Liv
Ich bin schon etwas aufgeregt, als ich mit Mats’ Auto zur Rehaklinik fahre. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal hinterm Steuer gesessen habe. In München kann ich mir kein Auto leisten und brauche es auch nicht wirklich. Aber für diese Strecke hier war es zu mühsam, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.
Mit Noah habe ich vereinbart, dass wir uns an der Rezeption treffen. Und wenn ich ehrlich sein soll, freue ich mich darauf, ihn zu sehen. Die vergangene Woche haben wir jeden Abend telefoniert. Er hat sehr gejammert, wie langweilig es doch hier wäre. Aber immerhin macht er große Fortschritte, was sein Bein angeht.
Als sich die Schiebetüren öffnen, schaue ich mich neugierig um.
»Liv!«, höre ich seine Stimme. Als ich mich umdrehe, sehe ich ihn in einem Sessel sitzen und mir fröhlich zuwinken.
Als ich bei ihm bin, rappelt er sich hoch. »Schön, dass du da bist.« Er scheint sich wirklich zu freuen, denn er strahlt übers ganze Gesicht. »Hast du den Weg gut gefunden?«
»Na, so wirklich schwer war das ja nicht.« Ich halte mich an seiner Schulter fest und gebe ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. »Gut siehst du aus.«
»Oh, danke, ich versuche mein Bestes.«, seufzt er.
»Möchtest du dich nicht lieber wieder setzen?«, frage ich ihn.
»Nein, wenn du magst, können wir ein paar Schritte laufen. Ich soll mich ja bewegen und der See ist ganz in der Nähe. Es ist schön dort.«
»Gerne.«
Wir machen uns auf den Weg, und ich bin überrascht, wie gut Noah mit den Krücken vorankommt.
»Zum Glück spielt das Wetter heute mit«, sagt er und schaut hinauf in den strahlend blauen Himmel.
»Ja, im Sommer ist das hier bestimmt schön«, pflichte ich ihm bei.
»Jetzt sag nicht, dass du frierst.« Es blitzt in seinen Augen auf. »Ich dachte, du hast schwedische Wurzeln. Da müsstest du doch Kälte gewohnt sein.«
»Wie gut, dass du überhaupt nicht in Klischees denkst«, necke ich ihn, doch ich muss auch lachen. Und ich freue mich, dass wir so einen lockeren Umgangston gefunden haben.
»Ich? Nein, gar nicht.« Er deutet auf eine Bank. »Meinst du, du hältst es rein kältetechnisch aus, dich hinzusetzen? Ich bräuchte eine kleine Pause.«
»Ich werde es versuchen.«
Ich genieße die frische Luft und den Blick auf die Alpen. »Die Gegend hier ist echt toll. Fühlst du dich wohl hier?«
Noah verzieht kurz das Gesicht. »Sagen wir mal, ich fühle mich wohl, weil deutliche Fortschritte spürbar sind. Ansonsten ist es doch, mal vom Sportprogramm abgesehen, ganz schön langweilig. Heute ist eine Ausnahme, da habe ich ja netten Besuch.«
»Du wirst die restlichen zwei Wochen auch noch überstehen«, versuche ich ihn zu trösten.
»Mir bleibt ja nichts anderes übrig«, seufzt er theatralisch.
»Dass Männer immer so wehleidig sein müssen.«
»Wie gut, dass du überhaupt nicht in Klischees denkst«, wiederholt er meine Worte von eben und wir beiden brechen in lautes Gelächter aus.
Wir bleiben noch eine Weile sitzen und plaudern über Gott und die Welt. Allerdings spüre ich so langsam die Kälte immer mehr. Auch wenn die Sonne scheint, so ist es doch empfindlich kühl. Und blöderweise habe ich keine Handschuhe oder einen Schal mitgenommen.
»Frierst du?«, fragt mich Noah dann prompt.
Verwundert schaue ich ihn an. »Äh, kannst du Gedanken lesen?«
»Das nicht, noch nicht. Aber ich spüre, wie du hier auf der Bank herumrutschst. Sollen wir weitergehen?«
»Das liegt an dir, Noah.«
Statt einer Antwort zieht er mich plötzlich in seine Arme und drückt meinen Kopf an seinen Hals. Dann reibt er über meine Oberarme. »Besser?«
Für einen Moment bin ich überrumpelt, und mein erster Gedanke ist es, wieder von ihm wegzurücken. Doch es ist auch schön, ihm so nah zu sein. Deshalb nicke ich und beschließe, diesen Augenblick zu genießen. »Viel besser«, murmele ich.
Noah
Ich fühle mich gerade wie ein Teenager, der das erste Mal eine Frau im Arm hält. Was macht diese Person nur mit mir? Fast habe ich schon Angst zu atmen, will sie auf gar keinen Fall verschrecken. Wir beide sagen nichts, aber das ist auch nicht nötig. Es ist einfach nur schön, mit ihr hier zu sitzen.
