann auch sie gefunden. Jetzt wird es ein Jahr dauern oder zwei, bis die Toten eingeäschert werden. Zuerst werden sie provisorisch begraben. Dann werden sie wieder exhumiert. Es gibt nur ein paar Krematorien, also muss man warten, bis man an der Reihe ist.«21

»Mein Beileid«, sagte ich.

»Auch unser Hund ist umgekommen, weil er angekettet war. Wir haben ihn nach Niigata gebracht, wo mein Vater gearbeitet hat, und ihn dort einäschern lassen. Aber zum Transport einer menschlichen Leiche braucht man ein Spezialfahrzeug, und die sind knapp.«

Nun kamen Schlammhaufen, umgekippte Anhänger, eingedrückte Wände, zerknautschte Autos, das aberwitzige Gerüst einer Hütte, das kaum das unversehrte Dach tragen konnte, viele Hilfskräfte und Bagger mit blauen Schaufeln, halb zerschmetterte Häuser auf einer hässlichen schlammigen, von Gräben zerfurchten Ebene, mannshohe Schutthaufen am Straßenrand; und so gelangten wir in den Bezirk Tsukiyama (die Wolken wie weiße Schieferplatten, die Sonne in den Wipfeln der Rotkiefern und Staub in meiner Kehle). Mehrere große Öltanks waren explodiert und hatten zahlreiche Feuer verursacht. Wir rollten an den Ruinen der Papierfabrik vorbei, deren runde Warenballen triefnass und tropfend dalagen. Papier war inzwischen Mangelware, merkte Frau Utsumi an.

»Mein Onkel ist mit dem Hubschrauber gerettet worden und war im Fernsehen«, sagte Takehiro stolz.

Am Horizont lag ein amerikanisches Kriegsschiff auf dem graublauen Meer. Da kam eine lange sanfte Brandungswelle mit ach so sauberer Gischt herein. Eine ihrer Vorgängerinnen, der Tsunami, hatte auf den Überresten des Deichs einen riesigen Treibstofftank abgesetzt. Weiter ging unsere Fahrt durch die malerische Landschaft, zwischen noch mehr Schlammhaufen hindurch, daneben Treibstofftanks, auf Dächer geworfen oder durch sie hindurchgekracht, an Bäumen lehnende Autos, Straße für Straße Hässlichkeit; und nun bogen wir in einen Weg mit neu angelegten Schrottplätzen ein, und Takehiro sagte: »Das ist mein Haus.«

Sein Nachbar von nebenan, Kawanami Shugoro, machte uns schwarzen Kaffee, auf einem Butangaskocher auf dem staubbedeckten wackeligen Tisch in seinem ruinierten Haus, das nur von außen unversehrt aussah. Er trug eine Mütze, offenbar um sich zu wärmen. Dicke Brocken der Decke hingen von den Dachbalken; der Rigips war zerrissen wie Pappe. Im Wohnzimmerschrank stand alles an seinem Platz, aber der Schrank selbst neigte sich etwa dreißig Grad.

Herr Kawanami sagte: »Ich war zuhause, als das Beben kam. Bei mir im Büro sollte es eine Sitzung geben, also wollte ich mir gerade einen Anzug anziehen. Die Schäden waren nicht groß, also zog ich mir wieder meine Arbeitskleidung an und fuhr die Büroangestellte zu ihrer Wohnung beim Supermarkt. Dann machte ich mich zum Büro auf. Es gab einen Verkehrsstau, und es hieß, dass ein Tsunami kommt, also kehrte ich um und wollte wieder nach Hause. Ich sah Wasser aus dem Kanal an der Oberschule kommen und schwimmende Autos; also ging es in dieser Richtung nicht weiter. Ich kehrte wieder um und versuchte, weiter nach oben zu gelangen. Am Flussufer sagten mir die Feuerwehrleute, ich solle nicht in diese Richtung fahren, dabei sah es nicht schlimm aus. Aber das Wasser schien doch etwas höher zu stehen, und dann sah ich es über den Deich kommen. Also bin ich geflohen. Ich musste vier Nächte lang auf nacktem Boden schlafen. Ich ging nach Yamato, weil ich sicher sein wollte, dass es meinen Enkelkindern gutging. Dann wurde das Gas knapp, und es war sehr kalt. Ich fand einen Müllbeutel, um mich warm zu halten – es war wirklich kalt! Es schneite. Ich versuchte, einen warmen Flecken zu finden; ich nahm mir immer mehr Müllbeutel als Hemd …«

»Welche Farbe hatte der Tsunami?«

Er lachte. »Das weiß ich nicht mehr. Er soll schwarz gewesen sein, voller Öl.«

Er war ein fröhlicher, runzliger alter Herr von sechsundsechzig Jahren mit einem weißen Bart und einem Arbeitergesicht. Er war der Sicherheits- und Hygienebeauftragte der Werft. Die Nachbarn standen im Kreis um uns herum. Auf dem verdreckten Tisch stand Saft in Dosen. Seine Frau hatte ein paar völlig aufgelöste chinesische Mädchen in den zweiten Stock eines Parkhauses gebracht, und sie hatten alle überlebt. »Alle sind auf die Dächer«, sagte er. Die zweite oder dritte Tsunamiwelle war seiner Meinung nach die schlimme gewesen, die Menschen trieben in ihren Autos im Wasser und riefen um Hilfe, bis sie untergingen. Herr Kawanami sagte: »Gestern hatte ich diese Bilder im Kopf, und ich wurde depressiv und verwirrt …«

Ein Paar aus seiner Bekanntschaft war geflüchtet. Die Frau war nach Hause zurückgekehrt, der Wertsachen wegen, weil sie eine gute Schwimmerin war. Zum Glück hatte ihre Leiche geborgen werden können; eine der beiden Tüten mit Kostbarkeiten hielt sie noch immer umklammert.

