25

 

Liv

 

So langsam könnte das Wetter mal ein bisschen besser werden. Der Regen geht mir auf die Nerven, und ich bin ziemlich durchgefroren, als ich am Montagmorgen das Büro betrete.

Ich habe Geburtstagskuchen dabei und stelle ihn in die Kaffeeküche. Das Kaffeetrinken gestern bei meinen Eltern war sehr nett, aber ich muss mir eingestehen, dass ich mit meinem Kopf ganz woanders war. Immer wieder ist mir Noahs Geste mit den Blumen in den Sinn gekommen, und ich zermartere mir ununterbrochen das Hirn, was das wohl zu bedeuten hatte. Ich werde mich bei ihm bedanken, dazu habe ich mich nun doch durchgerungen. Nachher werde ich kurz bei ihm vorbeigehen. Ich muss ja nicht groß mit ihm reden. Nur ein einfaches »Danke«. So ist jedenfalls der Plan.

 

Patricia ist die Erste, die mit einem Kuchenteller und einer Tasse Kaffee bei mir vorbeischaut.

»Hey, Liv, alles Liebe nachträglich.« Sie prostet mir mit der Kaffeetasse zu. »Hast du gefeiert?«

»Ja, am Samstagabend war ich mit ein paar Freunden in Barrys Bar , das ist eine Billiardkneipe. Es war ganz nett. Und gestern gab es ein kleines Kaffeetrinken mit der Familie.«

»Schön. Sag mal, hast du schon gehört, dass Noah längere Zeit weg ist?«, sagt sie dann und schaut mich neugierig an.

»Was? Echt?« Ich bin jetzt doch überrascht. »Nein, das wusste ich nicht. Weiß man, also weiß man denn warum?«

»Der Chef hat es gerade bekannt gegeben und Aufgaben an Toni und Jonas delegiert. Ich hab es zufällig mitbekommen, als ich in der Kaffeeküche war. Aber ich hab keine Ahnung, wieso. Scheint ja so, als ob er krank wäre. Sonst hätte man ja anders planen können.«

»Oh, okay.« Was Schlaueres fällt mir im Moment gerade nicht ein. »Dann hoffen wir mal, dass es nichts Schlimmeres ist.«

»Ja, hoffen wir das mal. Aber es ist die Rede davon, dass er mindestens vier Wochen lang ausfällt. Klingt nach einem Unfall.«

»Hm.« Ich will mich nicht an den Spekulationen von Patricia beteiligen. Aber eines steht für mich fest: Ich werde ihm gleich auf jeden Fall eine Nachricht schicken.

 

Es ist wie verhext. Immer wenn ich ansetzen will, um Noah eine Nachricht zu senden, steht wieder jemand mit einem Teller Kuchen in meinem Büro. Am längsten dauert es, Jonas abzuwimmeln. Gegen Mittag habe ich endlich ein bisschen Luft und greife nach dem Smartphone.

Hallo Noah, ich habe gehört, dass du längere Zeit ausfällst. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes? Gruß, Liv.

Ich muss mich zwingen, nicht ständig auf das Handy zu schielen. Als es schließlich klingelt, zucke ich erschrocken zusammen. Es ist Noah.

Total nervös nehme ich den Anruf an. Ich bin überhaupt nicht vorbereitet darauf, mit ihm zu sprechen. O Gott, was soll ich denn bloß sagen?

»Hey, Liv. Vielen Dank für deine Nachricht. Ich hab einen Brummschädel und soll nicht so lange auf dem Handy rumdaddeln. Deswegen dachte ich, ich melde mich einfach. Hoffe, das ist okay?«

Er klingt etwas erschöpft, sofort mache ich mir Sorgen. »Ja. Also, ja, natürlich ist das okay. Was ist denn passiert?«, frage ich angestrengt bemüht, mich nicht zu verhaspeln.

»Gestern hat mich wohl ein Auto angefahren. Ich kann mich daran aber nicht erinnern. Und heute wurde mein Bein operiert.«

»Oh, das … das klingt heftig! Hast du Schmerzen?«

»Nein, die haben mir was gegeben. Liv, haben dir die Blumen gefallen?«

Ich weiß nicht, wieso, aber ich bekomme einen dicken Kloß im Hals. »Ja, Noah. Die Blumen sind wunderschön. Vielen Dank dafür. Ich wollte mich heute bei dir persönlich bedanken.«

»Das freut mich. Vielleicht … vielleicht können wir uns ja mal auf einen Kaffee treffen? Also wenn ich hier rauskomme. Meinst du, das würde gehen?« Er klingt ungewohnt unsicher, so als ob er genauso nervös wäre wie ich. Aber warum sollte er?

