6. Theoretische Ansätze zur Erklärung des Aufschiebeverhaltens

Eine Sichtung der theoretischen Ansätze zur Prokrastination zeigt, dass sich mit zunehmender Forschungsaktivität das Spektrum der Erklärungen kontinuierlich erweitert hat. Die Palette reicht inzwischen von biologischen bis zu rein kognitiven Ansätzen. So schlägt Steel (2011) in seinem Buch eine biologische Interpretation vor, die von einer genetischen Basis des Aufschiebeverhaltens ausgeht. Steel leitet seine Schlussfolgerungen vorzugsweise aus neurobiologischen Studien ab. Sozusagen am anderen Ende des theoretischen Spektrums rekonstruiert die Philosophin Andreou (2007) Prokrastination als rein kognitives Phänomen, das letztendlich auf einer Selbsttäuschung der Person basiert, nämlich auf „intransitiven Präferenz-Strukturen“. Damit ist gemeint, dass nicht konsequent auf ein bestimmtes Ziel hingearbeitet wird, sondern sogenannte Momententscheidungen (moment to moment choices) getroffen und Verhaltensweisen bevorzugt werden, die nicht zielführend sind. Pychyl (2008) verdeutlicht diese Denkstruktur an folgendem Beispiel: Es ist Montag, und am Donnerstag ist Abgabetermin für ein Manuskript. Die intransitive Präferenzstruktur führt nun dazu, dass am Montag der Beginn der Arbeit auf Dienstag verschoben wird (der Dienstag wird dem Montag vorgezogen), am Dienstag wird der Beginn der Arbeit auf Mittwoch verschoben (der Mittwoch wird dem Dienstag vorgezogen), und am Mittwoch wird auf Donnerstag verschoben. Mit der Arbeit am Donnerstag zu beginnen, wird als unbefriedigend erlebt („es ist nun sehr spät, um das Manuskript anzufertigen“), sodass der Arbeitsbeginn am Montag (der schon vorbei ist) eine größere Präferenz besitzt als der Arbeitsbeginn am Donnerstag. Diese Denkstruktur führt dann laut Pychyl (2008) dazu, dass am Donnerstag „in der letzten Minute“ Anstrengung aufgewendet wird, um die Arbeit zu erledigen. Ein Ablaufschema (Abb. 1) verdeutlicht die intransitive Präferenzstruktur von Prokrastinatoren.

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Abb. 1: Intransitive Präferenzstruktur (vgl. Pychyl, 2008).
Das „<“ Zeichen bedeutet: „wird weniger bevorzugt als“.

Es wird deutlich, dass bei langfristigen Zielen die aktuelle Präferenz (für belohnendere Tätigkeiten als die eigentlich notwendigen Verhaltensweisen) immer größer ist als die Präferenz für das Zielverhalten. Deshalb spricht Andreou (2007, p. 183) von „preference loops“, die aufschiebendes Verhalten kennzeichnen.

Bei den eher traditionellen Ansätzen werden nach Wolters (2003) und Schouwenburg (2005) in der Forschung hauptsächlich zwei Sichtweisen vertreten, wie Prokrastination modelliert werden kann. Die eine Sichtweise nimmt an, dass aufschiebendes Verhalten das Ergebnis von mehr oder weniger stabilen Persönlichkeitseigenschaften ist, die dazu führen, dass Personen aufschiebendes Verhalten in verschiedenen Kontexten und Situationen zeigen (Lay & Silverman, 1996; Wolters, 2003, p. 179). In einer Reihe von Studien wurden entsprechende korrelative Zusammenhänge zwischen Aufschiebeverhalten und bestimmten Persönlichkeitseigenschaften nachgewiesen (siehe Kapitel 4). Hierzu gehört auch der Rückgriff auf das Big-Five-Modell (Costa & McCrae, 1985; McCrae & John, 1992), bei dem Prokrastination in engen Zusammenhang mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen gebracht wird (vgl. Steel, 2007).

Die andere Sichtweise geht davon aus, dass Aufschiebeverhalten von weniger stabilen, eher durch die Situation festgelegten Einflüssen bestimmt wird. Solche kontextspezifische Faktoren können bei Personen zu Furcht vor Misserfolg, Inkompetenzgefühlen oder einer Aversivität gegenüber bestimmten Aufgaben oder Tätigkeiten führen, die eng mit aufschiebendem Verhalten verbunden sind und es fördern. Auch dafür gibt es eine Reihe von Forschungshinweisen (z.B. Milgram, Danger & Raviv, 1992).

Die Differenzierung zwischen Trait- und State-Prokrastination stellt noch keine Theorie zur Erklärung von Prokrastination im eigentlichen Sinne dar. Es können keine Wenn-dann-Beziehungen formuliert werden, sondern die Trait-State-Differenzierung hat eher den Charakter einer Beschreibung und Systematisierung auf der Basis überwiegend korrelativer empirischer Daten. Zugleich werden in der Literatur theoretische Ansätze, die sich in anderen Bereichen bewährt haben, herangezogen und in Form von Forschungshypothesen auf Prokrastination angewendet und empirisch untersucht. Dazu gehören Ansätze aus der behavioristischen und behavioristisch-kognitiven Lerntheorie sowie aus dem Bereich der psychotherapeutischen Ansätze. Andere Erklärungsansätze kommen aus dem Bereich der Motivationspsychologie (Erwartungs- mal Werttheorien) und der Volitionspsychologie (Rubikonmodell der Handlungsphasen). Welcher theoretische Ansatz von Autoren bevorzugt wird, hängt nicht zuletzt damit zusammen, aus welcher „psychologischen Schule“ die Forscher und Forscherinnen kommen, und damit, ob es primär um die Klärung des Konstrukts geht oder die Entwicklung und Durchführung möglicher Interventionsmaßnahmen im Vordergrund stehen. Eine einheitliche theoretische Modellierung des Konstrukts „Prokrastination“ liegt bislang noch nicht vor.

6.1. Behaviorale und kognitiv-behaviorale Ansätze

Der behavioristische Ansatz, der etwa seit den 1950er Jahren einen großen Einfluss auf verschiedenste Bereiche der Psychologie hatte, ist in Form der behavioristischen Lerntheorie von einigen Autoren auch auf Prokrastination angewendet worden, wobei zu sehen ist, dass die kognitive Wende in der Psychologie mit ihrem grundsätzlichen Zweifel an der Tragfähigkeit des Behaviorismus bereits eingesetzt hatte, als die Prokrastinationsforschung in den USA begann. Insbesondere die operante Verstärkungstheorie wurde herangezogen, um Aufschiebeverhalten zu erklären. Da rein verstärkungstheoretische Überlegungen (nämlich aufschiebendes Verhalten allein aufgrund von Belohnungen und Bestrafungen zu rekonstruieren) nicht ausreichen, um dem Phänomen „Aufschieben“ gerecht zu werden, wurden diese kombiniert bzw. vollständig ersetzt durch kognitiv orientierte Ansätze, die den inneren, nicht direkt beobachtbaren kognitiven Vorgängen des Individuums gerecht werden. Insbesondere Ellis und Knaus (1977) gingen von einer Reihe kognitiver Annahmen aus, die zur Entstehung und Habitualisierung von Prokrastination führen sollen. Der RET-Ansatz kann nach heutiger Sicht im Großen und Ganzen der kognitiven Verhaltenstherapie zugeordnet werden (Wilken, 1995).

Behavioristische Verstärkungstheorie

Grundlage der behavioralen und kognitiv-behavioralen Ansätze ist die behavioristische Verstärkungstheorie. Operante Konzepte der Belohnung und Bestrafung werden in Bezug auf Prokrastination untersucht. Durch das Aufschieben von Arbeiten werden Studierende kurzfristig belohnt bzw. belohnen sich selbst. Anstatt die notwendigen Lern- und Arbeitstätigkeiten auszuführen, wenden sie sich anderen Tätigkeiten und Ereignissen zu, die aktuell einen höheren Anreizwert haben. Es ist angenehmer, mit Freunden zu reden, ins Kino zu gehen oder zu telefonierten, als für die Abschlussprüfung zu lernen. Der verstärkungstheoretische Ansatz kann auch erklären, warum Studierende, die Aufgaben bis kurz vor Ablauf der Abgabefrist aufschieben, sie dann aber dennoch einigermaßen erfolgreich bewältigen, in ihrem aufschiebenden Verhalten verstärkt werden. Laut Ferrari et al. (1995, p. 26) konnten sich prokrastinierende Studierende an mehr erfolgreiche Leistungen erinnern, die „in letzter Minute“ oder auf den viel zitierten „letzten Drücker“ erzielt wurden, als an nicht erfolgreiche Leistungen mit negativen Konsequenzen. Dies kann das Resultat der Verstärkung sein, es ist aber auch denkbar, dass es einfache Unterschiede in der Erinnerung von Aufschiebern verglichen mit Nichtaufschiebern sind. Schließlich müssen Prokrastinierer ihr Verhalten vor sich und anderen rechtfertigen.

Auch wenn es viele Tätigkeiten gibt, die kurzfristig verstärkend wirken und somit zur Verfestigung des Aufschiebeverhaltens beitragen, ist langfristig häufig mit negativen Konsequenzen zu rechnen. Wichtige Arbeiten werden nicht fristgerecht, nur unvollständig oder gar nicht erledigt. Dies kann zu schlechten Noten bis hin zum Abbruch des Studiums führen. Dass dennoch die kurzfristigen Belohnungen als wertvoller erlebt und den langfristig höheren Belohnungen vorgezogen werden, kann mit dem Konzept des „fehlenden Belohnungsaufschubs“ erklärt werden.

Im Rahmen des kognitiv-behavioralen Ansatzes kann die Bedeutung der Selbstbehinderung für Aufschieber gut erklärt werden: Prokrastination hat hier die Funktion des Selbstwertschutzes. Selbstbehinderung (self-handicapping) ist eine Bewältigungsstrategie, mit der eigenes Handeln im Falle von Misserfolg entschuldigt werden kann. Die Aufgabenbearbeitung wird aufgeschoben, sodass letztendlich eine den eigenen Zielvorstellungen genügende Leistung nicht mehr erreicht werden kann. Ferrari und Tice (2000) interpretieren Prokrastination in ihrer Studie als ein Verhaltenshandicap. Sowohl die Prokrastination als auch die Selbstbehinderung können dem Selbstschutz der Person dienen, und insofern überlappen sich die beiden Konzepte, wie bereits in Kapitel 4.2 ausgeführt wurde.

Kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansatz (Albert Ellis)

Ellis und Knaus haben sich im Rahmen der RET (Rational-Emotive-Therapie), die später zur REBT (Rational-Emotive-Behaviour-Therapie) erweitert wurde, mit dem Phänomen der Prokrastination auseinandergesetzt (Ellis & Knaus, 1977; Knaus, 2002) und Vorschläge für konkretes therapeutisches Vorgehen gemacht. Zunächst soll kurz Grundlegendes zum Konzept der RET – nämlich Grundannahmen und Ziele sowie die typische Vorgehensweise auch bei Selbstanwendung – vorgestellt werden. Des Weiteren werden Disputationstechniken und Strategien zur Umstrukturierung inadäquater Kognitionen vorgestellt.

