16

 

Liv

 

Als das Flugzeug in der Parkposition steht, lasse ich mir extra viel Zeit mit dem Aussteigen. Ich will alles dafür tun, um Noah nicht über den Weg laufen zu müssen. Den ganzen Rückflug über habe ich darüber nachgedacht, wie ich mich ihm gegenüber jetzt verhalten soll. Doch ich bin zu keiner vernünftigen Lösung gekommen. Es tut einfach nur wahnsinnig weh und alles, was ich will, ist, mich ins Bett zu legen und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Fast schon bereue ich, dass ich Merle eingeladen habe. Aber vielleicht tut mir etwas Abwechslung ja auch gut.

 

In meiner Wohnung angekommen, lasse ich mich einfach nur aufs Sofa plumpsen, und es dauert keine Sekunde, bis mich der Schmerz mit voller Wucht wieder überrollt. Aber jetzt ist es egal, ich muss mich nicht mehr zusammenreißen wie im Flugzeug. Mein ganzer Körper tut weh, und ich spüre, dass ich zittere, als die Anspannung der letzten Stunden sich löst.

 

Gegen acht Uhr am Abend läutet es an der Tür und ich schrecke hoch. Überrascht stelle ich fest, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Ich werfe einen kurzen Blick in den Spiegel und meine Befürchtung wird bestätigt: Ich sehe einfach fürchterlich aus. Meine Augen sind ganz verquollen und meine Nase ist vom vielen Putzen wundgescheuert. Doch um das alles mit Make-up zu überdecken, bleibt mir keine Zeit. Ich höre, dass Merle die Treppe heraufkommt, kurz darauf steht sie auch schon vor mir.

»O Gott! Liv! Was ist passiert?« Meine Freundin sieht mich entsetzt an. »Du siehst scheiße aus!«

Statt einer Antwort packe ich sie am Ärmel ihrer Winterjacke und ziehe sie in die Wohnung.

»Kannst du mich in den Arm nehmen?«, bitte ich sie mit weinerlicher Stimme, als ich die Tür hinter uns geschlossen habe.

»Ja, natürlich, mein Schatz.« Merle lässt ihre Tasche fallen und drückt mich fest an sich. »Was ist denn bloß passiert?«, fragt sie mich immer wieder leise.

Zuerst kann ich gar nichts sagen. Stattdessen rinnen mir die Tränen unkontrolliert übers Gesicht und vor lauter Schluchzen bringe ich kein Wort über die Lippen. Es dauert eine kleine Weile, bis ich mich halbwegs wieder unter Kontrolle habe.

 

Wir gehen ins Wohnzimmer, hektisch fege ich einen Haufen Papiertaschentücher vom Sofa, bevor wir uns setzen.

»Ich bin so eine bescheuerte Kuh«, sage ich dann leise. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unsagbar dämlich ich bin.«

»Was hast du denn getan? Hast du deinen Boss um die Ecke gebracht?«, fragt Merle mich scherzhaft. Doch nach Lachen ist mir wahrlich nicht zumute.

»Vielleicht hätte ich das besser mal tun sollen.« Mir gelingt mit Mühe ein schiefes Grinsen. »Dann wäre mir vieles erspart geblieben.«

»Okay. Es hat also etwas mit deinem Boss zu tun?« Ich spüre ihren prüfenden Blick auf mir ruhen. Als ich nicke, wird ihr schlagartig klar, was geschehen ist.

»Du … du hast mit ihm geschlafen?« Mit weit aufgerissenen Augen sieht sie mich an.

»Ja. Ich hab alle meine Grundsätze über Bord geworfen und mich auf ihn eingelassen. Wie bescheuert muss man eigentlich sein?« Erneut kullern mir die Tränen übers Gesicht.

»Na ja, erst mal muss das ja nichts Schlimmes sein. Wie … wie seid ihr denn verblieben? Ich meine, setzt ihr eure Affäre jetzt fort oder …?«

»Es gibt keine Affäre. Er hat am letzten Tag unserer Reise die ganze Sache beendet. Noah hat nämlich eine feste Beziehung.« Die letzten Worte kann ich nur noch flüstern.

»Wie bitte? Was für ein Arsch!« Merle springt auf und läuft ruhelos im Wohnzimmer auf und ab. »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Ist es aber.« Ich zucke mit den Schultern und vergrabe das Gesicht hinter meinen Händen.