Doch der Augenblick dauert leider nicht lange. Viel zu schnell schaut sie zu mir.
»Mir ist jetzt wirklich eiskalt, Noah. Meinst du, wir können weiterlaufen?«
Ich tippe mit meinem Finger auf ihre Nasenspitze. »Natürlich. Auf geht’s.«
Wir schlendern zurück zur Klinik. Also sie schlendert und ich humpele irgendwie neben ihr her, aber selbst das stört mich nicht. Hauptsache, sie ist da. Und solange sie den Kontakt zu mir sucht, werde ich nicht aufgeben. Wir werden wieder zusammenkommen, an was anderes will ich gar nicht denken.
»Lust auf einen Kaffee? Oder Kuchen?«, frage ich sie, als wir wieder zurück im Warmen sind.
»O ja. Das wäre wundervoll.« Mit vor Kälte geröteten Wangen strahlt sie mich an. Ich würde sie am liebsten sofort an mich ziehen und sie küssen, aber ich muss behutsam vorgehen.
»Na, dann los.«
Wir finden einen schönen Tisch in der Cafeteria der Klinik. Und ich staune wieder, was für ein großes Stück Kuchen Liv sich ausgesucht hat. Im Doppelpack mit dem Cappuccino kommt da einiges an Kalorien zusammen, aber das scheint sie nicht zu jucken.
»Das schmeckt richtig gut.« Genießerisch steckt sie sich den Löffel mit dem Milchschaum in den Mund, und ich muss mich zwingen, sie nicht anzustarren. Weiß sie eigentlich, wie sexy es aussieht, wenn sie das tut? Oder macht sie das am Ende extra, um mich in den Wahnsinn zu treiben?
Schnell greife ich nach ihrer Hand. »Tu das nicht«, raune ich ihr leise zu.
Erstaunt reißt sie die Augen auf. O nein, Liv, ich nehme dir jetzt nicht ab, dass du nicht weißt, was du getan hast.
»Was meinst du?«, fragt sie unschuldig.
Ich tupfe ihr mit dem Zeigefinger auf die Lippen. Wie gerne würde ich das mit dem Mund tun.
»Wenn du nicht willst, dass ich dich auf der Stelle besinnungslos knutsche, dann lass die Spielchen mit dem Löffel und dem Schaum.«
Ich sehe in ihren Augen, dass es ihr gefällt zu flirten. »Bist du so empfänglich, Noah Williams?«
»Wenn es um dich geht, schon, Liv Sommer. Alles, was du tust, hat Relevanz für mich.«
Ich sehe, dass sie ein bisschen errötet, was sie noch hinreißender macht. »Okay, ich werde versuchen, mich zusammenzureißen.«
»Das musst du nicht. Aber bedenke die Konsequenzen.« Noch einmal nehme ich ihre Hand. Vorsichtig hauche ich einen Kuss darauf. »Ich will dich, Liv. Das sind nicht bloß Worte.«
Sie sieht mich für einen Moment aus diesen knallblauen Augen an und wirkt nachdenklich. Dann nickt sie. »Ich weiß«, antwortet sie leise.
Als sie sich verabschiedet, ist sie es, die die Initiative ergreift und kurz die Arme um meinen Hals legt. »Soll ich nächsten Sonntag wiederkommen?«
»Was für eine Frage, Liv. Komme am Sonntag, Montag, Dienstag und für den Rest der nächsten zehntausend Wochen.«
»Das sind so um die 190 Jahre, oder?« Sie lächelt mir frech zu. »Hältst du so lange durch?«
Ich beuge mich zu ihr hinunter. »Du solltest doch mein Durchhaltevermögen kennen, oder?«, flüstere ich in ihr Ohr.
Statt einer Antwort prustet sie nur laut los. »Was bin ich froh, dass der Unfall nicht dein Ego angeknackst hat.«
»Für solche Sprüche sollte man dich eigentlich übers Knie legen.«
»Ja, ja, lieber Noah. Nur schade, dass das mit deinem lädierten Bein nicht geht.«
Immer noch stehen wir nah beieinander. Ich nutze die Chance und hauche ihr einen kleinen Kuss hinter ihr Ohrläppchen. Für einen Moment spüre ich, dass sie sich versteift, und ich könnte mich selbst in den Hintern treten. Hoffentlich habe ich sie nicht verschreckt.
Sanft löst sie sich ein wenig von mir. »Bis nächsten Sonntag, Noah«, sagt sie leise. Dann haucht sie mir einen federleichten Kuss auf die Lippen und ich könnte vor lauter Freude die Welt umarmen.