Ein Kernsatz des Philosophen Epiktet (ca. 50–130 n. Chr.) in seinem „Handbüchlein der Moral und Unterredungen“ lautet:

„Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen.“ (Epiktet, 1996, S. 21)

Dieser Satz belegt, dass schon damals Ursachen für emotionale Probleme auf der kognitiven Ebene, also in den Gedanken der Person vermutet wurden. Dies ist eine Grundannahme der von Albert Ellis konzipierten und schließlich auch in der klinischen Psychologie fest etablierten RET. Der Entwicklung der RET ging eine lange, meist im Rahmen der Philosophie geführte Auseinandersetzung mit den emotionalen Belastungen des Menschen voraus. Die Psychotherapie machte sich den Denkansatz der Stoiker zu eigen und entwickelte darauf basierend Methoden, um selbstschädigende Gedanken und daraus resultierende psychische Probleme zu diagnostizieren und zu behandeln (Stavemann, 1995, S. 7). Zentral geht es dabei um die Untersuchung, Aufdeckung und Behandlung sogenannter irrationaler Gedanken, die eine Person über sich und über andere hat und die häufig zu emotionalen Belastungen führen (vgl. Kessler, 1994).

Nach Stavemann (1995) können die Begriffe „RET“ und „Kognitive Verhaltenstherapie“ fast synonym gebraucht werden. Zwar unterscheiden sich die beiden Therapieformen in einigen Hypothesen und Methoden, doch im zentralen Therapieansatz gleichen sie sich (Kessler, 1994, S. 1106). Basis für das Verständnis der RET ist, dass beim Klienten ein Wille zur Eigenverantwortlichkeit vorausgesetzt wird. Er ist als Appell an den emotional belasteten Klienten zu verstehen, sich selbstständig oder, wenn das nicht geht, mit Hilfe eines Therapeuten auf den von der RET aufgezeigten Lösungsweg zu begeben. In der Praxis geht es in erster Linie um die Diagnose und Reduzierung bzw. Beseitigung emotionaler Probleme. Diese Probleme basieren auf Denkmustern wie den sogenannten Mussvorstellungen. In der Fachliteratur werden auch Begriffe wie „automatische Gedanken“ und „Gedankenfehler“ mehr oder weniger synonym verwendet. Mussvorstellungen können ein absoluter Perfektionismus, ein permanentes Katastrophendenken oder auch eine niedrige Frustrationstoleranz sein (Kessler, 1994, S. 1109). Als Ursache für emotionale Störungen macht Ellis „zeitgenössische Irrationalismen“, also unangemessene Gedanken bei einer Person verantwortlich. Nach Kessler (1994) wird das Verfahren der RET zur Restrukturierung dieser Kognitionen eingesetzt. Dazu wird unter anderem ein „rationaler Disput“ zwischen Therapeut und Klient durchgeführt.

Vorgehensweise: Inhalt und Aussage des ABC-Modells der Gefühle Mit dem ABC-Modell können emotionale Turbulenzen, die psychische Störungen hervorrufen, bewusst gemacht werden. Das Modell bietet auf verständliche Art eine Erklärung für die Herkunft emotionaler Probleme. Es wird anhand dieser Theorie relativ schnell deutlich, wie Gefühle in ihren Grundzügen zustande kommen (s. Abb. 2).

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Abb. 2: Das ABC-Modell

Die Grundannahme der Theorie besagt: Nicht die aktuelle Situation (A) bestimmt die Gefühle und die Verhaltenskonsequenz (C), sondern das Bewertungssystem (B) der Person (vgl. hierzu das Zitat von Epiktet). Ursache für die Wahrnehmung einer bestimmten Situation A (activation event) ist die biologische und physiologische Fähigkeit, auf Umweltreize zu reagieren, die im Gehirn verarbeitet werden. Menschen können bestimmte Situationen aufgrund von persönlichen Erfahrungen ganz unterschiedlich interpretieren. Weiter geht man von der Annahme aus, dass Menschen „von Natur aus“ permanent Situationen und Begebenheiten interpretieren und bewerten.

Die aktuell von einer Person wahrgenommene Situation A ist Grundlage und Resultat des Bewertungssystems B (belief). B bezeichnet nach Ellis Bewertungen, Interpretationen, Verarbeitungen oder bildliche Vorstellungen von A, die in Form eines inneren Dialoges ausgedrückt werden. Dieser Dialog wird meist nicht bewusst wahrgenommen und soll in der Therapie aufgespürt werden. Nach Ellis sind hierbei angemessene (rational, reasonable, realistic belief, rB), genauso wie auch unangemessene (irrational, inaproppriate belief, iB) Bewertungen möglich (vgl. Schmitt, 1996). Daraus folgend kommt es dann zur Bildung einer Gefühls- und Verhaltenskonsequenz C. Das Bewertungssystem umfasst alle gedanklichen Vorgänge, die zum Zeitpunkt A auftreten, seien sie bewusst oder unbewusst. Dazu gehören das Erinnern, Verarbeiten, Schlussfolgern, Prognostizieren, Spekulieren und (vor allem) Bewerten von Situationen, Personen oder Sachen (Stavemann, 1995, S. 36). Stavemann unterteilt B somit in drei unterschiedliche Bs (B1, B2, B3).

– B1 steht für die subjektive Beschreibung einer augenblicklichen Situation A.

– B2 beschreibt die Interpretation und vermuteten Konsequenzen von A, die die Person für möglich erachtet.

– B3 ist die ganz persönliche, individuelle Beurteilung der Situation A und stellt somit die eigentliche Bewertung dar (Stavemann, 1995, S. 34ff.).

Die Gefühls- und Verhaltenskonsequenzen C (consequences) stehen als unmittelbare Folge von B mit dem Bewertungssystem in engem Zusammenhang.

Im Rahmen der RET wird dem Klienten vermittelt, dass er auf seine Gefühle und Handlungen Einfluss nehmen kann, indem er auf seine Bewertungen achtet bzw. diese verändert. Um unangemessene Bewertungen durch angemessenere Alternativen zu ersetzen, wird das ABC-Modell erweitert um die Punkte D (disputing = Diskussion unangemessener Bewertungen) und E (effect = Effekt dieser Diskussion auf die Kognition, also auf C1 und auf das Verhalten C2) ergänzt (Schmitt, 1996, S. 20).

Irrationale Ideen, Ursachen für psychische Störungen

Der zentrale Punkt des ABC-Modells liegt in der Bewusstmachung bzw. Bewusstwerdung, dass nicht das aktivierende Ereignis A die Gefühlswelt und das Verhalten beeinflusst, sondern einzig und allein unser Bewertungssystem B. Nach Ellis sind Irrationalismen die Ursache der emotionalen und psychischen Belastung von Menschen.

In dem Bewertungssystem einer Person sind sehr viele Irrationalismen verankert, die aus der familiären Erziehung stammen oder durch Institutionen vermittelt wurden. Ellis versuchte mit seinem Ansatz, zeitgenössische Irrationalismen ausfindig zu machen, um diese dann als Basissteine des Bewertungssystems festzulegen bzw. zu erkennen. Er geht weiter davon aus, dass Menschen die Existenz dieser Irrationalismen, die in bestimmten Situationen wirksam werden, meist nicht bewusst ist. Die sogenannten unangemessenen Ideologien werden unterschiedlich eingeteilt. Ellis nennt zehn Irrationalismen, die beispielhaft die Relevanz von unangemessenen Bewertungen verdeutlichen (vgl. Ellis, 1993, 54ff.).

Erste Ideologie: Die erste Ideologie beinhaltet „die Meinung, es sei für jeden Menschen absolut notwendig, von praktisch jeder anderen Person in seinem Umfeld geliebt oder anerkannt zu werden“ (Ellis, 1993, S. 55). Die Person fürchtet sich vor Zurückweisung und Missbilligung anderer Menschen, begibt sich teilweise in Abhängigkeit und ist fremdbestimmt und beeinflussbar (Schmitt, 1996, S. 33). Sie fürchtet sich davor, von Menschen, die ihr etwas bedeuten, Ablehnung zu erfahren, und kann diesen Zustand nicht ertragen.

Zweite Ideologie: Diese bezieht sich auf das Leistungsstreben einer Person. In Gedanken sind nur diejenigen Personen etwas wert, die in allen Bereichen des Lebens kompetent und leistungsfähig sind. Die Person hat Versagensangst und vermindert durch diesen Zustand ihre Leistungsfähigkeit. Personen, die Gedanken der ersten beiden Ideologien aufweisen, wollen durch Leistungen Anerkennung und Liebe gewinnen, was häufig zur Aufgabe der eigenen Lebensziele führt (Stavemann, 1995, S. 104).

Dritte Ideologie: Damit ist die Idee gemeint, dass bestimmte Menschen, die böse oder schlecht sind, ganz pauschal bestraft werden müssen. Der Klient bewertet Menschen aufgrund einer „bösen“ Handlung und empfindet Rachegefühle. Er ist nicht in der Lage, seine Haltung zu differenzieren, und lässt ferner die Komplexität menschlichen Handelns außer Acht. Das Gleiche geschieht laut Stavemann auch mit positiven Bewertungen, die unangemessen generalisiert und nicht zielorientiert sind. Eine wünschenswerte objektive Beurteilung ist wegen der Pauschalisierung nicht möglich.

Vierte Ideologie: Sie bezieht sich auf unangemessene Überzeugungen, nämlich „die Vorstellung, dass es schrecklich und katastrophal ist, wenn die Dinge nicht so sind, wie man sie gerne haben möchte“ (Ellis, 1993, S. 61). Diesen Personen könnte es helfen, wenn sie sich in den Sinn rufen würden, dass die Situation zwar bedauerlich ist, es aber nicht hilfreich ist, sich permanent darüber aufzuregen. Die Umstände sind zwar unerfreulich, aber nicht aussichtslos oder katastrophal, und man kann mit dieser Situation leben. „Katastrophendenker“ dramatisieren die Lage und verfallen stattdessen in Frustration und Depressionen und sind dann kaum mehr in der Lage, irgendeinen notwendigen Veränderungsprozess einzuleiten.

Fünfte Ideologie: Sie basiert auf der Meinung, dass das Individuum keinen Einfluss auf Umstände nehmen kann, die von außen kommen und emotionale Probleme hervorrufen. Der Klient fühlt sich, als ob er die Kontrolle über seine Emotionen verloren hat, obgleich es doch seine ganz individuellen Bewertungen sind, die seine Emotionen steuern.

Sechste Ideologie: Sie beinhaltet Gedanken der Person, die ständige Sorgen und Gefahren (tatsächliche oder eingebildete) bezüglich bestimmter Sachverhalte zum Inhalt haben. Ihnen mangelt es an der Differenzierung zwischen einer realen Gefahr oder Bedrohung und subjektiver Übertreibung. Diese Menschen sind innerlich gelähmt durch eine überängstliche Lebenseinstellung. Sie entwickeln „Gedankenschleifen“, die sie an nichts anderes als ihre Sorgen denken lassen.

Siebte Ideologie: Die siebte Ideologie beinhaltet „die Meinung, es sei leichter, bestimmten Schwierigkeiten auszuweichen, als sich ihnen zu stellen“ (Ellis, 1993, S. 68). Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass Aufgaben und Tätigkeiten „leichtfallen“ und einem „liegen“ sollten. Problematisch hierbei ist in erster Linie die Passivität des Individuums, das eigenes zielorientiertes Handeln ablehnt und seine stark hedonistische Lebensphilosophie verfolgt (Schmitt, 1996, S. 39ff). Diese Denkfalle führt zu plagenden Gedankenschleifen, Unentschlossenheit und Selbstquälerei. Das Individuum verbraucht dafür viel Zeit, was wiederum zu Stressempfinden führt.

