6

 

Liv

 

Ich habe geschlafen wie ein Stein und fühle mich einigermaßen ausgeruht, als mein Wecker um sieben Uhr am Morgen klingelt. Auf den Spa-Bereich bin ich sehr neugierig, im Internet sah das alles vielversprechend aus. Die Wetter-App verspricht, dass heute ein sonniger Tag werden wird, also wird auch Noah beim Skifahren auf seine Kosten kommen. Ich bin gespannt, was er am Abend berichten wird, und irgendwie freue ich mich schon auf das gemeinsame Essen. Es war wirklich nett und wir haben uns gut unterhalten. Insgeheim habe ich mich auch darüber gefreut, dass er gefragt hat, ob ich ihn begleiten würde, das zeigt doch zumindest, dass ich ihm nicht auf den Wecker gegangen bin.

Im Frühstücksraum ist um diese Tageszeit noch nicht viel los, umso besser, denn so habe ich genug Zeit, mir das Angebot anzusehen und ein paar Fotos zu machen. Alles sieht sehr appetitlich aus, und ich muss mich fast schon zügeln, um nicht zu viel zu essen. Noah wird wohl später frühstücken, das ist gut, dann kann er berichten, wie das Buffet bei ihm ausgesehen hat und ob alles wieder aufgefüllt worden ist.

 

Ich genieße die Massage im Spa-Bereich und bin wirklich angetan von dem Ambiente hier. Es gibt auch einen Pool, der bis in den Außenbereich führt und einen fantastischen Blick auf die Berge bietet. Irgendwo da oben vergnügt sich jetzt wohl Noah beim Skifahren – soll er doch, ich wünsche ihm innerlich viel Spaß und gehe gut gelaunt in den Saunabereich. Dort lerne ich eine US-Amerikanerin kennen, die einen großen Mitteilungsdrang hat. Anfangs habe ich ihr noch höflich geantwortet, mittlerweile geht sie mir ein bisschen auf die Nerven mit ihrem Dauergeplapper. Doch immerhin kann ich ihr ein paar Infos über die Hotelanlage entlocken, denn sie ist hier Stammgast und bereits das elfte Mal in Folge hier.

»Haben Sie schon gehört, dass das Wetter umschlagen soll?«, erzählt sie aufgeregt. »Es soll sehr viel Schnee geben.«

Jetzt hat sie mein Interesse mit einem Schlag wiedererlangt. »Wie bitte? Wirklich?« Ich bekomme ein mulmiges Gefühl im Bauch. Schnee ist zwar ganz schön, aber zu viel davon können wir gar nicht gebrauchen.

»Ja, es kam gestern im Wetterbericht. Natürlich ist das noch etwas unsicher, aber so wie es momentan aussieht, kommt da einiges auf uns zu.«

»Oh, das ist ja interessant«, stammele ich leise und bete innerlich, dass das nicht stimmen mag, denn die Aussicht darauf, mit dem Auto durch diese Witterung fahren zu müssen, ängstigt mich.

 

 

Noah

 

Das Skigebiet ist wirklich herrlich und die Bedingungen sind einfach traumhaft. Ich kann gut verstehen, dass die Region hier so beliebt ist. Also was das Skifahren betrifft, gibt es nur Pluspunkte. Im Verlauf des Tages werden die Pisten allerdings sehr voll, und es erfordert einiges an Aufmerksamkeit, damit man heil unten ankommt. Ich habe Nina ein paar Fotos geschickt, sie hat auch prompt geantwortet und mir weiterhin viel Spaß gewünscht. So ganz ist das noch nicht bei ihr angekommen, dass ich nicht zum Vergnügen hier bin. Aber meine Laune ist so gut, dass ich keine Lust auf weitere Diskussionen mit ihr habe. Soll sie halt denken, was sie will.

Als ich nachmittags zurück ins Hotel komme, bin ich angenehm erschöpft. Das Skifahren hat echt Spaß gemacht, aber ich merke auch, dass es das erste Mal in dieser Saison ist, dass ich auf den Brettern gestanden habe. Also beschließe ich, einen Besuch im Spa-Bereich anzuhängen und mich in einen Whirlpool plumpsen zu lassen.