Merle kommt wieder zu mir und zieht mich in ihre Arme. »Scheiße, Liv. Das tut mir so leid. Und ich hab vor eurer Reise auch noch Witze darüber gemacht.«

»Was soll ich denn jetzt bloß tun? Kündigen? Oder soll ich darauf warten, dass er mich vielleicht rausschmeißt?« Diese Option versetzt mir einen Schlag in die Magengrube. Ich liebe meinen Job und mir gefällt es in der Firma. Doch wie soll das weitergehen? Wird Noah mich tolerieren können? Und werde ich es aushalten, mit ihm weiterhin zusammenzuarbeiten?

»Meinst du, das würde er tun? Also dich einfach rausschmeißen?« Merle klingt völlig fassungslos. »Das wäre wirklich das Allerletzte.«

»Aber es wäre nicht völlig ausgeschlossen. Ich bin in der Probezeit. Und vielleicht befürchtet er, dass ich Ärger machen könnte … Ich sollte zumindest darauf gefasst sein, oder?«

Merle nickt nur. »Meinst du denn, du schaffst es überhaupt, weiterhin dort zu arbeiten? Ich könnte es verstehen, wenn du selbst kündigst.«

»Wenn ich das nur wüsste …« Müde streiche ich mir eine Strähne hinters Ohr. »Im Moment kann ich mir gar nicht vorstellen, ihn auch nur anzusehen. Aber vielleicht komme ich leichter über ihn hinweg als über die Sache mit Mike. Immerhin sollte ich langsam Übung darin haben, mit solchen Arschlöchern umzugehen.«

»Mensch, Süße, wenn ich doch nur wüsste, wie ich dir helfen könnte. Aber ich weiß da ehrlich gesagt auch keinen Rat. Vielleicht solltest du einfach mal alles auf dich zukommen lassen. Und hey: Man läuft sich ja nicht zwangsläufig ständig über den Weg, oder?«

»Das stimmt schon. Und viel bleibt mir auch nicht übrig, als abzuwarten, wenn ich nicht kündigen will.«

 

Irgendwann habe ich mich wieder im Griff und nach einer riesigen fettigen Pizza und ein paar Gläsern Wein schaffe ich es sogar, Merle Fotos von der Reise zu zeigen. Bei den Bildern, auf denen Noah zu sehen ist, stutzt sie.

»Wahrscheinlich hasst du mich jetzt dafür, wenn ich das sage, aber hey … ihr seht wirklich richtig verliebt aus.« Vorsichtig schaut sie mich von der Seite an. »Entweder ist der Kerl ein guter Schauspieler oder er ist einfach ein riesengroßer Feigling, der nicht zu dir stehen kann.«

Ich runzele die Stirn und schaue auf mein Handy. Eigentlich hatte ich die Fotos längst löschen wollen, aber ich bringe es einfach nicht übers Herz. Wahrscheinlich habe ich eine masochistische Ader.

»Es … es wirkte auch alles echt. Jedenfalls für mich«, sage ich mit einem dicken Kloß im Hals.

 

Merle bleibt die Nacht über bei mir, und ich bin ihr sehr dankbar dafür, nicht allein sein zu müssen. Natürlich mache ich kein Auge zu, obwohl ich hundemüde bin. Also starre ich einfach in die Dunkelheit und hasse abwechselnd Noah oder mich.

 

 

Nina

 

Noah ist eingeschlafen, doch ich finde noch keine Ruhe. Die letzten Stunden ziehen an mir vorüber, es war ein schöner, harmonischer Abend, genau so, wie ich es mir erhofft hatte. Noah hat mich zum Essen eingeladen und mir kleine Geschenke überreicht, die er mir mitgebracht hat. Ich kann mich nicht beschweren, er war wirklich sehr bemüht und aufmerksam, nur vielleicht ein bisschen wortkarg, was die Reise anging. Aber womöglich bilde ich mir das auch nur ein. Ich weiß ja, ich bin viel zu misstrauisch ihm gegenüber, Joanna sagt mir das auch ständig. Wahrscheinlich sehe ich wieder mal nur Gespenster.

 

 

Noah

 

Es ist zum Verrücktwerden, jetzt liege ich schon bestimmt zwei Stunden wach im Bett – an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Aber natürlich ist es nicht der Jetlag, der mir zu schaffen macht, sondern diese verdammte Grübelei und das blöde Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Und die Krönung dieser ganzen Scheiße ist die Befürchtung, dass nicht der Seitensprung falsch war, sondern die Tatsache, Liv aufgegeben zu haben.