»Ich weiß nicht, ob das so gut wäre, Noah. Bitte pass auf dich auf, ja? Und gute Besserung.«

Schnell drücke ich ihn weg; als die Verbindung unterbrochen ist, schießen mir die Tränen in die Augen. Es ist fast schon unheimlich, was er noch für eine Wirkung auf mich hat. Und das hier war nur ein Anruf.

 

Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder gefasst habe. Zum Glück kommt Simone vorbei und lenkt mich von weiteren Grübeleien ab. Auch sie platzt fast vor Neugierde, was mit Noah ist.

»Wir werden es bestimmt erfahren«, versuche ich sie zu trösten.

»Ja. Der Arme. Hoffentlich ist er nicht schlimm verletzt«, seufzt sie theatralisch und rührt in ihrem Kaffee.

»Gedulde dich. Ich bin sicher, er wird sich melden, sobald es ihm möglich ist.«

Es ist irgendwie gemein, dass ich ihr nicht mehr verraten darf. Aber wenn ich mein Wissen preisgebe, wird sie erfahren wollen, woher. Und wieso Noah und ich über das Berufliche hinaus Kontakt haben. Und das soll ja gerade nicht geschehen.

 

Als ich Feierabend habe, gehe ich einkaufen. Der Regen hat immer noch nicht aufgehört, was für ein Mistwinter. Ob das Auto, das Noah angefahren hat, auf den glatten Straßen ins Rutschen gekommen ist? Dadurch, dass es nachts doch meist unter null Grad ist, muss man sehr aufpassen. Ich bin ganz ins Grübeln darüber versunken, als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufsteige. Wenn ich da bin, werde ich wohl erst mal eine heiße Dusche nehmen, um wieder warm zu werden. Leider habe ich mir keine Wohnung mit einer Badewanne leisten können.

 

»Guten Abend«, höre ich plötzlich eine weibliche Stimme. Ich sehe mich verwundert um; auf der Treppe, die weiter hinauf in die obere Etage führt, sitzt eine hübsche junge Frau.

»Hallo«, entgegne ich verblüfft. »Wollen Sie zu mir?«

»Sind Sie Liv Sommer?« Sie mustert mich von oben bis unten, was mir ein komisches Gefühl in der Magengegend beschert.

»Wer will das wissen?«, entgegne ich knapp.

»Mein Name ist Nina Harting.«

Die Frau sieht mich erwartungsvoll an. Wartet sie etwa darauf, dass ich sie erkenne? Ich kann mir auf die ganze Sache hier keinen Reim machen.

»Ähm, warum sind Sie denn hier, Frau Harting?«

»Oh, dann hat Noah Ihnen meinen Namen nicht verraten? So, so.« Sie lacht bitter auf und kommt einen Schritt auf mich zu.

Ach du Scheiße, fährt es mir durch den Kopf. Ist das etwa …? Ist das seine Freundin? Aber was will sie hier? Warum ist sie nicht bei ihm?

Doch ich versuche, noch etwas Zeit zu gewinnen, um mich zu sammeln. Wie soll ich mich denn jetzt verhalten?

»Nein, ich weiß nicht, wer Sie sind«, lüge ich. Und ich weiß jetzt schon, dass das nicht besonders überzeugend klingt.

Wieder lacht sie auf. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Können wir uns kurz unterhalten?« Sie deutet auf meine Tür, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich sie wirklich hineinbitten soll. Andererseits – auf eine Szene im Treppenhaus habe ich genauso wenig Lust. Auch wenn das meiner neugierigen Nachbarin sicher sehr gefallen würde.

Ich zucke mit den Schultern und schließe die Wohnungstür auf. »Bitte treten Sie ein.«

Dann lasse ich sie an mir vorbeigehen. Irgendeine hysterische Stimme in mir flüstert, ihr besser nicht den Rücken zuzudrehen. Im Flur bleiben wir stehen und ich ziehe mir meine Mütze und den Mantel aus.

»Nun, was wollen Sie von mir?«

»Ihnen gratulieren, Liv Sommer.« Sie funkelt mich böse an. »Sie haben es geschafft! Noah und ich haben uns getrennt. Sie können ihn haben! Im Moment ist er zwar etwas lädiert, aber Sie werden ihn bestimmt gesund pflegen, nicht wahr?«

Wie bitte? Was? Es dauert einen Moment, bis die Info zu mir durchsickert. Ich muss zugeben, von der ganzen Situation hier komplett überfordert zu sein.

»Das … das wusste ich nicht«, stammele ich.