Von Liv ist nichts zu sehen, offenbar hat sie den Bereich bereits verlassen. Für einen kurzen Moment bedaure ich das, ihr Anblick im Badeanzug hätte mich schon interessiert. Dann verbiete ich mir diese Gedanken sofort wieder. Es wäre ihr wahrscheinlich sehr unangenehm gewesen, hier auf mich zu treffen. Tja, genau aus diesem Grund mache ich solche Geschäftsreisen lieber mit männlichen Kollegen, da gibt es diese schambehafteten Momente eben nicht.

Trotzdem freue ich mich irgendwie schon, sie gleich beim Abendessen wiederzusehen. Ich bin sehr gespannt, was sie erlebt hat.

 

Diesmal treffen wir beide gleichzeitig in der Hotellobby ein; als sie mich entdeckt, winkt sie mir fröhlich zu.

»Guten Abend, Liv. Wie war Ihr Tag?«, erkundige ich mich freundlich. Doch ihr Strahlen verrät, dass sie die letzten Stunden genossen hat.

»Sehr schön. Der Spa-Bereich ist wirklich zu empfehlen.«

»Okay, jetzt haben Sie mich neugierig gemacht.«

 

Diesmal haben wir das Buffet-Restaurant ausgewählt, hier ist der Andrang doch recht groß, und es dauert eine kleine Ewigkeit, bis wir wieder am Tisch sitzen.

»Also, was haben Sie erlebt?«, frage ich nach.

Liv erzählt mir von den Anwendungen und wie der Bereich aufgebaut ist, ihr scheint kein Detail entgangen zu sein. Dann erkundigt sie sich nach meinem Tag.

»Die Skibedingungen sind absolut fantastisch. Ich konnte auch mit mehreren Leuten sprechen und habe diese nach ihren Erfahrungen befragt. Es gab nur positive Rückmeldungen.«

»Für den Wellness-Bereich kann ich das ebenfalls bestätigen. Alles ist sauber und gepflegt. Das Personal ist freundlich und zurückhaltend. Auch als Frau allein habe ich mich sehr gut aufgehoben gefühlt. Ich denke, das Hotel bietet ein akzeptables Preis-Leistungs-Verhältnis. Wenn man andere Leute mag«, fügt sie dann grinsend an, als sie einen Blick auf die Schlacht am Buffet wirft.

»Und? Mögen Sie andere Leute?«, hake ich nach.

»Im Skiurlaub finde ich das schon in Ordnung. Solange die Warteschlangen nicht zu lang sind. Allerdings für diejenigen, die eher Ruhe suchen, ist das hier nichts.«

Ich nicke nur, sie hat das alles perfekt zusammengefasst. »Sie sind eine gute Beobachterin, Liv.«

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und für einen Moment lang sehen wir uns direkt in die Augen. »Danke.«

Sie unterbricht den Blickkontakt als Erste und trinkt einen Schluck aus dem Wasserglas. »Wann brechen wir morgen auf?«

»Ich denke, es reicht, wenn wir um neun Uhr losfahren. So weit ist die Strecke ja nicht.«

»Heute habe ich mich mit einer Amerikanerin unterhalten. Sie hat mir erzählt, dass das Wetter umschlagen soll.« In ihrer Stimme kann ich Unsicherheit heraushören.

»Ja, ich habe den Wetterbericht auch gehört. Hoffen wir mal, dass es nicht so schlimm wird.«

»Hm.« Liv wirkt nicht gerade beruhigt, mit ihrem Finger malt sie immer schneller werdend Muster auf die Tischdecke. »Das hoffe ich auch«, fügt sie leise an.

Rasch fange ich ihre Hand ein und drücke sie leicht. Als ihr Blick auf unsere Hände fällt, lasse ich sie wieder los. »Das wird schon werden. Die Leute hier wissen, wie sie mit Schnee umzugehen haben, und ich bin sicher, dass wir gut durchkommen werden«, versuche ich sie zu beruhigen.

»Okay.« Sie nickt und schaut mir wieder in die Augen. »Bereit für den nächsten Gang?«, fragt sie dann hastig.

»Na klar.« Ich finde es fast schon ein wenig schade, dass dieser kleine Moment vorbei ist.

Wir unterhalten uns weiter ganz angeregt über das Hotel und dessen Vorzüge, dabei staune ich nebenbei, welche Portionen Liv verdrücken kann. Nina würde niemals so viel zu sich nehmen und das Nachspeisenbuffet links liegen lassen.