»Wenn Sie an alles zurückdenken, was Sie durchlitten haben«, fragte ich ihn, »glauben Sie, dass der Reaktorunfall das alles noch übertreffen wird?«

»Was soll ich sagen? Das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft. In dieser Gegend wohnen Senioren. Ein Haus wieder aufzubauen, das kostet, und viele Menschen haben Angst. Meine Frau sagt, wenn alle fortgehen, werden wir als Einzige bleiben. Wir glauben, wir können bleiben, bis wir sterben, weil wir alt sind, denn das hier« – er muss den Tsunami gemeint haben – »kommt nur alle tausend Jahre vor. Ich wollte in diesem Jahr in den Ruhestand gehen und mir ein schönes, ruhiges Leben machen. Aber das Geld für meine Zukunft wird für Reparaturen draufgehen. Außerdem reden die Leute im Kernkraftwerk von einer Atomexplosion. Unser Gouverneur ist so stolz auf unser Kernkraftwerk, verglichen mit Fukushima.«

In dem ganzen Schmutz standen die schlammigen Teller noch immer säuberlich aufgestapelt. Das Trinkwasser war noch zu knapp, um damit abzuwaschen.

Auf meine Bitte hin führte Herr Kawanami mich ins Obergeschoss, um den Sand und Schlick zu bewundern. Er sagte: »Als die Welle kam, zappelten alle Tatamimatten so!«, und seine Arme wanden sich.

Ich dankte ihm, verabschiedete mich mit meinem artigsten Diener und wurde als Nächstes Frau Ito Yukiko vorgestellt, sechsundsechzig Jahre alt, die mich mit zusammengekniffenen Augen empfing. Die Schultern hochgezogen und die Fäuste im Schoß, so saß sie am Rand ihrer angeschlagenen, aufgerissenen Betonveranda, in orangefarbenen Regenhosen, einem schmuddeligen Pullover und einer über die Augenbrauen gezogenen weiß gestreiften Wollmütze. Die Zehen ihrer Pantoffeln berührten den matschigen, schuttbedeckten Boden, der zufällig mit Tellerscherben geschmückt war. Genau wie im Rest des Viertels war der Dieselgestank auch hier Übelkeit erregend. Ihre beiden kleinen Enkelinnen spielten mit Gummiüberschuhen den Eingang fegen und setzten sich dann zum Lesen hin, Comics vielleicht. Sie waren sehr schüchtern; ich ließ sie in Ruhe. Da niemand etwas sagte, fragte ich nicht, wo ihre Eltern waren.

»Ich bin in Strandnähe geboren worden«, sagte Frau Ito. »Ich habe in dieser Präfektur den chilenischen Tsunami erlebt und noch einen weiteren. Also wusste ich genau, wenn es ein Erdbeben gibt, muss man auf einen Tsunami vorbereitet sein. Aber dieser«, sagte sie und verzog das Gesicht (und unterbrach sich, um einen Löffel aufzuheben, den eines der kleinen Mädchen hatte fallen lassen), »dieser war anders.«

Weil sie genau wusste, dass man hinter vom Beben verzogenen Türen in der Falle sitzen konnte, hatte sie die Haustür schon vorher geöffnet, dann saß sie die Erschütterungen drinnen aus, vor Furcht, die Dachschindeln könnten ihr den Schädel einschlagen. Sie schloss den Safe auf, entnahm ihm »die Andenken an die Ahnen«, ihre buddhistischen Gedenktafeln offenbar, und dann, weil sie dachte, sie hätte noch Zeit, suchte sie nach einem baumwollnen Furoshiki-Tuch, um sie darin einzuschlagen. Eine ihrer Enkelinnen fragte sie dann, ob sie nicht ihr Handy mitnehmen wolle. Und so flüchteten sie im Auto. Sie schickte die beiden Kinder voran und kehrte noch einmal zum Wagen zurück, um den Hund und ihre Geldbörse zu holen. Ihre Hände verkrampften sich immer fester in ihrem Schoß, und als sie sagte: »Ich ging über einen schmalen Pfad, und dann sah ich mitten auf der Straße den Tsunami«, war der Schrecken in ihrem runden, geröteten Gesicht fast unerträglich.