Achte Ideologie: Sie besteht darin, dass das Individuum auf jeden Fall andere Menschen oder eine „höhere Macht“ benötigt, auf die es sich stützen und verlassen kann. Nach Ellis muss aber danach unterschieden werden, ob es sich um zeitweilig benötigte Ratschläge oder die unangemessene Vorstellung handelt, dass man permanent Hilfe zur eigentlichen Lebensbewältigung benötigt. Ratschläge dürfen selbstverständlich angenommen werden, wenn es sich um solche zur Erfüllung von Lebenszielen handelt (Ellis, 1993, S. 70f).

Neunte Ideologie: Das Individuum ist davon überzeugt, dass seine persönlichen Lebensumstände der eigentliche Grund dafür sind, warum es sich nicht ändern kann. Persönliche Erinnerungen und Erfahrungen, die in der Vergangenheit liegen, sind so stark, dass sie nicht überwunden werden können und somit ein eigenständiges Denken verhindern. Ellis sieht hier eine Ursache für die Verweigerung des Klienten bei der therapeutischen Arbeit (Ellis, 1993, S. 72f.).

Zehnte Ideologie: Diese Ideologie ist zweigeteilt und besteht erstens aus dem Gedanken, dass es für jedes Problem genau eine perfekte Lösung gibt. Zweitens muss die perfekte Lösung auf jeden Fall gefunden werden, da das Problem nur damit gelöst werden kann. Alle anderen möglichen Lösungen führen zur Katastrophe. Es kann zu aggressiven Handlungen kommen, wenn eine andere Person ein Problem löst, ohne auf die als perfekt angesehene Lösung zurückzugreifen (Ellis, 1993, S. 74ff.).

Als Erklärung für aufschiebendes Verhalten sind vor allem die Ideologien zwei (Versagensangst, die häufig aus Perfektionismusansprüchen resultiert), vier (Katastrophendenken) und sieben (hedonistische Lebenseinstellung) von Bedeutung (Ellis & Knaus, 1977; Knaus, 2002; Steel, 2007, p. 68). So konnte Harrington (2005) belegen, dass geringe Frustrationstoleranz (s. siebte Ideologie) ein bedeutsamer Prädiktor für Prokrastination ist. Wie Rückert (2011) in seinem Buch an einer Reihe von Beispielen aufzeigt, können auch die anderen Ideologien dazu beitragen, dass aufschiebendes Verhalten verstärkt wird und sich als Konsequenz negative emotionale Reaktionen einstellen.

6.2. Das Big-Five-Modell der Persönlichkeit
(Paul T. Costa & Robert R. McCrae)

Geht man – wie in vielen Studien – implizit oder explizit davon aus, dass Aufschiebeverhalten als eine Art Persönlichkeitseigenschaft angesehen werden kann und situationale Einflüsse weitgehend in den Hintergrund treten bzw. kaum eine Rolle spielen, liegt es nahe, auf eine gut etablierte Persönlichkeitstheorie zurückzugreifen, um somit aufschiebendes Verhalten anhand eines bestimmten Persönlichkeitsprofils näher bestimmen zu können. Ausgehend von dieser Überlegung, verwenden verschiedene Autoren (van Eerde, 2003, 2004; Johnson & Bloom, 1995; Steel, 2007; Watson, 2001) das sogenannte Fünf-Faktoren-Modell, auch Big-Five-Modell der Persönlichkeit genannt (Costa & McCrae, 1985; McCrae & John, 1992; Pervin, Cervone & Oliver, 2005), als nomologisches Netzwerk bzw. als Interpretationsrahmen für die Ergebnisse ihrer empirischen Studien (vgl. Johnson & Bloom, 1995; Watson, 2001) oder ihrer Metaanalysen (van Eerde, 2004; Steel, 2007).

Wie bereits oben bei der Diskussion zur konzeptionellen Unterscheidung von Prokrastination als Trait- und State-Merkmal kurz ausgeführt, gehen Forscher und Forscherinnen von unterschiedlichen psychologischen Paradigmen der Verhaltenserklärung aus (Rustemeyer, 2003, S. 3ff.). Das sogenannte „Eigenschaftsparadigma“ entspricht am ehesten unseren Alltagserklärungen und nimmt an, dass Personen Eigenschaften besitzen, die zumindest mittelfristig gesehen relativ stabil sind, auch wenn sie sich langfristig sehr wohl verändern können. Diese personenspezifischen Eigenschaften legen weitgehend die Verhaltensweisen und Handlungen von Personen über verschiedene Situationen und Zeitpunkte hinweg fest. Da Personen nach dieser Auffassung typische Eigenschaftsprofile besitzen können (wie z.B. das Profil eines Neurotikers), können sie anhand des ermittelten Profils und der damit einhergehenden Verhaltensweisen von anderen Personen bzw. Personengruppen unterschieden werden.

Die Annahme von Prokrastination als einem relativ stabilen, überdauernden Trait-Merkmal entspricht dem eigenschaftstheoretischen Ansatz, während Prokrastination als State-Merkmal dem situationistischen bzw. interaktionistischen Paradigma zuzuordnen ist, bei dem Wechselwirkungen zwischen Personen- und Situationsmerkmalen berücksichtigt werden (siehe dazu Rustemeyer, 2003). Auch das Big-Five-Modell der Persönlichkeit, ein aktuelles, prominentes Forschungsprogramm der Differentiellen Psychologie, basiert in seinen Grundannahmen auf dem eigenschaftstheoretischen Ansatz. Es handelt sich um ein empirisch gestütztes Modell der Persönlichkeitswesenszüge. Anhänger dieses Modells gehen davon aus, dass die grundlegenden Dimensionen der Persönlichkeit durch fünf Faktoren repräsentiert sind (McCrae & John, 1992, p. 176).

Bevor nun eine empirisch gestützte Zuordnung des Aufschiebeverhaltens (trait) zu den grundlegenden Persönlichkeitsfaktoren erfolgt, soll zunächst ein kurzer Überblick über das Big-Five-Modell gegeben werden, damit ein besserer Vergleich der Ergebnisse der einzelnen Autoren, die auf dieses Persönlichkeitsmodell zurückgreifen, möglich ist.

Annahmen und Entwicklung des Big-Five-Modells

Die fünf Faktoren des Big-Five-Modells wurden auf der Basis eines lexikalisch begründeten Faktorenmodells extrahiert. Diesem lexikalischen Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich zentrale Persönlichkeitsmerkmale in der Sprache niederschlagen und beschreiben lassen. Auf der Grundlage dieses Modells entwickelten Costa und McCrae (1985) einen Persönlichkeitstest, genannt NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI). Im Jahre 1992 wurde der Test überarbeitet und als NEO-PI-R publiziert (Costa & McCrae, 1992). Der Test ist international gebräuchlich; die jeweiligen deutschen Fassungen wurde von Borkenau und Ostendorf (1993) und Ostendorf und Angleitner (2004) herausgegeben. „NEO“ ist ein Akronym der Anfangsbuchstaben von drei Persönlichkeitsfaktoren: Neurotizismus (N), Extraversion (E), Offenheit (O). Untersuchungen konnten in der Tat belegen, dass sich die Big-Five-Faktoren in verschiedenen Sprachräumen (u.a. im englischen, im deutschen oder niederländischen Sprachraum) reproduzieren lassen. Die Bezeichnung „die großen Fünf“ verweist darauf, dass unter jedem der fünf großen Faktoren oder Persönlichkeitsdimensionen eine Anzahl speziellerer Facetten oder Wesenszüge zusammengefasst ist. Neben den drei oben genannten Faktoren gibt es noch soziale Verträglichkeit (agreeableness) und Gewissenhaftigkeit (conscientiousness). Die einzelnen Faktoren können, angelehnt an den Persönlichkeitsfragebogen von Costa und McCrae (1992; vgl. Pervin et al., 2005), auf fünf bipolaren Dimensionen charakterisiert werden, wie auch die nachfolgende Beschreibung zeigt.

1. Neurotizismus (Neuroticism): Diese Persönlichkeitsdimension beschreibt emotionale Stabilität (Anpassung) in Abgrenzung zur emotionalen Labilität. Diese Dimension spiegelt individuelle Unterschiede in der emotionalen Stabilität der Person wider. Hohe Neurotizismuswerte zeigen eine geringe emotionale Stabilität an, was bedeutet, dass diese Personen zu „psychischem Leid, unrealistischen Ideen neigen“ und zu „schlecht angepassten Reaktionen oder Bewältigungsmechanismen“ (Pervin et al., 2005, S. 322). Die einzelnen Facetten des Neurotizismus sind: anxiety (Ängstlichkeit), angry hostility (Reizbarkeit), depression (Depression), self-consciousness (soziale Befangenheit), impulsiveness (Impulsivität), vulnerability (Verletzlichkeit) (vgl. hierzu Ostendorf & Angleitner, 2003). Ein hoher Punktwert im Persönlichkeitsfragebogen von Costa und McCrae (1992) weist auf folgende Merkmale hin: besorgt, nervös, unsicher, gehemmt, stressanfällig, leicht verletzlich, während ein niedriger Punktwert die Person beschreibt als: entspannt, gelassen, leidenschaftslos, unerschrocken, furchtlos, stabil und stressresistent. Vor allem Eigenschaftsmerkmale wie Nervosität, Stressanfälligkeit und Wehleidigkeit sind laut Steel (2007, p. 68) besonders für Prokrastination relevant.

2. Extraversion (Extraversion): Diese Persönlichkeitsdimension „bewertet Quantität und Intensität zwischenmenschlicher Interaktionen, des Aktivitätsniveaus, des Bedürfnisses nach Stimulation und der Fähigkeit sich zu freuen“ (Pervin et al., 2005, S. 322). Die einzelnen Facetten lauten: warmth (Herzlichkeit), gregariousness (Geselligkeit), assertiveness (Durchsetzungsfähigkeit), activity (Aktivität), excitement-seeking (Erlebnishunger), positive emotions (Frohsinn). Ein hoher Punktwert im Persönlichkeitsfragebogen von Costa und McCrae (1992) charakterisiert eine Person als freundlich, herzlich, gesellig, aktiv, lebhaft, risikofreudig, entscheidungsfreudig, optimistisch, während ein niedriger Punktwert sie als langsam, vorsichtig, reserviert, nüchtern, kühl, unentschlossen beschreibt (vgl. Ostendorf & Angleitner, 2003). Da extravertierte Personen häufig auch als impulsiv beschrieben werden, weil die Teilfacetten „Aktivität“ und „Erlebnishunger“ bei hoher Ausprägung der Impulsivitat ähnlich sind, ist der Faktor „Extraversion“ mit dem Aspekt der Impulsivität ebenfalls für Prokrastination relevant (Steel, 2007, p. 68).