»Und? Wie hat es Ihnen geschmeckt?«, frage ich, als sie den letzten Löffel der Mousse im Mund hat.

»Ganz gut. Allerdings fand ich das gestrige Restaurant besser. Hier war das Essen teilweise schon kalt.«

»Und der Fisch war trocken. Die negativen Bewertungen zur Küche kann ich also zum Teil verstehen. Begleiten Sie mich heute noch in den Ort?«

Liv scheint kurz zu überlegen, dann stimmt sie aber zu. »Ja, gerne, ich kann einen Spaziergang nach dem Essen gut gebrauchen.«

 

 

Liv

 

Ich gehe noch kurz hoch in mein Zimmer, um mir die Jacke und eine Mütze zu holen. Zuerst war ich etwas unschlüssig, ob ich Noah wirklich begleiten soll, denn wenn ich ehrlich bin, hat er mich eben ein wenig aus der Bahn geworfen, als er meine Hand festgehalten hat. Dabei ist das total lächerlich, das weiß ich ja selbst. Wahrscheinlich war er nur genervt, weil ich mit dem Finger Kreise gemalt habe, eine blöde Angewohnheit von mir, wenn ich unsicher bin. Trotzdem war es ein netter Abend und nachher hat sich ja alles wieder normalisiert. Als ich das Zimmer verlasse, atme ich noch einmal tief durch.

Jetzt stell dich nicht an und bilde dir bloß nichts ein! , hämmere ich mir ein und begebe mich auf den Weg nach unten.


Wir treffen uns vor dem Hoteleingang. Als Noah mich sieht, umspielt ein breites Grinsen seinen Mund. »Schicke Mütze.«

Verdutzt schaue ich ihn an. »Ein Geschenk meiner Oma.«

»Sie steht Ihnen ausgezeichnet.« Er lacht, dann machen wir uns auf den Weg. Ich überlege kurz, ob er mich hochnehmen wollte, doch ich liebe meine Mütze und werde sie bestimmt nicht wegen irgendwelcher Bemerkungen absetzen.

Dann erwacht meine Neugier auf den kleinen Ort, ich bin gespannt, was er so zu bieten hat. Wir erreichen in kurzer Zeit eine Art Hauptstraße, an der links und rechts Restaurants und Kneipen beheimatet sind. Es sind jede Menge Leute unterwegs und die Lokale sind gut besucht. Von einigen nehme ich mir Flyer mit und mache Fotos.

Wir biegen in eine kleine Seitengasse ein, hier kommt uns eine große Gruppe Menschen entgegen, und da wir etwas weiter auseinandergehen, werden wir von der Menge getrennt. Zuerst will ich den Männern ausweichen, doch ich stolpere und bin plötzlich umringt von feixenden Urlaubern.

»Hey, du hättest auch in meine Arme fallen können.« Ein blonder Typ lacht mich an und hält mir die Hand hin.

»Dafür bist du mir nicht stark genug«, kontere ich, was ein lautes Johlen der Umstehenden nach sich zieht.

Plötzlich spüre ich einen Arm um meine Schultern, zuerst will ich ihn wegschlagen, doch dann sehe ich in Noahs Gesicht.

»Alles okay, Darling?«, fragt er mich laut.

»Äh, ja, natürlich«, stammele ich verdutzt.

»Okay, okay. Hab schon verstanden.« Der Blonde grinst. »Wir sind schon weg.«
Als die Horde weiterzieht, lässt Noah mich wieder los.

Er räuspert sich etwas. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht Hilfe gebrauchen.«

»Ähm, ja. Nein. Ich weiß nicht«, antworte ich verlegen. »Ich glaube nicht, dass die was gemacht hätten. Die waren eher in Partylaune. Aber danke.«

»Kein Problem.«

»Sollen wir etwas trinken gehen? Die Bar da vorne habe ich gestern schon entdeckt und sie sieht gemütlich aus«, schlägt er mir vor.

»Ja, das ist eine gute Idee.« Ich lächele ihm zu und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mich eben schon wieder aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

 

 

Noah

 

Die Bar war wirklich ein Glücksgriff. Hier ist es nicht so voll und wir ergattern einen kleinen Tisch in einer Nische. Es ist richtig urig hier drin, es sieht aus wie in einer typisch kanadischen Blockhütte. Liv entschuldigt sich kurz, als wir die Bestellung aufgegeben haben, und macht sich auf den Weg zu den Toiletten.