»Nein? Das wussten Sie nicht? Komisch, dabei sind Sie der Grund dafür! Sie widerliche Schlange!«, speit sie mir entgegen. »Sie können sich selbst dafür beglückwünschen. Sie haben alles kaputt gemacht. Freut es Sie, dass Sie eine Beziehung zerstört haben?«

»Hören Sie, ich … ich verstehe, dass Sie sehr wütend und verletzt sind. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht gewusst habe, dass Noah eine Partnerin hat«, versuche ich sie zu beschwichtigen. Doch sie sieht so wütend aus, dass ich Zweifel daran habe, ob meine Worte wirklich zu ihr durchdringen.

»Die ganze Zeit hatte ich ein blödes Gefühl, dass er mit einer Kollegin diesen Kanada-Trip macht. Als hätte ich es geahnt! Und Sie haben Ihre Chance gewittert! Sie können wahrlich stolz auf sich sein!«

»Das bin ich ganz sicher nicht. Noch einmal: Ich wusste es nicht. Und falls es Sie tröstet: Noah hat mir erst am letzten Tag erzählt, dass er in einer Beziehung ist. Und noch vor unserem Heimflug war die Affäre beendet.«

Nina sieht mich zweifelnd an. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubt, aber zumindest scheint sie sich ein wenig beruhigt zu haben.

»Ich bin niemand, der sich an einen Mann ranmacht, der vergeben ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie es ist, betrogen zu werden. Ob Sie es also glauben oder nicht: Ich kann Sie sogar gut verstehen, Nina.«

»Auf Ihr Verständnis kann ich verzichten«, zischt sie mir zu, aber es klingt nicht mehr so wütend. »Nun, wie gesagt: Noah ist frei. Machen Sie mit ihm, was Sie wollen.«

»Sind Sie jetzt fertig?«, frage ich sie direkt.

»Ja, das bin ich. Mit Ihnen, mit Noah! Sie haben sich verdient!«

»Wenn Sie meinen …« Ich deute auf die Tür. »Sie haben sich ausgekotzt, das kann ich sogar verstehen. Aber jetzt sollten Sie gehen.«

Noch einmal funkelt sie mich wütend an, und ich erwarte eine erneute Schimpfsalve, stattdessen rauscht sie an mir vorbei und verlässt türknallend meine Wohnung.

Als sie fort ist, atme ich tief durch. Die Gedanken purzeln wild durch meinen Kopf und ich muss das erst einmal sortieren.

Noah und Nina haben sich also getrennt. Ging es von ihm aus oder von ihr? Oder ist sie dahintergekommen?

Ich bin total aufgewühlt und rufe Merle an. Ich muss mit jemandem reden, sonst drehe ich durch.

 

»Rate, wer eben hier war!«, rufe ich aufgebracht ins Telefon.

»Guten Abend, liebste Liv. Schön, von dir zu hören«, sagt sie fröhlich. »Hm. Da du so aufgebracht bist – Noah vielleicht?«

»Nein. Der kann nicht, der liegt im Krankenhaus. Nina war da. Seine Freundin. Das heißt wohl eher Ex-Freundin.«

»Moment, Moment, Moment. Das ging jetzt gerade ein bisschen schnell. Noah ist im Krankenhaus?«

»Ja, er hatte einen Unfall. Wir haben heute kurz telefoniert.«

»Was? Echt? Oh, ist er schlimm verletzt?«

»Nein, das wohl nicht. Aber er und Nina haben Schluss gemacht und sie stand eben wie ein Racheengel vor meiner Tür!«

»Was? Oh! Heftig. Bist du okay? Sie ist doch wohl nicht handgreiflich geworden, oder?«

»Nein, nein. Aber sie war mächtig aufgebracht und hat mir einiges an den Kopf geknallt. Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht gewusst hätte, dass Noah in einer Beziehung ist.«

»Hat sie es geglaubt?«

»Keine Ahnung.« Ich merke erst jetzt, dass ich zittere. Die Szene mit Nina hat mich sehr aufgewühlt.

»Krasse Sache. Hat sie echt vor deiner Tür gestanden und im Treppenflur rumgebrüllt?«

»Nein, ich habe sie in meine Wohnung gebeten. Du weißt doch, wie neugierig die olle Huber von nebenan ist.«

»Was? Bist du irre? Sie hätte dich killen können! Vielleicht ist sie eine verkappte Psychopathin!«, schreit Merle hysterisch ins Telefon.

»Ich lebe ja noch …«, murmele ich leise und schüttele den Kopf. Ich kann das alles gar nicht richtig kapieren. Ist das wirklich gerade passiert?

»Aber was stellst du jetzt mit dem Wissen an, dass er wieder zu haben ist?«

»Wie bitte? Glaubst du allen Ernstes, dass ich noch mal was mit ihm anfangen würde? Nach alledem, was passiert ist? Damit ich dann die Nächste bin, die er betrügen kann? Nein, danke.«

»Ja, das verstehe ich. Das sagt der Kopf. Aber was, meine Liv, sagt dein Herz?«