3. Offenheit (openness): Diese Persönlichkeitsdimension beinhaltet die „Suche nach und Wertschätzung von neuen Erfahrungen um ihrer selbst willen“ (Pervin et al., 2005, S. 322). Ein hoher Punktwert im Persönlichkeitsfragebogen von Costa und McCrae (1992) bedeutet, dass sich eine Person durch folgende Merkmale auszeichnet: neugierig, breit gefächerte Interessen, kreativ, originell, einfallsreich, unkonventionell, während ein niedriger Punktwert ihr folgende Merkmale attestiert: konventionell, bodenständig, einseitige Interessen, nicht künstlerisch veranlagt, nicht analytisch (Pervin et al., 2005). McCrae beschreibt diese Persönlichkeitsdimension folgendermaßen: „Openness is a broad and general dimension, seen in vivid fantasy, artistic sensitivity, depth of feeling, behavioral flexibility, intellectual curiosity, and unconventional attitudes“ (McCrea, 1996, zitiert nach Steel, 2007, S. 69). Von den Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften weist „Offenheit für Neues“ laut Beier und Ackermann (2001) den stärksten Zusammenhang mit Intelligenz und schulischer Begabung auf. Mit Prokrastination dagegen steht der Big-Five-Faktor „Offenheit“ nach Steel (2007) in keinem Zusammenhang.

4. Verträglichkeit (agreeableness): Die Persönlichkeitsdimension „Verträglichkeit“ oder auch „Liebenswürdigkeit“ genannt „bewertet die Qualität der zwischenmenschlichen Orientierung nach einem Kontinuum, das von Mitgefühl bis Antagonismus reicht“. Ein hoher Punktwert im Persönlichkeitsfragebogen von Costa und McCrae (1992) weist auf folgende Merkmale einer Person hin: Sie ist weichherzig, gutmütig, vertrauensvoll, hilfsbereit, leichtgläubig, versöhnlich, aufrichtig. Ein niedriger Punktwert beschreibt sie als zynisch, unhöflich, misstrauisch, unkooperativ, rachsüchtig, rücksichtslos, reizbar (Pervin et al., 2005, S. 322). Nach Steel (2007, p. 69) kann eine geringe Ausprägung von Verträglichkeit zu Prokrastination führen, da diese Personen dazu neigen, gegen Vorgaben, Termine etc. zu opponieren.

5. Gewissenhaftigkeit (conscientiousness): Diese Persönlichkeitsdimension beinhaltet „das Maß an Organisation, Ausdauer und Motivation beim zielgerichteten Handeln. Sie spiegelt den Kontrast zwischen zuverlässigen, anspruchsvollen Personen und nachlässigen und schlampigen Personen wider“ (Pervin et al., 2005, S. 322). Die Facetten von Gewissenhaftigkeit sind: competence (Kompetenz), order (Ordnungsliebe), dutifulness (Pflichtbewusstsein), achievement striving (Leistungsstreben), self-discipline (Selbstdisziplin), deliberation (Besonnenheit). Ein hoher Punktwert im Persönlichkeitsfragebogen von Costa und McCrae (1992) weist auf folgende Merkmale der Person hin: kompetent, umsichtig, organisiert, verantwortungsbewusst, zuverlässig, zielstrebig, diszipliniert, besonnen. Ein niedriger Punktwert beschreibt die Person als: inkompetent, planlos, unordentlich, unzuverlässig, faul, unmotiviert, undiszipliniert, nachlässig, willensschwach, unreflektiert (vgl. Ostendorf & Angleitner, 2003). Nach Steel (2007) kann die selbstdisziplinierte, gewissenhafte Organisation der Abschirmung ablenkender Reize aufschiebendes Verhalten der Person deutlich vermindern. Scher und Ostermann (2002) vermuten sogar, dass Gewissenhaftigkeit und Prokrastination lediglich verschiedene Aspekte eines gemeinsamen Konstrukts sind.

Anwendung auf das Aufschiebeverhalten

Verschiedene Autoren (van Eerde, 2004; Johnson & Bloom, 1995; Milgram & Tenne, 2000; Schouwenburg & Lay, 1995; Schouwenburg, 1995; Steel, 2007; Watson, 2001) haben die Frage gestellt, ob Aufschieber ein Profil zeigen, das mit einem oder mehreren Faktoren des Big-Five-Modells übereinstimmt.

In der Studie von Johnson und Bloom (1995) bearbeiteten 202 Studierende den revidierten Neo Personality Inventory (NEO-PR-R) von Costa und McCrae (1992) und den Prokrastinationsfragebogen API von Aitken (1982). In einer multiplen Regressionsanalyse erweisen sich die beiden Faktoren „Gewissenhaftigkeit“ und „Neurotizismus“ als bedeutsam, während für die anderen Big-Five-Faktoren kein signifikanter korrelativer Zusammenhang mit Prokrastination nachweisbar ist. Die Autoren berichten weiter, dass der Mangel an Selbstdisziplin (Teilfacette des Faktors „Gewissenhaftigkeit“) und Impulsivität (Teilfacette des Faktors „Neurotizismus“) die meiste Varianz in der Regressionsanalyse aufklären kann.

Ähnliche Befunde berichten auch Schouwenburg und Lay (1995). Die Autoren ließen 352 Studierende mit dem NEO-PR-R und der Allgemeinen Prokrastinationsskala (GP von Lay, 1986), die für Studierende angepasst wurde, bearbeiten. Sie korrelierten dann Prokrastination mit den fünf Faktoren einschließlich der Teilfacetten des Big-Five-Modells und konnten zeigen, dass die Eigenschaft „Prokrastination“ (trait) am stärksten mit einem Mangel an Gewissenhaftigkeit in Zusammenhang steht. Weiter gibt es hohe Korrelationen zu allen Teilfacetten. Es existiert auch ein weniger aussagekräftiger korrelativer Zusammenhang zwischen Prokrastination und dem Neurotizismusfaktor, der vor allem auf die Teilfacette „Impulsivität“ zurückzuführen ist.

Watson (2001) untersuchte in einer Studie 349 Studenten mit dem NEO-PR-R (Costa & McCrae, 1992) und dem Prokrastinationsfragebogen für Studenten (PASS von Solomon und Rothblum, 1984). Der Autor berichtet ebenfalls Korrelationen zwischen Prokrastination und den beiden Big-Five-Hauptfaktoren „Neurotizismus“ (mit der Teilfacette „Impulsivität“) und „Gewissenhaftigkeit“, wobei in seiner Studie ebenfalls alle Teilfacetten mit Prokrastination korrelieren. Bei Watson (2001) erweist sich (geringe) Gewissenhaftigkeit als stärkste Komponente von Prokrastination und (fehlende) Selbstdisziplin als stärkste Teilfacette des Faktors „Gewissenhaftigkeit“. Neurotizismus steht ebenfalls, wenn auch nicht so deutlich, mit Prokrastination in Verbindung. Hier hat wiederum die Teilfacette „Impulsivität“ einen deutlichen Einfluss. Es zeigen sich aber beispielsweise auch Zusammenhänge mit der Teilfacette „Depression“.

Einen signifikanten Zusammenhang zwischen Prokrastination (erfasst mit selbst entwickelten Instrumenten) und den beiden Faktoren „Neurotizismus“ und „Gewissenhaftigkeit“, erfasst mit dem NEO-PR-R von Costa und McCrae (1992), können auch Milgram und Tenne (2000) nachweisen.

Van Eerde (2004, p. 32) wählte das statistisch-methodische Verfahren der Metaanalyse, in die insgesamt 41 Artikel eingehen. Die Effektgröße für den Faktor „Neurotizismus“ beträgt r = .26, vor allem die Teilfacetten „Angst“, „Depression“ und insbesondere „Impulsivität“ (r = .35) erweisen sich als bedeutsam. Die stärkste Effektgröße kann van Eerde jedoch für den Faktor „Gewissenhaftigkeit“ (r = −.65) nachweisen, wobei alle sechs Teilfacetten in Bezug auf Prokrastination relevant sind (van Eerde, 2004, Tab. 3.1). Die Ergebnisse der anderen Faktoren sind weitgehend unbedeutend. Van Eerde (2004, p. 36) fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen: „When all results are combined, a profile arises of a certain type of student. This student is not conscientious, somewhat neurotic, has a lively fantasy life, and is slightly introverted and unsociable.“

Die umfangreichste Metaanalyse mit insgesamt 216 Studien wurde von Steel (2007) durchgeführt. Er gibt an, dass er insgesamt 691 Korrelationen ausgewertet habe. Die in die Analyse einbezogenen Studien sind breit gestreut; so berichtet der Autor, dass neben quantitativen auch qualitative Studien in die Verrechnung eingingen. Steel wählt ebenfalls das Big-Five-Modell als Strukturierungsansatz, um die Ergebnisse zum Aufschiebeverhalten mit den zentralen Persönlichkeitseigenschaften in Zusammenhang zu bringen und innerhalb eines nomologischen Netzwerkes einordnen zu können. Bezüglich des methodischen Vorgehens ist zu berücksichtigen, dass bei Weitem nicht in allen Studien der Big-Five-Fragebogen verwendet wurde. So nimmt Steel (2007) Arbeiten in die Metaanalyse auf, in denen Korrelationen von Prokrastinationsfragebogen mit Fragebogen berichtet werden, die Merkmale erfassen, die sehr weit interpretiert als Teilfacetten des Big-Five-Modells angesehen werden können, wie z.B. Leistungsangst, Selbstwirksamkeit etc. (vgl. etwa die in die Metaanalyse aufgenommenen Studien von Helmke & Schrader, 2000; Schwarzer & Jerusalem, 2001). Aus diesen so ermittelten Variablen werden verschiedene Cluster gebildet, die unten näher beschrieben werden. Aufgrund dieser speziellen methodischen Vorgehensweise werden den klassischen Big-Five-Faktoren teilweise andere bzw. neue Merkmale zugeordnet. Beispielsweise taucht die Variable „Selbstbehinderung“ (self-handicapping) beim Cluster „Neurotizismus“ auf.

Da sich auch bei Steel (2007) trotz methodischer Zugangsweise, die sich deutlich von den vorher genannten Arbeiten unterscheidet, der Big-Five-Faktor „Gewissenhaftigkeit“ und eingeschränkt auch der Faktor „Neurotizismus“ als bedeutsam für aufschiebendes Verhalten herausstellen, soll kurz erläutert werden, wie sich diese beiden Cluster inhaltlich zusammensetzen.

Dem Cluster Neurotizismus mit darauf bezogenen Eigenschaften ordnet Steel (2007, p. 76, Tab. 3) die Variablen „irrationale Wahrnehmungen“, einschließlich „Furcht vor Misserfolg“, und „Perfektionismus“ (vgl. Ellis & Knaus, 1977), (geringe) „Selbstwirksamkeit“ und (geringes) „Selbstwertgefühl“ (vgl. Bandura, 1997; Ellis & Knaus, 1977), „Selbstbehinderung“ (vgl. Jones & Berglas, 1978; Rhodewalt, 1990) und „Depression“ zu.

Das Cluster Gewissenhaftigkeit wird durch die Merkmale „Selbstkontrolle bzw. Selbstdisziplin“, „Ablenkbarkeit“, „Organisation (Planung)“ und „Leistungsmotivation“ charakterisiert. Hinzu kommt noch die Variable „Abstand zwischen Intention und Aktion“ (Steel, 2007, p. 78, Tab. 5). Hohe Ablenkbarkeit, schlechte Organisation, geringe Leistungsmotivation und ein großer Abstand zwischen Intention und Aktion der Person repräsentieren eine gering ausgeprägte Gewissenhaftigkeit oder auch das Versagen der Selbstregulation.