»Die erste Welle riss alles fort, was ich mitgenommen hatte, dann lief ich in die Richtung, wo die Welle nicht so hoch war. Ich weiß, dass ein Mensch dem Tsunami nicht entkommen kann, wenn er einmal drin ist, also streifte ich die Schuhe ab und kletterte eine Mauer hinauf, und zuerst war es wackelig, aber dann fand ich festen Halt und klammerte mich mit den Zehen fest. Das Wasser stand mir bis an die Hüfte und dann bis an die Brust; ich hielt mich am Dach fest, um nicht mitgerissen zu werden; Hilfe! Hilfe! Hilfe!, rief ich den Geist meines verstorbenen Mannes an … Dann kam das Wasser.«

Die Enkelkinder lasen weiter, in ihren Gummiüberschuhen, im fischigen, dieselhaltigen Wind (und da er durchaus auch aus Richtung des Reaktors wehen konnte, prüfte ich mein Dosimeter, das um sechs Uhr früh 1,9 kumulierte Millirem angezeigt hatte und jetzt, nach drei Stunden in Ishinomaki, auf 2,0 gesprungen war, was bedeutete, dass die Radioaktivität hier mindestens doppelt so hoch war wie in Tokio – nicht schlecht; die hypothetischen, vom Winde verwehten Teilchen mit Beta-Strahlung einmal ganz außer Acht gelassen); und eine Krähe krächzte; ein Haufen Reifen lag herum; aus einer leeren Fensteröffnung hingen durchweichte Futons zum Trocknen.

»Ich war auf dem Dach, also bin ich schließlich vor Einbruch der Dunkelheit gerettet worden. Ich habe meine Enkelinnen zwei Tage lang nicht gesehen, aber ihre Lehrerin hat mir gesagt, dass es ihnen gutgeht …«

Hinter einem angelehnten Gitterrost sammelte ihr alter Nachbar klappernde Dinge aus dem Schlamm seines früheren Hofs.

»Wie wichtig ist der Atomunfall für Sie?«, fragte ich sie.

»Vielleicht brauchen wir das Kraftwerk, aber sie sollten die Tatsachen offenlegen. Sie scheinen es gestoppt zu haben, aber stimmt das auch? Sie haben gesagt, in einigen Fischereiprodukten sei die Konzentration gering, aber wenn es sich anlagert, ist das schlimm …«

Mein Blick fiel auf einen ganz verkrümmten kleinen mumifizierten Fisch im Sand zu ihren Füßen.

Auf einem schmalen Sandstreifen zwischen zwei Hausruinen brachte ein alter Mann Samen aus. Büschel aus Plastik zuckten in den vom Tsunami gekappten Bäumen. Eine verdrehte Zypresse, noch grün, lehnte an der Wand zum Innenhof eines in Höhe der Dachrinne aufgerissenen Hauses. Ich verbeugte mich zum Abschied vor Frau Ito, die langsam wieder in ihr Haus kroch.

 

 

EIN ZURZEIT IN REPARATUR BEFINDLICHES KOTO BETREFFEND

 

Wie viele solcher Geschichten wollen Sie hören? Ich sammelte so einige; sie ähneln sich alle auf genau die eine Weise, die sie für Journalisten so uninteressant macht, gerade wie die fratzenhaften, oft aufgedunsenen Leichen, viele mit Verletzungen an der Stirn, deren Bilder in jener improvisierten Leichenhalle in Ishinomaki an der flatternden Wand aus blauer Abdeckplane hängen; wie sie wirken, hängt ganz davon ab, in welchem Winkel der Kopf geneigt ist. Die Überlebenden, die sich die Bilder ansehen, bewahren in bester japanischer Tradition die Ruhe, lassen einander mit einem höflichen »hai, domo!« vor, damit auch andere einen guten Blick auf die schaurigen Gesichter werfen können, deren Augen meist geschlossen sind.

Eine Frau erläuterte einer anderen: »Ich bin auf der Suche nach meiner Schwiegermutter hier, aber das ist nicht leicht, weil die Gesichter aufgedunsen sind, und ich habe die falsche Nummer angegeben; deshalb konnte ich sie nicht auf Anhieb identifizieren …«

Am anderen Ende des langen Gevierts aus Sonnenlicht schlug ein Priester eine Glocke, und eine Fotografie blickte auf ein Beet voller Blumenspenden herab. Über dem rituellen Gefäß verbeugten sich Verwandte; Kerzen flackerten. Der Priester verbeugte sich. Mir schmerzte die Kehle vom Staub.

Weil ich mehr erfahren wollte, bat ich einen Polizisten um Auskunft, der mich an seinen Vorgesetzten verwies, der nichts ohne seinen Oberboss tun konnte, der mir meine Frage, wie viele Menschen in Ishinomaki umgekommen seien, mit der perfekten Antwort vergolt: »Zu Zahlen im Einzelnen äußern wir uns grundsätzlich nicht.« Ich dankte ihm mit einer Verbeugung und sagte, in diesem Fall habe ich keine weiteren Fragen; er wurde rot, verbeugte sich tief und entschuldigte sich dafür, dass er mich hatte warten lassen.

Lassen wir also die Geschichten vom Verlust zumindest für den Moment mit geschlossenen Augen ruhen (die Bulldozer ziehen noch mehr lange schmale Leichengräben in den Erdboden, zwanzig Leichen pro Reihe, drei behelfsmäßige Friedhöfe in Ishinomaki und eine lange grüne Reihe von Soldaten der Selbstverteidigungsstreitkräfte in zwei Abteilungen, die auf der Suche nach Leichen Häuser aufbrechen), während wir überlegen, welchen Sinn wir in ihnen finden können – wenn denn ein Sinn in ihnen liegt. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie nun erneut mit Takehiros Mutter bekannt machen, Frau Utsumi Yoshie.

»Was kann man, wenn überhaupt, aus diesem Ereignis lernen?«, fragte ich sie.

