Noah
»Hast du alles?« Fragend schaue ich auf Livs Gepäck. Ein letztes Mal huscht sie durch die Hütte, dann nickt sie mir zu.
»Okay, dann los.« Ich schnappe mir einen ihrer Koffer, den anderen trägt Kenneth bis zu unserem Wagen. Es hat eine kleine Ewigkeit gedauert, das Auto von den Schneemassen zu befreien, jetzt kann ich nur hoffen, dass Kenneth recht behält und wir wirklich problemlos bis zur Hauptstraße kommen werden.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.« Susan schüttelt uns zum Abschied noch einmal die Hände. »Kenneth wird die erste Zeit vorfahren. Dann werden Sie den Weg zur Hauptstraße selbst finden können.«
»Hoffen wir mal, dass Noah die Finger vom Navigationssystem lässt!«, sagt Liv glucksend.
Ich werfe ihr einen empörten Blick zu und kneife sie in die Nase. »Nicht so frech, Sommersprosse!« Dann wende ich mich Susan zu. »Nochmals vielen Dank für alles. Ohne Sie wären wir verloren gewesen.«
Sie winkt nur ab. »Ach was. Das ist doch selbstverständlich. Und Sie hätten mir auch nicht so viel Geld geben müssen.«
»Nehmen Sie es bitte. Wir stehen in Ihrer Schuld.«
Kenneth fährt langsam vor. In der kleinen Ortschaft sind die Straßen nur notdürftig geräumt. Innerlich schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich mich bei der Autovermietung für den großen Geländewagen entschieden habe. Mit jedem anderen Auto wären wir wohl niemals so schnell vom Fleck gekommen. Wie abgesprochen, hält Kenneth nach einiger Zeit am Straßenrand an und kommt zu uns an den Wagen.
»Sie folgen noch drei Meilen dieser Straße hier und biegen dann nach links ab. Egal, was das Navigationsgerät Ihnen auch anzeigen wird. Dann kommen Sie ganz sicher zur Hauptstraße.«
Okay, das musste ja kommen, dass er auch noch mal auf der Sache rumreiten wird. Ich habs ja verdient, ich weiß.
»Keine Sorge, Sir. Ich werde aufpassen, dass er keine Abkürzungen mehr nimmt«, verspricht Liv ihm lachend.
»Dann bin ich beruhigt.« Kenneth fällt in ihr Lachen mit ein. »Gute Fahrt.«
»Und wie willst du es verhindern, wenn ich doch einen anderen Weg fahren möchte?«, frage ich Liv provokant, als wir unsere Fahrt fortsetzen. »Immerhin bist du mir ausgeliefert.«
Liv haucht mir einen Kuss auf die Wange. »Ich werde dich schon von Dummheiten abhalten.«
Leider ist dir das bis jetzt nicht so gut gelungen, Liv. Aber davon weißt du ja nichts , schießt es mir durch den Kopf. Schnell schiebe ich die unangenehmen Gedanken zur Seite. Ich werde mit Sicherheit genügend Gelegenheit haben, mein Verhalten bitter zu bereuen. Doch noch genieße ich die Zeit mit ihr einfach zu sehr.
Um sie zu ärgern, betätige ich an besagter Kreuzung den Blinker nach rechts, aber Liv hat aufgepasst und kreischt laut los. »Wag es ja nicht, Noah!«
Ich lache auf, dann beuge ich mich schnell zu ihr hinüber, greife in ihren Nacken und presse einen Kuss auf ihre Lippen. »Keine Sorge, ich bin selbst daran interessiert, möglichst schnell mit dir in ein Hotelzimmer zu kommen.«
»Ist das so?« Sie sieht mich aus diesen knallblauen Augen an und ihr Blick geht mir echt unter die Haut. Für einen Moment beschleicht mich eine leichte Traurigkeit, aber ich weigere mich, dem genauer auf den Grund zu gehen.
»Jetzt fahr endlich!«, sagt sie vergnügt und der kurze trübsinnige Augenblick ist verflogen.
Als wir die Hauptstraße erreichen, atmet Liv erleichtert auf. »Gott sei Dank.«
»Es ist schon ein bisschen demotivierend, wie wenig du meinen Fähigkeiten als Autofahrer traust«, knurre ich.
Statt einer Antwort lehnt sie ihren Kopf an meine Schulter und eine Hand auf meinen Oberschenkel. »Ich habe Vertrauen zu dir, Noah!«
Ich schlucke nur und hauche ihr einen Kuss auf den Kopf.
Das solltest du aber nicht, süße Liv!
Es ist schon gegen 21 Uhr, als wir unser Ziel erreichen. Aufgrund des Schneechaos haben wir ein Hotel stornieren müssen, jetzt hoffe ich, dass wir hier ohne Probleme einchecken können. Liv überlässt die Formalitäten mir und macht es sich in der Lobby gemütlich, während ich zur Rezeption gehe.
»Guten Abend, Mr. Williams. Hatten Sie eine angenehme Anreise bei diesen Schneemassen?«, begrüßt mich ein freundlicher Mitarbeiter.