Mein Blick fällt auf ihre Kopfbedeckung, die sie neben sich auf die Bank gelegt hat, und ich muss wieder grinsen. Die Mütze hat oben eine Bommel, und zwei Bänder, mit denen man sie unter dem Kinn zubinden kann, baumeln an der Seite herab. Nina würde so etwas niemals tragen, da bin ich mir sicher. Sie bevorzugt Stirnbänder, am liebsten mit einem gut sichtbaren Designerlabel. Eigentlich ist sie gar nicht so eine Tussi, jedoch färben manchmal ihre High-Society-Freundinnen auf sie ab. Dann lieber so eine Mütze, denke ich. Zumal sie auch sehr gut zu ihrer Trägerin passt, sie wirkt genauso lebenslustig wie Liv.

Die Szene von eben kommt mir noch einmal in den Sinn. Kann schon sein, dass die Kerle ihr nichts getan hätten, vielleicht war alles ganz harmlos. Doch eine hübsche Frau umringt von Männern – das kann auch anders ausgehen. Außerdem war es nicht unangenehm, sie zu beschützen. Man weiß ja nie, was hätte passieren können.

Liv kommt zurück, mittlerweile ist auch ihr Tee serviert worden.

»Trinken Sie keinen Alkohol?«, frage ich sie neugierig.

»Na ja, ich bin ja quasi im Dienst. Da gehört sich das nicht. Außerdem möchte ich nachher noch meinen Bericht zu dem Hotel hier schreiben.« Sie lächelt mich scheu an. »Und das sollte ich wohl besser mit klarem Kopf machen.«

»Sehr vorbildlich, Liv«, lobe ich sie und nehme einen Schluck von dem Bier. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen erkläre, dass Sie für heute Feierabend haben?«
»Sind Sie denn mein Vorgesetzter?«, antwortet sie frech und es blitzt vergnügt in ihren blauen Augen auf.

»Hey! Natürlich bin ich das!«, protestiere ich lachend. »Haben Sie daran irgendwelche Zweifel?«

Liv kichert vergnügt auf. »Natürlich nicht, Sir.«

»Also: Möchten Sie vielleicht jetzt ein alkoholisches Getränk?«

»Okay.« Sie nickt und greift nach der Karte. »Ein Glas Rotwein.«

 

Offenbar trinkt sie nicht viel Alkohol, denn dieses eine Glas merkt man ihr an. Doch es ist nicht unangenehm mit ihr, sondern es wird ein lustiger Abend. Einen weiteren Drink lehnt sie ab und so machen wir uns auf den Weg zurück zum Hotel.

Als wir die Kneipe verlassen, stutze ich, denn es schneit.

»Oh …« Liv schaut genauso verdutzt drein. »Hoffentlich sind das nicht schon die Schneemassen, die angekündigt sind.«

»Sieht erst mal nicht so aus.« Ich zucke mit den Schultern. »Na, wenigstens haben Sie eine Mütze.«

»Ja, das ist wohl mein Glück«, kichert Liv.

 

Auf dem Heimweg kommt sie ein paarmal ins Straucheln, denn unter dem Schnee sind die Straßen teilweise gefroren und glatt.

»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«, frage ich sie grinsend.

Sie überlegt kurz, dann hakt sie sich lachend unter. »Das ist aber nett, Boss.«

»Ich möchte nicht riskieren, dass Sie sich den Hals brechen.«

»Sehr fürsorglich, wirklich. Ich hab die falschen Schuhe angezogen.«

Macht nichts , denke ich für mich.

 

Es wird ein witziger Spaziergang nach Hause. Ein paarmal schlittern wir über den glatten Untergrund und krallen uns lachend aneinander fest. Irgendwie kindisch, aber ich habe lange nicht mehr so einen Spaß gehabt.

Als wir trockenen Boden unter den Füßen haben, lässt sie mich sofort los, was ich fast ein bisschen bedauere. Für diesen Gedanken könnte ich mir allerdings direkt wieder in den Hintern treten. Sie ist eine nette Kollegin – nicht mehr und nicht weniger. Punkt.