»Mit dem 11. März ist etwas vorbei. Ich habe das Gefühl, etwas Neues hat begonnen. Wir haben nie die Erfahrung gemacht, alles zu verlieren, nie so extrem. Lernen im positiven Sinne kann man daraus«, sie lachte, »alle Wertgegenstände im zweiten Stock aufzubewahren!«

»Werden Ihre Lebensumstände sich verschlechtern?«, fragte ich sie.

»Natürlich glaube ich daran, dass alles besser wird«, antwortete sie und saß dabei neben mir im schmutzigen Schutt in ihrem Haus, von zerschlagenem Hausrat umgeben.

»Warum?«

»Nun, das weiß ich auch nicht. Der Fortgang22 des Alltagslebens wird ein neues Gefühl für den Wert der Dinge schaffen. Wer anders denkt, kommt nicht weiter.«

Ich sagte ihr, wie tapfer ich sie und alle anderen fand, worauf sie anmerkte, sie nehme seit einiger Zeit Stunden im Spiel des Koto, eines traditionellen Saiteninstruments, dessen Spiel mich gelegentlich in den abgelegenen Teehäusern Kyotos und Kanazawas beglückt hatte: Langsame, leise und (in meinen Ohren) traurige Noten ließen aus den Melodien alter Zeiten ein verschwommenes Gespensterantlitz auferstehen. Ich werde hoffentlich nie vergessen, wie es für mich war, als die wunderschöne alte Geisha Kofumi-san mir in jener kleinen Kammer in Gion das »Schwarzhaarlied« vortanzte, auf das Kawatata und Tanizaki in ihren größten Romanen anspielen.23 Ich freute mich, dass auch Frau Utsumi diese Weise, deren bloße Erwähnung sie leise lächeln ließ, kannte und sogar beherrschte. Einen flüchtigen Augenblick lang lebten wir beide wieder im Japan des 10. März 2011 – jenes Tages, bevor Ishinomaki in die Nachrichten kam.

Ich fragte sie, ob sie Zeit habe, ihr Koto für mich zu spielen, aber das Instrument war von der schmutzigen Welle überflutet worden. Es befand sich gerade in Reparatur. Sehr leise sagte sie: »Für mich ist ein Koto etwas Lebendiges, also war ich sehr traurig. Wir haben unseren Hund verloren, aber als ich das Koto gesehen habe, ganz voller Schlamm, war ich so traurig …«

Ich fragte ihre Söhne, welchen Besitztümern sie am meisten nachtrauerten. »Allen!«, lachten sie fröhlich. Da es nicht mehr genügend Stühle gab, standen sie im bitteren Staubgestank dieser dunklen und frostigen Ruine um uns herum.

Und was hielten sie alle von dem Reaktorunfall?

»Ich glaube, man kann nichts daran ändern, dass er passiert ist«, sagte die Mutter. »Tepco soll hart arbeiten, und das Gemüse soll wieder wachsen. Ich würde das Gemüse aus Fukushima ja gerne kaufen, aber …«

»Glauben Sie, dass hier Kontaminierung droht?«

»Ja«, sagte sie.

»Was werden Sie tun?«

»Wir können nirgendwo hin.«

»Haben Sie Alpträume gehabt?«, fragte ich sie.

»Was mich angeht, ich habe den Tsunami nicht mit eigenen Augen gesehen. Ich konnte zwei Tage lang nicht nach Hause, diese Erfahrung habe ich also nicht gemacht, aber das Feuer, nun, das konnten wir von unserem Hügel aus so deutlich sehen,24 dass ich beinahe Angst hatte, es könnte bis zu uns vordringen; um drei Uhr morgens gab es eine Durchsage, es könnte bis zu uns vordringen, also flohen wir.«

»Aber keine Alpträume?«

»Nein. Das Feuer brannte zwei Tage lang …«

»Ich kann in unserem Haus nicht wohnen«, sagte Frau Utsumi später. »Es ist zu unheimlich. Ich kann dort nicht wieder wohnen, selbst wenn das bedeutet, dass wir ein neues Haus …«

Weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte, wiederholte ich, dass ich sie tapfer finde, und sie sagte: »Ich glaube, wenn wir anständig leben, kann meine Schwiegermutter in Frieden ruhen. Sie hätte für ihre provisorische Beerdigung keinen teuren Sarg gewollt; sie hätte gewollt, dass ihre Enkelkinder das Geld bekommen.«

Ich nickte. Der Staub tat mir in der Brust weh.

»Ich möchte, dass meine beiden Söhne hart daran arbeiten, diese Stadt wiederaufzubauen, damit meine Schwiegermutter Frieden findet.«