Sowohl Steel (2007, p. 68f.) als auch Schouwenburg (1995, p. 76ff.) stellen aufgrund ihrer empirischen Befunde interpretative Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Prokrastination und den Big-Five-Persönlichkeitsdimensionen mit ihren assoziierten Merkmalen an. Neurotizismus ist (laut Steel, 2007) für Aufschieber deshalb ein bedeutsames Merkmal, weil Personen, die anfällig für Stress sind, leichter Aufgaben aufschieben, die ihnen unangenehm sind. Bei ihnen dürfte vermutlich auch eine höhere Aufgabenaversivität (task aversiveness), also die Abneigung gegenüber einer Aufgabe, zu finden sein, was sich allerdings bei Schouwenburg (1995, p. 78) nur eingeschränkt bestätigt. Bei ihm hängt Aufgabenaversivität stärker mit dem Faktor „Gewissenhaftigkeit“ zusammen. Unter den Sammelbegriff „Neurotizismus“ fallen auch irrationale Überzeugungen, die unangemessene und angstauslösende Anschauungen beinhalten. Diese können bei den Betroffenen dazu führen, dass logische Bewertungen von Situationen erschwert werden. Entweder fühlen sich Personen mit einem hohen Neurotizismuswert zu wenig geeignet für bestimmte Aufgaben, oder sie empfinden die Aufgaben als zu schwer, gemessen an ihren persönlichen Fähigkeiten. Aus ebendiesen Überzeugungen heraus entsteht Versagensangst (wie die Angst vor Misserfolg), die die Personen daran hindert, Aufgaben anzugehen, da ein tatsächliches Versagen die eigene Unfähigkeit bestätigen würde. Diese irrationalen Überzeugungen gehen dann oft mit einer niedrigen Selbstwirksamkeitsüberzeugung einher. Wenn schon der bloße Gedanke an eine Aufgabe bei einer Person Angst auslöst und die Erwartung besteht, diese Aufgabe nicht lösen zu können, beginnt die Person lieber gleich eine andere Aufgabe (vgl. Steel, 2007, p. 68).

Wenn Neurotizismus stark durch Leistungsangst, Furcht vor Misserfolg und Versagensangst bestimmt ist, wird nach Ellis und Knaus (1977) das Gefühl niedriger Selbstwirksamkeit mit niedriger Selbstachtung in Verbindung gebracht. Anstatt sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, konzentriert sich die Person auf ihre negativen Emotionen und versucht, diese durch Selbstbehinderung, eine bestimmte Form der gestörten Selbstregulation, zu regulieren. Bei der Selbstbehinderung legen sich Personen selbst Steine in den Weg und hindern sich somit daran, eine Aufgabe gut zu erledigen (Jones & Berglas, 1978). Sinn und Zweck der Selbstbehinderung liegt darin, dass die Selbstachtung geschützt wird, indem äußere Gründe für ein mögliches Scheitern vorgeschoben werden. Eine solche Person, die versucht, Informationen über sich selbst und über ihre Handlungen zu vertuschen, hat nach Steel (2007, p. 69) eine extrem unsichere Identität. Depression, Niedergeschlagenheit, Leistungsschwäche, Hilflosigkeit und Pessimismus sind ebenso Gemütszustände, die dem Neurotizismus zugeordnet sind und mit niedriger Selbstachtung und Selbstwirksamkeit einhergehen. Nach Beck (1993) kommt eine Depression aufgrund einer unvernünftigen Denkweise bzw. irrationalen Selbsteinschätzung zustande. Somit lässt sich folgern, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem schlechten Selbstbild und einer pessimistischen Einstellung besteht. Ein Zusammentreffen von Niedergeschlagenheit, niedriger Selbsteinschätzung, Versagensangst und einem Gefühl, die Situation nicht oder nur wenig beeinflussen zu können, kann somit zu Aufschiebeverhalten führen.

Der zweite bestimmende Faktor für Prokrastination ist (fehlende) Gewissenhaftigkeit. Sie ist nach Schouwenburg (1995) eng verbunden mit Prokrastination (trait) und auch dem situationsbezogenen aufschiebenden Verhalten. Typischerweise sollte Prokrastination mit Unkonzentriertheit, geringer Organisationsfähigkeit, niedriger Leistungsmotivation und einem großen Abstand zwischen der Absicht zur Handlung und der Durchführung assoziiert sein. Der Zusammenhang zwischen dem Faktor „Gewissenhaftigkeit“ mit allen Teilfacetten des Big-Five-Modells ist in fast allen Studien bestätigt worden. Bei Steel (2007) kommt noch die (fehlende) Aufmerksamkeit/Ablenkbarkeit hinzu, die in vielen Theorien als mögliche Ursache für Prokrastination gesehen wird. Eine gewissenhafte Organisation und eine gelungene Abschirmung gegen ablenkende Reize können Prokrastination vermindern, wie u.a. von Kuhl herausgearbeitet wurde. Die fehlende Selbstdisziplin zeigte einen sehr engen korrelativen Zusammenhang zu Prokrastination und ist eine bedeutende, wenn nicht sogar die wichtigste Facette des Faktors „Gewissenhaftigkeit“.

Das Cluster Extraversion soll an dieser Stelle gesondert erwähnt werden, da nach Steel (2007, p. 69) die Impulsivität diesem Cluster zugeordnet wird, ebenso wie die Sensationssuche und die Neigung zur Langeweile. Zwar werden extravertierte Personen auch als impulsiv beschrieben und es ist unbestritten, dass es differierende Definitionen für Impulsivität gibt, dennoch weichen die Ergebnisse von Steel (2007) hier von der Zuordnung der Teilfacetten des klassischen Big-Five-Modells ab.

Als weiteres wichtiges Merkmal in dem metaanalytischen Verfahren von Steel (2007), das in einem sehr engen Zusammenhang mit Prokrastination steht, ist noch die Aufgabenaversivität zu nennen, eine nicht im Big-Five-Modell enthaltene Variable (s. Kapitel 5.4).

Es gibt deutliche Begrenzungen in der Anwendung des Big-Five-Modells auf Prokrastination, auf die bereits van Eerde (2004) hingewiesen hat.

– Die situativen Bedingungen von Prokrastination werden ausgeklammert. Das liegt schon in der Wahl des Modells begründet.

– Es wird eine Typisierung versucht, die sich in der Realität so eindeutig nicht nachweisen lässt, u.a. weil die Faktoren mit ihren Teilfacetten mit unterschiedlichem Gewicht bei einzelnen Personen auftreten können, es also verschieden akzentuierte Typisierungen geben kann. So kann beispielsweise Aufschiebeverhalten vor allem mit dem Merkmal „Angst vor Misserfolg“ auftreten oder aber primär mit den Merkmalen „Nervosität“, „Unkonzentriertheit“ und „leichte Ablenkbarkeit“ verbunden sein.

– Die Bedeutung und auch die Zuordnung einzelner Teilfacetten zu den Big-Five sind in den Studien teilweise recht heterogen. Besonders deutlich wird dies in der Studie von Steel (2007).

6.3. Erwartung-mal-Wert-Modelle

Als Vorläufer der relativ komplexen Handlungsregulationsmodellen können die sogenannten Erwartung-mal-Wert-Modelle angesehen werden, die bereits eine Vielzahl unterschiedlicher motivationaler, emotionaler und kognitiver Variablen berücksichtigen und modellieren können. Erwartung-mal-Wert-Modelle wurden zunächst in der Motivationsforschung zur Vorhersage von Leistungshandeln entwickelt (vgl. Atkinson, 1957) und dann später auch auf andere Bereiche übertragen. Erwartung- mal Wert-Modelle haben sich in der Prokrastinationsforschung als nützlich erwiesen. Nachfolgend werden zwei unterschiedliche Modellvarianten, nämlich das Modell des Leistungshandelns von Eccles und Wigfield (2002) und das Modell der Nützlichkeitserwägung von Steel (2007, 2011) sowie ihre Anwendung auf aufschiebendes Verhalten vorgestellt.

Modell des Leistungshandelns

Zur Erklärung des Aufschiebeverhaltens im akademischen Kontext bietet sich das Erwartung-mal-Wert-Modell von Eccles (1983, vgl. auch Eccles & Wigfield, 2002) an, das ursprünglich zur Vorhersage von Leistungshandeln von Frauen im mathematischen Bereich konzipiert wurde. Dies erklärt, warum in dem Modell neben kognitiven, motivationalen und emotionalen Variablen auch Umgebungsvariablen wie beispielsweise das kulturelle Milieu und Stereotype berücksichtigt werden (vgl. Abb. 3).

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Abb. 3: Vereinfachtes Erwartung-mal-Wert-Modell
(nach Eccles & Wigfield, 2002)

Erwartungs- und Wertmodelle nehmen an, dass einerseits Erwartungen und andererseits subjektive Wertschätzungen das Leistungshandeln beeinflussen. Ist die Erwartung, einen Erfolg zu erzielen, sehr hoch und ebenso der Wert des angestrebten Zieles, wird die Person mit großer Wahrscheinlichkeit eine entsprechende leistungsrelevante Aktivität zeigen. So nehmen Eccles et al. (2002) an, dass Ausdauer als leistungsrelevante Aktivität direkt vorhergesagt werden kann. Da akademisches Aufschiebeverhalten im Zusammenhang steht mit leistungsmotiviertem Handeln und dieses behindert, sollten Erwartungs- und Wertvariablen einen signifikanten Zusammenhang mit dem Aufschiebeverhalten zeigen: Je niedriger die Erwartungs- und Wertvariablen einer Person ausgeprägt sind, desto stärker sollte sie zögern und aufschieben.

Zu den Erwartungsvariablen zählen nach Eccles et al. (2002) das Fähigkeitsselbstkonzept und die Erfolgserwartung. Da die Fähigkeit, Prüfungsaufgaben nach einem strukturierten Zeitplan vorzubereiten, eng mit der Erfolgserwartung der Person zusammenhängt, dürften auch Organisationsfähigkeit und Zeitmanagement zu den Erwartungsvariablen gezählt werden. Eine gute Organisationsfähigkeit und ein strukturiertes Zeitmanagement sollten mit einer hohen Erwartung einhergehen.

Der Wert entspricht nach dem Modell von Eccles und Wigfield (2002) dem subjektiven Aufgabenwert, der die drei Komponenten „Anreiz“, „Wichtigkeit“ und „Kosten“ beinhaltet. Eine Anreizkomponente ist u.a. das Interesse an einer Aufgabe. Das Merkmal Prüfungsangst kann ebenfalls als Wertvariable im Sinne eines Kostenfaktors definiert werden (vgl. Eccles & Wigfield, 2002; Wigfield & Eccles, 2000).

Callies (2012) sowie Rustemeyer und Rausch (2007) konnten in ihren Untersuchungen für das situationsspezifische Aufschiebeverhalten (state) anhand von hierarchischen Regressionsanalysen eine hohe Vorhersagekraft der Erwartung-mal-Wert-Variablen belegen und zeigen, dass akademisches Aufschiebeverhalten recht gut im Rahmen des Erwartung-mal-Wert-Modells modelliert werden kann. Wenn die Erwartungsvariable „Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit“ gering ausgeprägt und das Zeitmanagement ineffizient ist, wird die Beschäftigung mit Leistungsaufgaben hinausgezögert. Aber auch die Prüfungsangst, die – wie bereits ausgeführt – nach Eccles und Wigfield (2002, p. 120) als Kostenfaktor im Erwartung-mal-Wert-Modell definiert werden kann, stellt sich als besonders einflussreich dar. Kosten können bei der Beschäftigung mit einer Aufgabe auftreten, wie z.B. der Anstrengungsaufwand oder eine negative Emotion, die überwunden werden muss, damit Leistungshandeln einsetzbar und langfristig aufrechterhalten werden kann.