Ich werfe einen Blick auf die schlafende Frau neben mir. Nina ist einfach wunderschön, und es gibt nichts, was ich an den letzten Stunden, die wir seit meiner Heimkehr verbracht haben, auszusetzen hätte. Sie hat sich sehr über meine Geschenke gefreut. Ihr Lieblingsparfüm und ein Paar hübscher Ohrringe habe ich am Flughafen besorgen können. Wir waren essen und hatten dann einen anregenden Abend zu Hause. Man könnte es perfekt nennen, und das Verrückte an der ganzen Sache ist, dass es doch genau das ist, was ich wollte. Eine schöne Frau und eine unkomplizierte Beziehung. Und jetzt stelle ich das infrage? Ich muss bescheuert sein.

 

Leise stehe ich auf und schnappe mir meine Joggingklamotten. Es wird Zeit, den Kopf freizubekommen und zu versuchen, das Gedankenkarussell zum Stoppen zu bringen. Meistens hilft mir Sport dabei, wieder klarer zu sehen. Ich kann nur hoffen, dass mir das gelingt.

 

Ich laufe meine gewohnte Strecke. Es ist kalt und ungemütlich und natürlich ist an einem Sonntagmorgen noch niemand so früh unterwegs. Es fängt gerade an zu dämmern, bis auf ein paar Leute mit Hunden begegnen mir keine Menschen. Jack Huber hat mir bereits eine Mail geschickt. Er erwartet den ausführlichen Reisebericht morgen Nachmittag. Eigentlich ist alles so weit fertig, Liv und ich haben auch schon geklärt, wer welchen Part vorstellen wird. Normalerweise würde ich vorschlagen, kurz vorher noch mal alles durchzugehen, aber wie soll ich ihr bloß gegenübertreten? Ich fühle mich so verdammt mies, so einen Ekel vor mir selbst habe ich noch nie verspürt.

Entgegen meiner Hoffnung hilft mir das Laufen diesmal nicht. Immer wieder spukt mir Liv im Kopf herum, es ist zum Verrücktwerden. Also schnappe ich mir das Handy und wähle die Nummer meines Freundes Johannes. Wahrscheinlich wird er ausflippen, weil ich ihn so früh anrufe, aber das hier ist ja quasi ein Notfall.

»Boah, Alter, wer hat dir denn ins Gehirn geschissen? Hast du mal auf die Uhr geguckt? Es ist Sonntag!«, mault er prompt los. »Bist du noch im Kanada-Modus?«

»Es tut mir leid, Jo. Aber können wir heute Abend mal quatschen?«

»Na klar können wir das. Ich hätte aber auch zugesagt, wenn du mich zwei Stunden später gefragt hättest«, knurrt er unbeirrt weiter. »Mit unseren Ladys oder nur wir beide?«

»Nur wir beide.« Normalerweise ist es ganz nett, wenn Johannes seine Freundin Mia mitbringt. Sie und Nina verstehen sich sehr gut. Aber heute scheidet diese Option natürlich aus.

»Alles klar. Im Pub in der Königsstraße? Ich kann um acht da sein«, schlägt er vor.

»Bis später. Und noch mal sorry für den frühen Anruf.«

»Die ersten beiden Runden gehen auf dich, damit das klar ist. Hat es denn einen bestimmten Grund, warum du so früh auf den Beinen bist?«

»O ja, den hat es. Aber das erzähle ich dir später lieber in Ruhe.«

»Danke, Mann. Jetzt bin ich wach! Was ist los?«

»Ich hab Scheiße gebaut. Richtig große Scheiße.«

»Raus damit.«

»Ist Mia in der Nähe?«, frage ich vorsichtshalber.

»Ja, klar.«

»Dann lieber alles heute Abend, okay?«

»Fuck! Diese Art von Scheiße also. Alles klar.«

 

»Ich gehe heute Abend mit Jo in den Pub«, erkläre ich Nina später beim Frühstück.

»Ach ja? Super. Dann kann ich Mia den neusten Klatsch aus dem Beautysalon erzählen.«

»Das kannst du gerne tun, meine Schöne. Allerdings treffen Jo und ich uns alleine, okay?«

»Ah, so ist das geplant. Na ja, schade. Wenn ihr unbedingt einen Männerabend machen wollt … bitte schön.«

Ich kann ihr ansehen, dass ihr das nicht passt. Aber darauf kann ich gerade keine Rücksicht nehmen. »Ab und zu muss das eben sein. Machst du ja auch mit deinen Mädels.« Ich zwinkere ihr zu und hauche ihr einen Kuss auf den Mund.

»Vielleicht rufe ich Mia mal an. Um die Ecke hat eine neue Cocktailbar aufgemacht.« Nina sieht mich lauernd an, doch ich ziehe es vor, dazu nichts mehr zu sagen.