Diesen stoischen und manchmal donquichotesk auftrumpfenden Impuls sah man in Ishinomaki hier und da aufkeimen; ich erinnere mich an einen Trupp Arbeiter mit Stirnbändern aus weißen Lumpen, die durchnässte Tatamimatten aus einem Lagerhaus zogen, wozu sie einen Karren mit einem Mann vorn und einem hinten einsetzen mussten, so schwer wog das Wasser; und dann rollte der Wagen abwärts an einem riesigen Müllhaufen vorbei, in einem Hof voller Pfützen standen Männer in Gummistiefeln und warteten, ich weiß nicht worauf; aber seit der Flutwelle war weniger als ein Monat vergangen, und so waren die Überreste aus vorsintflutlicher Zeit noch verwunderlicher: das von der Zeit oder Dieselruß geschwärzte Torii eines kleinen Schreins zum Beispiel, das aus der Form geraten und allein auf dem sandigen Schlamm stand, verschaffte mir ein Déjà-vu, und später erinnerte ich mich an ein Bild des großen Fotografen Yamahata Yosuke aus Nagasaki, 1945: Ishinomaki 2011 nicht unähnlich, nur dass die Trümmer um das Torii in Nagasaki beinahe ausschließlich aus Holz zu sein schienen. Außerdem gab es ein gewisses radartiges Bruchstück, offenbar Teil eines Karrens, feingliedriger als all seine heutigen Gegenstücke, und der Hintergrund bestand ganz aus weiß geädertem grauem Rauch.25

Bevor wir zum stehengebliebenen Riesenrad von Sendai und den Feldern voll hellem Müll zurückkehrten, sagte mir der ältere der beiden Jungen, der Yuya hieß: »Ich möchte Lebensmittel aus dieser Gegend essen, um den Bauern zu helfen.«

»Also in der Umgebung des Atomkraftwerks angebautes Gemüse?«

Er nickte mit einem ruhigen Lächeln.

Da Frau Professor Morimoto schon nach Hause gegangen war, fuhren sie uns zum Busbahnhof. Ich sagte ihnen, es gebe keinen Grund, zu warten, bis wir in unseren Bus eingestiegen wären, aber Frau Utsumi versicherte mir, sie hätten nichts Besseres zu tun.

 

WENN DER WIND VON SÜDEN WEHT

 

In der Nacht gab es an der heißen Quelle eine Erschütterung, die sich zu einem mittleren Erdbeben auswuchs; während ich auf meiner Tatamimatte lag, gab es ein Schwanken und Wackeln. Ich wusste, dass ich nichts anderes tun konnte, als ruhig zu bleiben, da ich mich im fünften Stock befand. Zum Glück waren kaum Möbel im Zimmer (manchmal wurde mir beschrieben, wie Bücher und Fernseher buchstäblich von den Wänden flogen).

Als die graublaue Dämmerung durch die Rollos lugte, stand das Dosimeter noch immer ganz ruhig auf 2,0; der neue Taxifahrer meldete sich zum Dienst und berichtete, die Straße sei »kaputt«, es sei also am besten, früh loszufahren. Sendai war offenbar wieder ohne Strom, und als wir Halt machten, um Frau Professor Morimoto abzuholen, die diesmal einem ihrer Studenten auf der Insel Oshima helfen wollte, fanden wir sie erschüttert und entmutigt vor. Der Fahrstuhl war natürlich außer Betrieb, also schleppten der Fahrer und ich ihre Koffer voller Batterien und Versorgungsgüter sechs Stockwerke die Treppen hinab, dann ging es in schneller Fahrt über die rissige Straße.

Das Dosimeter zeigte inzwischen 2,1 an. Der Fahrer, ein muskulöser, etwas älterer Mann, erzählte lachend, seine Frau und er hätten eben die Erdbebenschäden in ihrer Wohnung beseitigt, und nun, nach dem neuesten Beben, liege das Geschirr schon wieder in Scherben auf dem Boden! Im Bahnhof von Sendai sei das Dach undicht, merkte er an, also sei er vielleicht geschlossen. Derweil blickte die Dolmetscherin von ihrer Zeitung auf und berichtete, die Auflagen für die Fischereibetriebe in der Präfektur Miyagi könnten zwei Monate lang in Kraft bleiben, woraus, so dachte ich mir, leicht zwanzig oder fünfzig Jahre werden konnten. Früh blühende Pflaumenbäume und vereinzelte Palmen leisteten uns auf unserer Fahrt durch die strohgelben Reisfelder Gesellschaft; eine Möwe flog über uns hinweg. Das Radio verkündete, der Zwischenfall der vergangenen Nacht habe 916 Haushalte »heruntergefahren«. Und nun ein weiterer einstündiger Stau, da die Züge nicht fuhren.

Nach einer Weile erreichten wir die nach Diesel duftende Hässlichkeit von Furukawa, und die allgemeine Schleichfahrt erlaubte uns, sie nach Herzenslust in Augenschein zu nehmen: kleine Banken, Werbetafeln, Autotransporter, gesichtslose Häuser hinter Hecken, Pachinko-Spielhallen inmitten leerer Parkplätze, Autowaschanlagen, ein Geschäft für Grabsteine auf Asphalt an einem schmutzigen, einbetonierten Kanal. Wir hielten vor einem dunklen kleinen Laden, um die beiden Frauen austreten zu lassen, aber die Toilette war außer Betrieb. Eine halbe Stunde später wiederholte sich diese Erfahrung in einem Geschäft mit teilweise leeren Regalen. Ein einsamer Kassierer bediente eine lange Schlange von Kunden, die offenbar vor allem Getränke kaufte. Seine Registrierkasse war natürlich tot. Niemand verlor die Geduld. Als wir wieder unterwegs waren, fiel uns der lange Riss im Asphalt auf, parallel zum Mittelstreifen; manchmal standen Pflasterbrocken hervor wie ramponierte Hahnenkämme. An einer Stelle hielten zwei Straßenarbeiter in gelben Monturen einen langen Messstab und führten ihn ganz fasziniert in einen Spalt in der Straße ein.