Rustemeyer und Rausch (2007) konnten weiter zeigen, dass sich im Kontext einer wichtigen Prüfung insbesondere das situationsspezifische Aufschiebeverhalten als handlungsrelevant erweist. Prüflinge mit einem geringen Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit und einer hohen Prüfungsangst neigen dazu, Tätigkeiten, die im Kontext einer anstehenden Prüfung notwendigerweise erfüllt werden müssen, aufzuschieben. Dispositionelles Aufschiebeverhalten steht dagegen nur mit Erwartungsvariablen wie „Zeitmanagement“ und „Selbstkonzept“, jedoch nicht mit Wertvariablen und Prüfungsangst im Zusammenhang. In der Studie von Helmke und Schrader (2000) traten auch signifikante Korrelationen zwischen dem Persönlichkeitsmerkmal und den entsprechenden motivationalen Variablen und der Prüfungsangst auf. Jedoch fand – anders als in der vorliegenden Studie – die Befragung bei Helmke und Schrader nicht im Kontext einer aktuellen Prüfungsvorbereitung statt, sondern studienbegleitend.

Modell der Nützlichkeitserwägung (Piers Steel)

Einen eigenen Ansatz entwickelt Steel (2007, 2011) ausgehend von seiner 2007 durchgeführten Metaanalyse. Steel konzipiert das Konstrukt „Prokrastination“ als ein erweitertes Erwartung-mal-Wert-Modell, in das außer „Erwartung“ und „Wert“ noch zwei weitere Variablen eingehen, nämlich „Anfälligkeit für Prokrastination“ und „persönliche Aufschiebetendenz“.

Dazu stellt Steel (2007) folgende Gleichung auf, die er in seinem Buch 2011 als Aufschiebeformel bezeichnet:

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Quelle: nach Steel (2007, p. 71)

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Quelle: nach Steel (2011, S. 49)

Die obige Gleichung der Nützlichkeitserwägung (utility) bezieht sich darauf, wie wünschenswert eine Aufgabe oder Wahlmöglichkeit für eine Person ist. Laut Definition gehen Personen primär einem Verhalten nach, das die höchste Nützlichkeit für sie hat. Aktivitäten, die einen hohen Wert (V) und eine hohe Erwartung (E) haben (im Zähler), sollten wünschenswerter sein als solche mit geringer Erwartung und geringerem Wert. Der Nenner der Gleichung enthält ein Zeitelement. Positive Aktivitäten, die sofort realisierbar sind (D), sollten höher bewertet werden und eine geringere Verzögerungstendenz besitzen als Aktivitäten, die erst später ausgeführt werden können. Wenn die Verzögerung stärker wird (der Nenner größer wird), sinkt die Nützlichkeitserwägung. Das I bezieht sich auf die Sensitivität bzw. Anfälligkeit der Person gegenüber Verzögerungen. Je größer „I“ wird, desto größer wird der Wert der Anfälligkeit für Prokrastination.

Wie sind nun die Variablen im Einzelnen definiert und operationalisiert?

Erwartung (expectancy) bezieht sich auf Wahrscheinlichkeit oder Chance des erfolgreichen Bearbeitens einer Aufgabe bzw. Tätigkeit.

Wert (value) kann nach Steel (2011) „technisch“ umschrieben werden als Freude, Spaß oder Vergnügen (enjoyment), die mit einer Aufgabe einhergehen. Je weniger Wert eine Aufgabe für die Person hat, umso schwieriger wird es, damit zu beginnen.

Diese beiden Variablen entsprechen weitgehend den Definitionen, die in den klassischen Erwartung-mal-Wert-Theorien verwendet werden. Im Nützlichkeitsmodell fügt Steel (2007, 2011) jedoch noch zwei weitere, speziell auf Prokrastination bezogene Variablen hinzu, die weniger klar definiert sind.

Impulsivität (J) ist ein Merkmal von Personen, die ohne zu denken handeln, die ihre Gefühle nicht kontrollieren können und impulsiv sind. Dieses Merkmal bildet den eigentlichen harten Kern von Prokrastination, so Steel (2011). Laut einer Vielzahl empirischer Studien zählen Impulsivität (impulsiveness) der Person dazu sowie folgende Persönlichkeitseigenschaften: geringe Gewissenhaftigkeit (low conscientiousness), geringe Selbstkontrolle (low self-control) und hohe Ablenkbarkeit (high distractibility). Dabei scheint jedoch die Impulsivität den größten Anteil zu haben.

Ganz entscheidend ist für Steel (2007, 2011) auch der zeitliche Einfluss (delay). Ziele, die noch weit entfernt und relativ abstrakt sind, führen zu stärkerem Aufschieben als kurzfristige, konkrete Ziele. Je näher z.B. eine Prüfung rückt, desto weniger schiebt die Person auf, d.h., kurz vor einer Prüfung arbeitet sie ganz intensiv.

Steel (2007, p. 72, Tab. 1) operationalisiert die vier Konstrukte seiner Gleichung folgendermaßen: Die Erwartung wird über „Selbstwirksamkeitserwartung“ (self-efficacy; vgl. Bandura, 1997) operationalisiert. Wert wird anhand von drei Variablen operationalisiert, nämlich „Aufgabenaversivität“, „Leistungsmotivation“ und „Langeweile“. Impulsivität wird ebenfalls über drei Variablen operationalisiert: „Impulsivität“, „Unaufmerksamkeit“ und „mangelnde Selbstkontrolle“, und die Zeitkomponente Verzögerung wird über die Variablen „Intentions-Verhaltens-Diskrepanz“, „Organisiertheit“ und „Belohnungsaufschub“ operationalisiert.

Die Annahmen seines Nützlichkeitsmodells sieht Steel (2007) durch die Ergebnisse seiner Metaanalyse, in der er 156 Studien zur Prokrastination untersucht, bestätigt.

6.4. Modelle der Handlungsphasen

Viele Forscher und Forscherinnen haben Prokrastination als ein Defizit in der Handlungsregulation bzw. in Selbstregulationsprozessen beschrieben, wobei jedoch von unterschiedlichen zugrunde liegenden theoretischen Modellen ausgegangen wird. In den empirischen Studien werden vorrangig Fragen zu spezifischen Selbstregulationsprozessen überprüft (vgl. Blunt & Pychyl, 2005; Dewitte & Lens, 2000; Ferrari, 2001; Wolters, 2003); dabei sind die Relationen der verwendeten Variablen untereinander und zueinander so gut wie gar nicht geklärt (Schouwenburg, 2004; Rosario et al. 2009).

Einen umfassenden und recht fruchtbaren Ansatz der Prokrastinationsforschung, bei dem die Handlungsregulation der Person zur Grundlage der Beschreibung der motivationalen und volitionalen Bedingungen gemacht wird, bieten das Rubikonmodell von Heckhausen und als Ergänzung die Handlungskontrolltheorie von Kuhl.

Rubikonmodell der Handlungsphasen (Heinz Heckhausen)

Das sogenannte Rubikonmodell der Handlungsphasen von Heckhausen (1989) wird von verschiedenen Autoren und Autorinnen (Helmke & Schrader, 2000; Schulz, 2007; Jorke, 2007) als ein heuristischer Ansatz für ein theoriegeleitetes Verständnis der Wirkungsweise, Bedingungsfaktoren und Begleiterscheinungen von Prokrastination verwendet. Helmke und Schrader (2000, S. 222) gehen davon aus, dass in jeder der vier Phasen des Rubikonmodells Aufschiebeverhalten zum Ausdruck kommen kann. Weiter betonen sie, dass das Modell zur Erklärung besonders nützlich sei, weil Prokrastination hier nicht als konstantes Persönlichkeitsmerkmal beschrieben wird, sondern stattdessen eine dynamische Sichtweise eingenommen wird, in der aufschiebendes Verhalten anhand der einzelnen Phasen des Handlungsprozesses rekonstruiert wird.

Beschreibung des Handlungsphasenmodells

Das Rubikonmodell ist als Prozessmodell konzipiert und beschreibt den Ablauf einer Handlung von einem Wunsch bis zur Vollendung und der abschließenden Bewertung. Als Handlung gelten definitionsgemäß „alle Aktivitäten, denen eine ‚Zielvorstellung‘ zugrunde liegt“ (Achtziger & Gollwitzer, 2006, S. 277). Der chronologische Ablauf in vier Phasen bildet den idealtypischen Ablauf einer Handlung ab. Hiermit wird also ein allgemeiner Handlungsablauf beschrieben, der in diesem Umfang jedoch nicht bei allen Handlungen exakt so aussehen muss, besonders nicht bei alltäglichen, fast automatisierten Handlungen. Dennoch lässt sich Prokrastination gut an dem Modell zur Handlungsregulation beschreiben, auch wenn im Modell die Gründe für aufschiebendes Verhalten nicht genau betrachtet werden; dazu bietet sich besser die Handlungskontrolltheorie an (Beißner, 2004, S. 13; Gollwitzer, 1996, S. 533f.; Schulz, 2007, S. 29). Das Rubikonmodell unterscheidet vier verschiedene Phasen im Motivationsprozess (vgl. Abb. 4), die nachfolgend kurz charakterisiert werden.

Prädezisionale Motivationsphase

In der ersten Phase wird eine Auswahl getroffen. Wünsche und Anliegen der Person werden auf ihre Realisierbarkeit hin abgewogen. Der Handelnde versucht, sich darüber Klarheit zu verschaffen, welche Aufgaben oder Aktivitäten wünschbar (desirability) und zugleich machbar (feasability) sind. Realisierbarkeit beinhaltet u.a. die subjektive Abwägung dahin gehend, ob die persönlichen Fähigkeiten hinreichend sind, das gewünschte Ereignis durch eigenes Handeln zu erreichen, ob der situative Kontext, in dem die gewünschte Handlung ausgeführt werden soll, die Ausführung begünstigt oder eher behindert, ob die Zeit und die Mittel, die zur Vollendung der Tätigkeit notwendig sind, zur Verfügung stehen. Während dieses Abwägungsprozesses wird so objektiv und offen wie eben möglich versucht herauszufinden, welcher der vielen Wünsche unter den bestehenden Bedingungen die größte Eintretenswahrscheinlichkeit hat (Heckhausen & Heckhausen, 2006, S. 279). In dieser Phase spielt die Selbstwirksamkeitserwartung eine wichtige Rolle, also Fragen wie: „Was traue ich mir selber zu?“, die in Bezug auf die eigene Leistungsfähigkeit gestellt werden. Nach der Analyse der Realisierbarkeit und Wünschbarkeit folgt die Entschlussfassung, die den Abschluss der ersten Phase darstellt. Mit der Entschlussfassung fühlt sich die Person verpflichtet, die gebildete Intention auch in die Tat umzusetzen (sogenannte Zielbindung oder commitment). Diese Intentionsbildung wird als das „Überschreiten des Rubikon“ bezeichnet. Es entsteht ein „Gefühl der Entschlossenheit“ (vgl. Gollwitzer, 1996, S. 535; Schulz, 2007, S. 30). Dies ist die Phase, in der das Was im Fokus steht. Es ist der Prozess der Zielfindung und nicht der Prozess der konkreten Realisierung, wie es bei der volitionalen Bewusstseinslage, die dann folgt, der Fall ist. Mit „Volition“ ist die Fähigkeit gemeint, einen Willen oder auch eine Handlungsausführung trotz Störungen durch innere und äußere Widerstände aufrechterhalten zu können (vgl. Rheinberg, 2008).