»Eigentlich nicht.« Kurz berichte ich ihm von unserer unfreiwilligen Pause und er verzieht das Gesicht. »Ja, wir haben einige Stornierungen bekommen aufgrund des Schneefalls. Schön, dass Sie jetzt hier sind. Zwei Einzelzimmer, richtig?«
»Ja, genau.« Doch dann überlege ich es mir anders. »Haben Sie auch noch ein Doppelzimmer frei?«
Er wirft einen Blick auf seinen Monitor. »Ja. Das ließe sich einrichten. Sollen wir umbuchen? Dann storniere ich die beiden Einzelzimmer.«
»Nein, nein. Das Doppelzimmer bezahle ich privat«, erkläre ich ihm.
Ich sehe in seinem Blick, dass er sofort versteht. »Alles klar, Mr. Williams. Hier sind Ihre Karten.«
»Okay, Lady. Hier ist dein Zimmer.« Vor einem der Einzelzimmer bleibe ich stehen.
»Alles klar.« Liv zögert einen kurzen Moment, dann öffnet sie die Tür. »Sehen wir uns gleich noch?«, fragt sie. Ich kann ihre Unsicherheit deutlich heraushören.
»Das hoffe ich doch. Ich habe einen Mordshunger, du nicht?«
»Ja, auch. Dann sag mir Bescheid, wann ich den Zimmercheck bei dir machen kann.«
»Am besten sofort, oder?« Ich deute mit dem Kopf auf das gegenüberliegende Zimmer. »Okay?«
»Alles klar.«
Liv folgt mir mit ihrem Koffer. Doch bevor sie ihn öffnen kann, halte ich schnell ihre Hand fest. »Warte. Ich muss dir was zeigen.«
»Wie bitte? Was denn?«
Ich hauche ihr einen Kuss auf die Hand. »Folge mir einfach.«
Ich bin tatsächlich etwas nervös, als wir vor der Tür des Doppelzimmers stehen.
»Ich verstehe nicht …«, stammelt Liv. Dann öffne ich die Zimmertür und schiebe sie wortlos hinein.
Der Rezeptionist hat es gut mit uns gemeint. Das Zimmer ist viel schöner als mein Einzelzimmer, und obwohl es dunkel draußen ist, lässt sich ein fantastischer Blick vom Balkon aus erahnen.
Liv will gerade ansetzen, doch bevor sie etwas sagen kann, lege ich einen Finger auf ihre Lippen.
»Würdest du mit mir hier übernachten? Ich würde so gerne dort weitermachen, wo wir in der Hütte aufgehört haben.« Schnell räuspere ich mich und wage es kaum, ihr in die Augen zu schauen.
Ein freudiges Strahlen legt sich auf ihr Gesicht und mir fällt ein Stein vom Herzen. »Sehr gerne, Noah.«
Ich reiße sie fast schon an mich und beginne, sie gierig zu küssen. Dann versuche ich sie zum Bett zu bugsieren, wir geraten ins Straucheln und können uns gerade noch auf die Matratze retten. Laut prustet Liv los, als ich auf ihr zum Liegen komme.
»Du bist umwerfend, Liv. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Zärtlich streichele ich über ihr Gesicht.
»Du auch.« Sie wird plötzlich ganz ernst, und ich frage mich, was ihr wohl gerade durch den Kopf geht.
Doch vielleicht ist es besser, wenn ich es gar nicht weiß.
Nina
Ich habe gerade den letzten Schluck meines Morgenkaffees intus, als mein Handy sich meldet. Erleichtert sehe ich, dass es Noah ist. Endlich!
»Guten Morgen, meine Schöne. Hab ich dich geweckt?«
»Nein, kein Problem. Ich bin gerade mit dem Frühstück fertig und wollte gleich los. Du weißt doch, dass du mich immer anrufen kannst. Wie geht es dir? Wo seid ihr?«
»Wir sind jetzt wieder in einem Hotel. Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber es war einfach nicht möglich. Die Leitungen waren durch das Unwetter tot.«
»Du hast ja so was schon angedeutet. Wie … wie war es denn in der Hütte?« Ich bemühe mich, nicht zu neugierig zu klingen. Aber ich kann nicht leugnen, dass mein Kopfkino in den letzten Tagen verrücktgespielt hat.
»Langweilig würde ich mal sagen. Kein Fernsehempfang, kein Internet.«
»Und was habt ihr dann gemacht?« Hoffentlich klinge ich jetzt nicht zu hysterisch.
»Musik gehört. Und gelesen. Also zumindest Liv hat dies getan.«
»Und wie war die Schlafsituation?«
Ich kann hören, dass er genervt ausatmet. »Schwierig, Nina. Die Schlafsituation war schwierig. Sie hat im Bett geschlafen und ich auf dem Sofa vor dem Kamin. Zufrieden?«
»Ja, zufrieden«, antworte ich schnippisch, was mir aber sofort wieder leidtut. »Noah?«
»Ja?«
»Ich bin froh, wenn du wieder zurück bist. Und ich freue mich schon auf dich.«
»Ich mich auch auf dich, meine Schöne.«
Ja, ich sollte mich besser fühlen, als wir das Gespräch beendet haben. Aber irgendwie kann ich das nicht. Alles, was ich will, ist, dass er schnell wieder zurückkommt.