Die Risse wurden immer imposanter. Vor und hinter Brücken waren sie am schlimmsten. Der Fahrer seufzte und schüttelte den Kopf; die beiden Frauen schwiegen. Dann wurde die Straße wieder besser.

Es verging einige Zeit, bis wir nach Kesennuma hinabkamen, 172 Kilometer vom Kraftwerk Nr. 1 in Fukushima; wir stießen auf immer größere Haufen von zersplittertem Bauholz, dann auf Ruinen, Berge aus Metall und Bauschutt, Autos, die auf dem Dach lagen – aber die Straßen waren ganz säuberlich geräumt worden. Der Fahrer stöhnte: »Oooch! Iiiih!«

Ich wusste nicht, wie Kesennuma früher ausgesehen hatte; was ich zu sehen bekam, waren ganze Straßenzüge voller regennassen Mülls, Autowracks, ausgebrannter Autos, Müll in Pfützen, Müllberge mit schlammigen Pfützen dazwischen, übel schmeckender Regen (und soweit ich weiß, war das Gefährlichste, was ich auf der ganzen Reise tat, den triefenden Regenschirm meiner Dolmetscherin zu halten, während sie auf der Toilette war.) Manchmal hingen schmutzdunkle Fasern, Kabel und Splitter in den Türfüllungen wie Zähne im Maul eines Ungeheuers. Die ungepflasterten Straßen gemahnten gelegentlich an Dämme zwischen zugemüllten rechteckigen und bis an den Rand mit stinkender Brühe gefüllten Ruinenfeldern.26 Viele Häuser erinnerten an Schrottplätze. Auf höherem Gelände, wo es weniger nass war, sahen ganze Stadtviertel schlicht wie verwüstete Baustellen aus. Und auf einer Ebene voller Schlamm und Pfützen stand, wie in Ishinomaki, über all dem Schrott und Schmutz wieder ein einsames zinnoberrotes Schrein-Torii.

Kesennuma, heißt es, leite sich von einem Wort aus dem Ainu ab, das »Bucht« bedeutet. Auf der anderen Seite der Hafenstraße, deren Straßenschild verbeult und zerfetzt war und deren elektrische Leitungen Frisurprobleme hatten, roch das überschwemmte Parkhaus nach Meer, und der Regen pladderte auf den Gehsteig. Ein hagerer Radfahrer in schmuddeligem Grau fuhr vorüber, der Mundschutz hing ihm um den Hals. Das milchig graugrüne Meer sah nicht schmutzig aus. Der Regen machte die Luft weniger staubig, vielleicht aber auch radioaktiver; ich vergaß nie, dass das Dosimeter den Unterschied nicht messen konnte. Nachdem wir Frau Professor Morimotos Batteriekartons zum Fähranleger geschleppt hatten, ließ ich den Blick hügelan über die Betonbrocken und durch die Stahlstreben schweifen, über Häuser, die zerdrückt worden waren wie Streichholzschachteln, über Stühle und Futons; dort stand ein Haus, dessen Obergeschoss unversehrt aussah, aber das Erdgeschoss war komplett verschwunden, von einer Mauer abgesehen. Der Schutt lenkte meinen Blick zu zwei roten Dächern und einer Kiefer empor, die jemand auf die althergebrachte japanische Art zu wolkenartigen Laubläppchen getrimmt hatte.

Die ungleichmäßig wummernde Fähre brachte Paletten mit Apfelsaft und andere Vorräte. Ein langhaariger Jugendlicher, auf dessen T-Shirt EIN FRÖHLICHES 2009 stand, gehörte zu den vielen Menschen mit Mundschutz. Ein winziges Mädchen in einer pinken Regenjacke saß auf dem Schoß ihrer Mutter, spielte mit einer Spielzeugpistole, lachte entzückt und streckte die Hand verständnislos nach all den Schiffswracks am Horizont aus. Hier und da trieb Holz im Wasser, und ein gesunkenes Schiff lag da wie von feindlichen Flugzeugen versenkt. Die Finger und Klauen der Wracks erhoben sich aus dem frostkalten Meer. Nach einer halben Stunde Fahrt durch schmutzigen Schlick und einen Flickenteppich aus Schaumstoff und Styropor, aus buntem Müll, hindurch unter einer Möwe im Tiefflug, vorüber an einem einsamen Bambuspfahl und dem orangefarbenen Bug eines Schiffes, der kopfüber aus dem Wasser ragte wie der Schnabel eines toten Tümmlers, legten wir auf der Insel Oshima an (165 Kilometer vom Reaktor; Bevölkerung: ca. 3000), wo Frau Professor Morimotos Student Murakami Takuto uns erwartete.

Die Geschichte der Familie Murakami ist die letzte Tsunami-Geschichte, die ich erzählen werde. Die Familie war von altem Schrot und Korn, ihre Vorfahren hatten im Bürgerkrieg des 12. Jahrhunderts, über den so viele große literarische Werke geschrieben wurden, in der Marine auf Seiten der Heike gekämpft. Der Anfang der Heike Monogatari ist nicht frei von Bezügen auf die Ereignisse, die dieser Essay beschreibt: »In jedes Mannes Haus erklingt die Glocke des Gion-Tempels und mahnt ihn, dass alles vergänglich ist. Die verwelkten Blüten der Salabäume an Buddhas Totenbett bezeugen, dass alles, was grünt, vergehen muss.«27

Das Erdgeschoss ihres Hauses war halb überflutet worden. Der erste Stock war in Ordnung. Sie würden fast alle Elektrogeräte neu kaufen müssen, Reiskocher, Fernseher und Heizung, die leider und untypischerweise kein Erdgas verfeuert hatte.