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Abb. 4: Darstellung der vier Handlungsphasen des Rubikonmodells (nach Heckhausen & Heckhausen, 2006, S. 278)

Präaktionale Volitionsphase

In der zweiten Phase geht es um die Planung der Handlung zu der in der vorangegangenen Phase gefassten Intention. Dazu gehören neben der Konkretisierung der Handlungsausführung in Bezug auf wann, wo, wie und wie lange auch die Festlegung der Reihenfolge, in der die nötigen Handlungen angegangen werden sollen. Das Wann bezieht sich auf den optimalen Beginn. Der Zeitpunkt der Handlungsinitiierung sollte so gewählt sein, dass genügend Zeit für die Bearbeitung der aktuellen Intention besteht und man gedanklich wie emotional frei genug dafür ist. Das Wo als Ort der Handlungsausführung spielt nicht nur zu Beginn eine große Rolle, sondern im gesamtem Prozess, um sich auf die gestellte Aufgabe konzentrieren zu können und nicht abgelenkt zu werden.

Die beiden Fragen nach dem „wie“ und dem „wie lange“ sind sehr unterschiedlich. Es kann bei dem temporären Aspekt „wie lange“ um einen vorgegebenen Termin gehen, es kann aber auch einen finalen Termin geben, den man sich selbst setzt. Dabei sind die Planung des Arbeitsverhaltens und die Festlegung der Arbeitseinheiten pro Tag wichtig. Bei dieser Planung der Handlungseinheiten kommt das Wie zum Tragen: „Auf welche Art und Weise gehe ich vor? Wie zerlege ich die Aufgabe in kleine Teilaufgaben?“ Der Planungsprozess entscheidet, ob eine Intention auch tatsächlich in die Tat umgesetzt wird oder zumindest erst einmal begonnen wird. Die Volitionsforschung hat nachgewiesen, dass durch das Bilden einer kognitiven Struktur während des Planens die Handlungswahrscheinlichkeit erhöht wird.

Dieser Prozess der Planung endet mit dem Beginn der Handlung und führt zur dritten Phase des Modells. Dieser Schritt wird aber nur erreicht, wenn die Planung auch konsequent beendet wird und man sich nicht in der Planung verliert oder zu penibel plant und somit die eigentliche Arbeitshandlung unnötig zu vermeiden versucht. Dadurch wird der eigentliche Handlungsbeginn immer weiter verschoben; in diesem Fall spricht man von Prokrastination (vgl. Gollwitzer, 1996, S. 535f.; Helmke & Schrader, 2000; Schulz, 2007, S. 30).

Aktionale Volitionsphase

Die eigentliche Ausführung der Handlung bis zu ihrer Beendigung ist Gegenstand dieser Phase. Die Handlungsregulation muss zu diesem Zeitpunkt vor hinderlichen Einflüssen schützen. Aus der unterschiedlichen Volitionsstärke lässt sich ablesen, wie stark der Wille ist, ein bestimmtes Ziel zu erreichen und die gestellte Aufgabe zu beenden. Das Ende der dritten und der folgende Übergang zur letzten Phase werden durch die Beendigung der Handlung bzw. das „Vorliegen von Handlungsergebnissen“ charakterisiert (vgl. Gollwitzer, 1996; Beißner, 2004; Schulz, 2007).

Postaktionale Motivationsphase

In dieser Bewertungsphase erfolgt die Beantwortung der Frage, „ob das Zielstreben erfolgreich war“ (Gollwitzer, 1996, S. 537). Es muss somit geprüft werden, ob das gesetzte Ziel erreicht wurde. Im Vorhinein sollten klar definierte Abbruchvorsätze formuliert werden, wann genau ein gesetztes Ziel als erreicht angesehen wird und wann nicht. Ist das Ziel erfüllt, wird überprüft, ob das Handlungsergebnis mit dem gewünschten Ziel übereinstimmt. Fällt diese Überprüfung positiv aus, kann die Intention deaktiviert werden. Bei einer vorhandenen Diskrepanz müssen Konsequenzen für weiterführende Intentionen gezogen werden, oder die aktuelle Handlung muss weitergeführt werden, um das Ziel doch noch zu erreichen. Alternativ kann man das gesetzte Ziel auch dem Erreichten anpassen, sodass Wunsch und Wirklichkeit wieder übereinstimmen.

Bewusstseinslagen

Unter Bewusstseinslagen sind kognitive Orientierungen zu verstehen, die das Planen, Abwägen, Handeln und Bewerten, also die in jeder Phase zu lösenden Aufgaben, unterstützen (Gollwitzer, 1996, S. 542). Experimente haben gezeigt, dass sich kognitiv in jeder Phase etwas anderes abspielt. In der ersten Bewusstseinslage, die das Abwägen beinhaltet, werden primär Informationen verarbeitet, die sich mit der Wünsch- und mit der Realisierbarkeit befassen. Die Informationsverarbeitung soll realitätsorientiert sein und die Informationsauswahl möglichst unparteiisch erfolgen. In der zweiten Phase liegt die Bewusstseinslage des Planens vor, die den störungsfreien Ablauf der später ablaufenden Handlung gewährleistet. Es werden nicht mehr wahllos alle Informationen aufgenommen, sondern es wird ausgewählt, und es werden nur relevante Informationen zu dem Wann, Wo, Wie und der Dauer der Handlung näher betrachtet. Somit werden allgemeine Störungen, die zu Prokrastination führen könnten, weitgehend ausgeschlossen. Eingehende Informationen werden nur noch parteiisch und optimistisch im Sinne des zu erreichenden Zieles wahrgenommen. Die Bewusstseinslage des Handelns ist volitional und unterstützt die Umsetzung der Aufgabe in ihrer Phase, hier in der aktionalen Volitionsphase. In dieser soll die erfolgreiche Zielrealisierung erreicht werden. Störende Reize und Gedanken werden ignoriert, und auch die gewählte Zielintention wird nicht in Frage gestellt. Benötigte Informationen werden realisierungsorientiert verarbeitet, ein Prozess, der sich „auf internale und externale Aspekte bezieh[t]“ (Gollwitzer, 1996, S. 547). Die Bewusstseinslage des Bewertens beruht auf der postaktionalen Motivationsphase. Sie fördert den Vergleich des erwarteten Ergebnisses und der Folgen mit den tatsächlichen Ergebnissen und Folgen der funktionierenden Bewertung des Handlungsergebnisses.

Anwendung auf das Aufschiebeverhalten

Da Prokrastination offensichtlich mit deutlichen Defiziten in der Handlungsregulation einer Person einhergeht, bietet sich als heuristische Erklärungsmöglichkeit für Prokrastination das oben beschriebene Rubikonmodell von Heckhausen an. Ausgehend vom oben beschriebenen Modell, stellt sich die Frage, an welcher Stelle die Defizite primär auftreten. Laut Helmke und Schrader (2000) kann Prokrastination in allen Phasen des beschriebenen Prozesses auftreten. Das bedeutet konkret: Aufschiebendes Verhalten kann in jeder der vier Handlungsphasen (Abwägungs-, Planungs-, Ausführungs- und Bewertungsphase) auftreten. Es gibt jedoch empirische Hinweise für die unterschiedliche Bedeutung der einzelnen Phasen und dafür, dass sich aufschiebendes Verhalten in bestimmten Phasen besonders negativ auswirkt (s.u. intention-action gap). Da eine umfangreiche empirische Bestätigung noch aussteht, scheint es sinnvoll zu sein, konkret zu prüfen, welche empirischen Forschungsergebnisse zu Prokrastination und Handlungsregulationsdefiziten vorliegen.

Für Helmke und Schrader (2000, S. 223) ist Prokrastination „eine spezifische Manifestation gestörter Prozesse der Selbstregulation im Verhalten – sowohl im motivationalen als auch im volitionalen Bereich“. Dabei sind offensichtlich Merkmale wie niedrige Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Leistungsängste, das Streben nach Erhaltung des Selbstwertes als Bedingungsvariablen für aufschiebendes Verhalten im Handlungsprozess bedeutsam. Dass Prokrastination negativ mit dem Studieninteresse, dem Fähigkeitsselbstkonzept, der Selbstwirksamkeitserwartung und dem Selbstwertgefühl korreliert, positiv dagegen mit ineffizientem Zeitmanagement und Leistungsangst, konnte sowohl in der Untersuchung von Helmke und Schrader (2000) als auch in der von Rustemeyer und Rausch (2007) gezeigt werden.

Ein zentrales Merkmal der Prokrastination bezieht sich, wie in Kapitel 1.3. ausgeführt wurde, auf eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der eigenen Absicht und dem eigenen Verhalten. Diese wird in der Fachliteratur beschrieben als die Kluft zwischen Intention und Verhalten (intention-action gap, vgl. Blunt & Pychyl, 1998; Dewitte & Lens, 2000; Dewitte & Schouwenburg, 2002; Steel, 2007; van Hooft et al., 2005). Übereinstimmend mit der Annahme eines „intention-action gap“ tritt aufschiebendes Verhalten insbesondere nach der Intentionsbildung auf. So scheinen aufschiebende Personen zwar eine Intention zu bilden, bei der Planung bzw. Handlungsinitiierung kommt es dann aber zu Verzögerungen. Die gefassten Pläne werden aufgeschoben oder sogar völlig aufgegeben (Schulz, 2007). Laut Helmke und Schrader (2000) verfügen aufschiebende Personen oft über den Wunsch und auch die Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen, die Intentionen werden jedoch nicht realisiert.

In der Forschungsliteratur zur Prokrastination wird fast einhellig, wenngleich wenig empirisch fundiert, die Hypothese vertreten, dass die Planungsfähigkeit bei Prokrastinierern defizitär oder einfach anders ist als bei nicht prokrastinierenden Personen. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse publizierter Interventions- und Trainingsansätze scheint vor allem unzureichendes Planungsverhalten eine kritische Variable zu sein. Überlegungen hinsichtlich der Planungsfähigkeit gehen u.a., wie oben beschrieben, davon aus, dass durch eine unspezifische Intentionsbildung die nachfolgende Planung erschwert wird. Dabei sind zwei Möglichkeiten denkbar: Sowohl eine unspezifische Planung als auch eine übertriebene Planung können die Handlungsinitiierung verhindern. Dass auch eine zu genaue Planung die Handlungsrealisierung erschweren kann, mag zunächst verwundern, ist aber damit zu erklären, dass übertriebenes Planungsverhalten selbst ein Vermeidungsverhalten darstellt, mit dem die Ausführung der eigentlichen Handlung hinausgezögert wird.

Neuere Arbeiten (vgl. Schulz, 2007) untersuchen die vermuteten Zusammenhänge zwischen Prokrastination und unzureichender Ziel- und Planungskompetenz der Person. Ein direkter empirischer Nachweis, dass aufschiebende Personen schlechtere Planer sind als nicht aufschiebende Personen, konnte jedoch von Schulz (2007), die sich explizit mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, nicht erbracht werden. Die Autorin hat in ihrer Dissertation die Frage untersucht, ob die Handlungsregulation bei aufschiebenden Personen beeinträchtigt ist, wobei Schulz unter Handlungsregulation vor allem Planungsverhalten versteht. Schulz (2007) untersuchte im Experiment drei Gruppen, nämlich prokrastinierende Personen mit erhöhter und solche mit niedriger Depressivität und eine Kontrollgruppe, und fand weder hinsichtlich der Spezifität persönlicher Pläne noch bei einer einungsdiagnostischen Aufgabe signifikante Gruppenunterschiede. Weitere für die Handlungsregulation bedeutsame Konstrukte wie Handlungskontrolle und Rumination wurden erfragt. Das Planungsverhalten prokrastinierender Personen unterscheidet sich nach dieser Studie nicht von dem der Kontrollgruppe. Die beiden Prokrastinationsgruppen wiesen jedoch im Vergleich mit der Kontrollgruppe eine höhere Lageorientierung und eine stärkere Rumination (Prokrastinierer mit hohen Depressionswerten) auf.