 

»Okay, ich bin auf alles gefasst. Was hast du verbrochen?« Jo wirft mir einen prüfenden Blick zu, dann nimmt er einen kräftigen Schluck Whiskey.

»Ich habe Nina betrogen. In Kanada, mit meiner Kollegin.« Ich ziehe es vor, direkt alles auf den Tisch zu packen, allerdings schaue ich Jo dabei lieber nicht an.

»Sag mal – bist du komplett übergeschnappt? Ey, Mann, das darf doch nicht wahr sein!« Mein Freund kippt seinen Drink jetzt in einem Zug hinunter, ich tue es ihm gleich. Dann nicke ich dem Barkeeper zu.

»Noch zwei, bitte.«

»Du weißt, ich bin kein Spießer, Noah, aber so langsam sind wir doch aus dem Alter raus, wo alles gevögelt werden muss, was Titten hat!«

»Ja, du hast absolut recht. Und glaub mir, das habe ich auch ganz bestimmt nicht geplant«, sage ich leise. »Es … es hat sich so ergeben. Ich weiß, wie abgedroschen das klingt, aber genau so war es.«

»Hat sie dich angemacht oder wie?«

»Nein, hat sie nicht.« Ich nehme noch einen Schluck und beginne dann, Jo alles zu erzählen. Von dem Abend, wo wir vergnügt von der Bar ins Hotel geschlittert sind, bis zu dem bitteren Ende.

»Okay, es kann ja sein, dass sie ganz süß ist. Aber trotzdem muss man sich doch zusammenreißen können, Alter.« Jo schüttelt den Kopf. »Oder hast du dich in sie verliebt?«

Meine Antwort sollte jetzt wahrscheinlich wie aus der Pistole geschossen kommen. Aber gerade als ich ansetze, um wild zu dementieren, kommt kein Ton heraus.

»Bist du verknallt in diese Liv?« Mein Freund sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Noah! Raus mit der Sprache!«

»Ich … ich glaub nicht. Nein, nein. Das bin ich nicht. Aber sie ist einfach ein ganz besonderer Mensch, und es tut mir so leid, wie das alles gelaufen ist. Ich mag sie echt gerne und sie hat das alles einfach nicht verdient.«

»Genauso wie Nina, oder? Ich verstehe dich nicht. Wirklich jeder aus unserem Freundeskreis beneidet dich wegen ihr. Und ich habe gedacht, dass ihr beide das perfekte Couple seid. Schmeiß das nicht weg, Noah. Es ist jetzt passiert, das ist scheiße, ja, aber noch kein Grund, alles aufzugeben. Vielleicht hast du auch gerade einen Crush auf Liv. Das vergeht wieder.«

»Ja, das kann sein.« Jos Worte gehen mir nah, aber vielleicht hat er recht. Vielleicht war es wirklich nur eine kleine Verliebtheit, spontan entstanden aus der intimen Situation in der Hütte. Und mithilfe von jeder Menge Alkohol.

Und die Male danach? , stichelt eine fiese Stimme in meinem Kopf. Doch ich schiebe sie energisch weg. Jo hat recht. Nina und ich passen perfekt zusammen, und ich wäre schön blöd, das alles wegzuschmeißen.

Auch wenn Liv noch so hinreißend ist …

Er klopft mir auf die Schulter. »Herrje, das ist wirklich eine beschissene Situation. Aber hey, von mir erfährt natürlich niemand etwas. Und wenn es nur ein kleiner Fehltritt war, dann solltest du Nina auch nichts davon erzählen.«

»Das hatte ich auch nicht vor.« Noch einmal ordere ich zwei Whiskeys. »Danke fürs Zuhören.«

 

»Na, ihr habt es ja lange ausgehalten«, sagt Nina, als ich gegen Mitternacht nach Hause komme.

»Ja, es war ganz nett«, antworte ich. »Und wie war’s bei euch?«

»Sehr schön, die neue Bar ist wirklich toll. Da müssen wir unbedingt auch mal hin.«

Ich gehe zu ihr und gebe ihr einen Kuss. »Das machen wir, meine Schöne. Ich geh ins Bett, morgen habe ich einen anstrengenden Tag vor mir.«

»Deswegen wundere ich mich ja, dass du so lange weg warst. Nebenbei bemerkt riechst du wie eine ganze Whiskybrennerei«, antwortet sie etwas schnippisch. Doch ich winke nur ab und mache ich mich auf den Weg ins Bad. Auf irgendwelche Vorhaltungen habe ich nämlich echt keine Lust.