Im Esszimmer, das nun reparaturbedürftig war, sagte Großmutter Fumiko (Jahrgang 1933) ganz langsam, das breite hübsche Gesicht schief gelegt: »Ich war im Garten, als das Erdbeben losbrach. Als es aufhörte, ging ich hinein; der Schaden war nicht groß, nur ein paar Gläser und Kerzenhalter. Dann hörte ich den Tsunami-Alarm: jemand von der Feuerwehr über Lautsprecher. Ich kann nicht laufen wie die anderen. Dann sah ich die Welle: viel Schaum, also war sie weiß. Sie war nicht hoch. Und dahinter sah ich eine zweite große Welle kommen, also versuchte ich wegzulaufen. Ich lief auf höheres Gelände. Wenn ich die große Straße genommen hätte, wäre ich ertrunken. Ich nahm den schmaleren Weg weiter oben. Ich sah mich um; das Nachbarhaus schwamm im Wasser. Danach nahm ich mir einen Bambusstab als Gehstock. Hier in der Stadt dient eine Grundschule als Notaufnahmelager. Dort wohne ich noch immer. Ich bin nur hergekommen, um Sie willkommen zu heißen.

Am Anfang konnten wir mit niemandem reden. Nach fünf Tagen kamen die Eltern, und ich erfuhr, dass die drei Enkelkinder überlebt hatten. Es war so furchterregend, dass ich zitterte und nicht mehr aufhören konnte damit. Ich konnte nicht schlafen. Freunde haben mir Kleidung gegeben, Reisbällchen28 und einen Futon, also geht es mir gut.«

Dann sagte sie: »Unsere Familie lebt seit 350 Jahren hier, und das Wort unserer Ahnen aus der Meiji-Zeit lautete, der große Tsunami könne nicht bis hier heraufkommen; daher sei dieses Haus sicher. Wenn ich auf das Wort meiner Ahnen vertraut hätte, wäre ich nicht mehr am Leben.«

»Sind Sie wegen des Unfalls in Fukushima besorgt?«

»Die Strahlung – wenn es regnet, dürfen wir nicht nass werden, haben sie gesagt …«

(Später sagte mir ihr Enkel: »Die Menschen auf dieser Insel verstehen überhaupt nichts von Radioaktivität.«)

Ich ließ meinen üblichen Spruch los, nach Hiroshima und Nagasaki sei es für mich besonders traurig, dass die Japaner erneut unter Radioaktivität litten, worauf die alte Dame mit gefalteten Händen antwortete: »Ich möchte nur, dass sie vorsichtig sind.«

»Alle Kiefern sind umgestürzt und verschwunden«, sagte die Großmutter und streckte die linke Hand in die Richtung aus, wo sie einmal gewesen waren, über die Baumstümpfe und den Sand und über das Meer, dorthin, wo früher der große Felsen gewesen war, den die beiden Enkel beim Schwimmen ihr »Ziel« genannt hatten. »Von hier aus konnten wir die Sonne hinter den Kiefern aufgehen sehen. Wir waren so stolz darauf. Jetzt kommt das Meer einem näher vor. Das ist ein wenig unheimlich.«

Im Garten hatte sie Getreide angebaut, Raps, Spinat, Kürbisse und weißen Rettich.29 Sie sagte: »Ich bin so einsam, seit ich nichts mehr habe, woran ich arbeiten kann.«

Die Dolmetscherin, Frau Professor Morimotos Student Takuto und ich machten einen Spaziergang. Unten an der nutzlosen Mole am zerstörten Strand fanden wir ein tropfnasses chinesisches Kinderbuch – es gehörte seinem verstorbenen Großvater. »Aber wir haben es sowieso nie gelesen«, lachte er und ließ es für andere dort liegen. Ich stieß auf ein Feld, ganz übersät mit Jakobsmuschelschalen, auf einen Bambushain, in dem der Müll hing.

Wir begegneten einem Fischer in einer orangefarbenen Jacke; er ging davon aus, dass am 11. März ein Drittel der Inselbevölkerung umgekommen war. Er sagte: »Zuerst sind sie weggelaufen, dann sind sie wiedergekommen, um etwas Wichtiges zu holen; sie haben nicht überlebt.«

»Radioaktivität?«, schrie er. »Nein, das ist in Fukushima. Damit haben wir nichts zu tun.«

An ihm vorbei bis ans Ende des Betonpiers zu gehen war beinahe schön, die Möwen kreischten von ihrer kleinen Insel herüber, der Seewind duftete so angenehm, dass ich es nicht über mich brachte, einen Mundschutz zu tragen, mein Dosimeter stand noch immer auf 2,1. Die untergehende Sonne warf eine weiße Schleppe auf das Wasser, und hinter einer Wolke ratterte ein Hubschrauber, einer der Selbstverteidigungsstreitkräfte vermutlich. Als der Tag Schiffbruch erlitt, verschwanden die traurigen Zeichen des Tsunamis in den Schatten, bis Oshima fast unversehrt wirkte.

Takuto sagte: »Ich möchte für diese Insel tun, was ich kann. Ich möchte erwachsen werden und ein Mensch sein und helfen.«

Obwohl unsere Kleider inzwischen recht schmutzig waren (wir rechneten damit, sie nach dem Besuch im Krisengebiet wegwerfen zu müssen), erlaubte uns diese nette und gastfreundliche Familie nicht, unsere Schlafsäcke zu benutzen. Vater und Sohn legten den beiden Frauen Futons aus und stellten mir im Nebenzimmer ein Bett auf. Das bedeutete, dass alle anderen unten in den frostkalten Zimmern mit ihrem Schlickgestank schlafen mussten. Langsam und weiß flackerte die Taschenlampe unseres Gastgebers um seinen Bauch, das Handy von Frau Professor Morimoto leuchtete, während irgendein dummes Display ihren Studenten und sie zum Kichern brachte, die Dolmetscherin schaltete ihre Stirnlampe ein, die ihr Gesicht beleuchtete, und ich machte mir mit Hilfe meiner amerikanischen Taschenlampe, deren Licht gelblicher war als das aller anderen, Notizen.

Die Murakamis nahmen zwar ein halbes Dutzend Dosen mit amerikanischem Essen an, bestanden aber darauf, uns ein Abendessen zu kochen. Dankbar und beschämt kamen wir nach unten an den Tisch, wo Herrn Murakamis stoppeliges Gesicht mit seinem Schnurrbart im Licht der Petroleumlampe leuchtete. Er war stellvertretender Direktor einer Grundschule. Nach dem Erdbeben hatte er einigen Schülern erlaubt, nach Hause zu ihren Eltern zu fahren. Ich spürte, dass er Schuldgefühle hatte, weil Schlimmes hätte geschehen können; aber so wie die Dinge standen, hatten sie die Flutwelle überlebt. Er drängte mir ein Satellitenfoto des Katastrophengebiets von Oshima auf. Die Brille hoch in die Stirn geschoben, zeigte er mir auf der Karte das Haus der Familie. Er sagte: »Viel zu optimistisch.«

Die Mutter, Frau Murakami Kaoru, war in ihrer karierten Schürze fast immer auf den Beinen, ihre blassen Arme und Wangenknochen glänzten, die andere Großmutter nickte mit ihrem schweren Kopf langsam den beiden anwesenden ihrer drei Enkelkinder zu, während im Dunkeln Bananen und Aluminiumfolie zart leuchteten. Frau Murakami verbeugte sich ausnahmslos, wenn sie der Großmutter Essen anbot, mit einem höflichen »hai, dozo«. Ich weiß wirklich nicht, wie es ihr gelang, ohne Kühlschrank so schnell diesen improvisierten Eintopf zuzubereiten, dessen Zutaten zum Großteil verderblich waren. Herr Murakami sagte: »In den ersten fünf Tagen gab es nur ein Reisbällchen pro Tag, da habe ich abgenommen.«

Eine Stunde vor dem Abendessen hatte er mir schon eine Kostbarkeit versprochen: eine Flasche Sake, aus dem Obergeschoss gerettet, als das Meer sich wieder zurückgezogen hatte. Im Dunkeln war das durchweichte Etikett fast nicht zu erkennen. Wieder und wieder füllte er mir mein Wasserglas bis zum Rand und schenkte auch den anderen Gästen ein. Weil es mir peinlich war, so viel von ihm anzunehmen, plädierte ich schließlich auf einen Schwips, worauf er fröhlich fortfuhr, sich selbst nachzuschenken, nicht zuletzt, wie er anmerkte, weil Samstagabend sei. Immer wieder sagte er zu seiner Frau auf Englisch: »I love you.« Sie lächelte beglückt. Gern berichte ich, dass er es am nüchternen folgenden Morgen im Nieselregen wieder sagte.

Mitten beim Abendessen gab es plötzlich wieder Strom, alle riefen fröhlich »Surprise!«, und die Enkel grinsten im hellen Licht. Ich versicherte unseren beiden Gastgeberinnen, dass sie bei elektrischem Licht noch schöner seien, und die Großmutter legte sich die Hand über den lachenden Mund.

Wann immer ich Hiroshima erwähnte, wurde die ganze Familie still und traurig, also schnitt ich das Thema wirklich ungern an, aber ich hielt es für meine Pflicht, es noch einmal beim Patriarchen zur Sprache zu bringen; das war, als wir noch im Dunkeln aßen. Das Weiß seiner Augen schien zu flackern. »Weil der Wohlstand der Menschen von Fukushima auf der Fischerei beruht«, sagte er, »fürchte ich ihren Niedergang.« Es kam mir so japanisch vor, sich zuerst um die anderen zu sorgen! Er fuhr fort: »Atomenergie ist sehr gefährlich. Ich finde sie sehr gefährlich. Für mich ist sie wie Krieg.«

An jenem Nachmittag hatte ich Takuto gefragt, wie er sich seinen schlimmsten Alptraum vorstelle, und er hatte erwidert, nicht ganz eine Woche zuvor habe die japanische Regierung eingestanden, es handle sich um einen Reaktorunfall der Stufe 7, wie Tschernobyl: »Wie Tschernobyl. Vielleicht wird Oshima kontaminiert. Im Sommer kommt der Wind von Süden.«

 

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