In der Untersuchung von Dewitte und Schouwenburg (2002) wurden Studierende, die eine Klausur schreiben mussten, nach ihrem Lernverhalten befragt. Die Ergebnisse zeigen im Gegensatz zur Ausgangshypothese, dass Prokrastinierer zwar weniger lernen als Nicht-Prokrastinierer, sich ihre Pläne jedoch nicht unterscheiden.

Das Planungsverhalten von Prokrastinierern scheint eher durch Unterschätzung der tatsächlich benötigten Lernzeit bestimmt zu sein. Buehler, Griffin und MacDonald (1997) nehmen an, dass der „optimistic bias“ prokrastinierender Personen auf bestimmte kognitive Prozesse zurückzuführen ist. So wird etwa früheren Misserfolgen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, sie werden quasi ausgeblendet. Allerdings gibt es auch andere Studien, die keine optimistische Verzerrung („planning fallacy“, d.h., die zur Bearbeitung benötigte Zeit signifikant zu unterschätzen) zeigen. In der Studie von Pychyl, Morin und Salmon (2000) waren prokrastinierende Studierende, die sich auf ein Examen vorbereiteten, ebenso korrekt in ihrer Zeitscheinschätzung wie nicht prokrastinierende Studenten. Allerdings schränken die Autoren selbst ein, dass es sich bei ihrer Stichprobe nicht um eine „normale“ studentische Stichprobe handelt, da fast die Hälfte der teilnehmenden Personen im Laufe der Untersuchung ausfielen und aus der Studie ausgeschlossen werden mussten. Möglicherweise wurden damit auch hoch prokrastinierende Studierende aus der Studie ausgeschlossen (Pychyl et al., 2000, p. 148).

Neben einem ungünstigen Zeitmanagement zeigen prokrastinierende Personen auch eine unzureichende Ziel- und Prioritätensetzung, was beispielsweise von Lay und Schouwenburg (1993) als Teilbereich eines defizitären Zeitmanagements betrachtet wird. Die Autoren fanden in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen Prokrastination und den drei Subskalen des Zeitmanagements (Routineverhalten, Ziele und Prioritäten, Kontrolle über die Zeit). Die Subskala „Ziele und Prioritäten“ korrelierte negativ mit Prokrastination (r = −.45). Noch höher negativ korrelierte die Subskala „Kontrolle über die Zeit“ mit Prokrastination (r = −.64).

In vielen Interventionsprogrammen zur Prokrastination wird Zeitmanagement als wichtige Variable hervorgehoben und trainiert. Zielsetzungskompetenz, also die Fähigkeit, sich realistische, spezifische und zeitlich begrenzte Ziele zu setzen, wird als Teilbereich des Zeitmanagements betrachtet und untersucht. Nur wenige Studien untersuchen Zielsetzungskompetenz als eigenständige Variable im Zusammenhang mit Prokrastination, sodass Schulz (2007, S. 43) resümiert: „Aufgrund der eher dünnen empirischen Basis lässt sich die Frage, ob Personen mit einer starken Prokrastinationsneigung tatsächlich globalere Ziele haben und unspezifischere oder weniger konkrete Pläne als Nicht-Prokrastinierende, bislang noch nicht befriedigend beantworten.“

Dennoch beinhalten Interventionsprogramme, vor allem wenn sie verhaltenstherapeutisch begründet sind, als ein zentrales Element die Einübung von Ziel- und Planungskompetenz. Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden angeleitet, konkrete, überschaubare, differenzierte Ziele und Pläne zu formulieren und umzusetzen (vgl. Tuckman & Schouwenburg, 2004; Höcker, Engberding, Beißner & Rist, 2008, 2009).

Planungsverhalten und insbesondere die Zielsetzungskompetenz spielen auch eine wichtige Rolle beim selbst regulierten Lernen. So untersuchte Wolters (2003), in welchem Zusammenhang akademische Prokrastination und verschiedene Schlüsselkomponenten des selbst regulierten Lernens stehen. Der Autor geht von der Beobachtung aus, dass Personen, die häufiges aufschiebendes Verhalten zeigen, sich stark von Personen unterscheiden, die als selbst regulierte Lerner bezeichnet werden können. Letztere besitzen verschiedene Fähigkeiten und Kenntnisse und verfügen über Strategien, die ihnen helfen, ihr Lernverhalten zu kontrollieren und zu optimieren. Sie verfügen über adaptive motivationale Einstellungen und Überzeugungen, mit denen das Lernen in verschiedenen akademischen Kontexten optimal organisiert werden kann.

Neben Schwierigkeiten in der Planungsphase kann sich Prokrastination auch in der Handlungsphase zeigen, nämlich in der ungenügenden Abgrenzung gegenüber konkurrierenden, attraktiveren Aktivitäten. Ansatzpunkte für prokrastinierendes Verhalten könnten beispielsweise eine fehlende Handlungsinitiierung oder eine unzureichende Persistenz in der Handlungsausführung sein. Eine Handlung kann vorläufig abgebrochen werden, um eine andere Tätigkeit, wie beispielsweise Telefonieren, auszuführen und dadurch das Erreichen der Bewertungsphase verhindern. In der Handlungsphase könnten Selbstzweifel, mangelnde Ausdauer oder die Ablenkung durch angenehmere Tätigkeiten zum Abbruch oder Aufschub der Aufgabenerledigung führen (Helmke & Schrader, 2000). Nach Bossong (1993) begünstigt eine geringe Handlungskontrolle eher die Ablenkung durch attraktivere Handlungen, wie Fernsehen oder Telefonieren. Prokrastination kann sich also im Handlungsprozess darin zeigen, dass Absichten unerfüllt bleiben, zielgerichtetes Handeln nicht eintritt oder für die Erreichung des Zieles unwichtige Handlungen ausgeführt werden.

So geht auch Jorke (2007, S. 22) davon aus, dass Prokrastination vor allem in einem Versagen der Selbstregulation begründet ist (vgl. Dietz et al., 2007; Ferrari, 2001; Wolters, 2003), und ordnet folglich Prokrastination primär den beiden volitionalen Phasen, der Planungs- und Handlungsphase zu, wie die Abbildung 5 zeigt.

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Abb. 5: Einordnung der Prokrastination in das Rubikonmodell der Handlungsphasen (nach Jorke, 2007, S. 23)

Für die Bewertungsphase vermuten Helmke und Schrader (2000), dass Prokrastinierer eher zu Bewertungen neigen, die selbstabwertende bzw. negative Gefühle hervorrufen. Dies kann dann weitere Konsequenzen bezüglich zukünftiger Aufgaben haben.

Die gleichzeitige Anwendung und Überprüfung mehrerer Phasen des Modells auf die prozesshafte Erklärung und den prozesshaften Verlauf von Prokrastination ist empirisch bislang jedoch noch nicht erforscht worden.

Handlungskontrolltheorie (Julius Kuhl)

Neben dem Rubikonmodell stellt die in den 1980er Jahren entwickelte Handlungskontrolltheorie von Kuhl (1983, 1994, 2010) einen weiteren interessanten Ansatz zur Erklärung von Prokrastination dar. Die Handlungskontrolltheorie versucht zu erklären, warum manche Handlungen trotz einer zu Beginn hohen Motivation und einer recht guten Zielperspektive nicht beendet, sondern abgebrochen oder zumindest unterbrochen werden und folglich eine geplante Handlung scheitert (Schulz, 2007). Es werden in der Handlungskontrolltheorie nicht nur eine, sondern mehrere miteinander konkurrierende Intentionen betrachtet, aus der die Person auswählen muss, damit sie ihr Zielvorhaben erfolgreich in eine Handlung umsetzen kann.

Kuhl hat untersucht, welchen Personen die Handlungskontrolle besonders gut gelingt, und konnte zeigen, dass bei ihnen die vier Elemente einer „vollständigen und adäquaten Handlungsabsicht“ vorliegen. Sie haben

1. den angestrebten zukünftigen Zustand klar vor Augen,

2. ebenso den zu verändernden gegenwärtigen Zustand

3. wie auch die zu überwindende Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand

4. und schlussendlich auch die beabsichtigte Handlung, die zur Reduzierung der Ist-Soll-Diskrepanz erforderlich ist.

„Personen, deren Absichten häufig in dieser vollständigen Form ausgebildet sind, nennt Kuhl (1983) handlungsorientiert“ (Rheinberg, 2006, S. 182).

Fehlt eines dieser vier Elemente, ist der Handlungserfolg nicht mehr gewährleistet. Kuhl interessiert sich vor allem für die vermuteten Ursachen bzw. Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung einer vorliegenden Intention auftreten und somit eine erfolgreiche Handlungsausführung behindern. Damit eine Intention in Handlung umgesetzt und ein reibungsloser Verlauf der Zielrealisierung erreicht werden kann, muss die Handlungstendenz gegenüber anderen konkurrierenden Handlungstendenzen abgeschirmt werden. Die dafür eingesetzten Mechanismen werden Handlungskontrollstrategien genannt. Kuhl geht von verschiedenen Strategien der Handlungskontrolle aus: selektive Aufmerksamkeit, Enkodierungskontrolle, Emotionskontrolle, Motivationskontrolle, Umweltkontrolle, sparsame Informationsverarbeitung und Misserfolgsbewältigung (vgl. Heckhausen, 1989, S. 197f.; Rheinberg, 2006, S. 183). So sollten Personen Informationen, die handlungsstörend sind, ausblenden können. Weiter sollten sie negative Emotionen fernhalten und positive, handlungsfördernde Emotionen möglichst herbeiführen können. Auch die Umwelt kann im Sinne der Stärkung und Selbstverpflichtung eigener Handlungsabsichten beeinflusst werden, z.B. durch die Mitteilung der eigenen Ziele an Freunde und Bekannte. Weitere hilfreiche Kontrollstrategien sind das Vermeiden einer zu langen Abwägung von Alternativen und die Distanzierung von unerreichbaren Zielen, etwa nach einem Misserfolg.

Kuhl unterscheidet bei Personen zwei grundsätzlich unterschiedliche Zustände im Sinne von Eigenschaften oder auch zwei Kontrollmodi, nämlich die Handlungs- und die Lageorientierung, die empirisch mit dem Handlungskontrollfragebogen (HAKEMP 90 = Handlungskontrolle nach Erfolg, Misserfolg und prospektiv) überprüft werden können. Der Gebrauch von Kontrollstrategien wird nach Kuhl von handlungsorientierten Personen gefördert, nicht jedoch von lageorientierten Personen. Eine handlungsorientierte Person kann den eigenen Affekt besser regulieren als eine lageorientierte Person. Sie nimmt die Aufgabe in Angriff und ihre kognitiven Prozesse sind darauf gerichtet, den Ist-Zustand in den angestrebten Soll-Zustand zu überführen. Handlungsorientierte Personen halten sich nach Misserfolg nicht lange mit den Fehlern auf und haben den Impuls, die missliche Situation möglichst schnell zu ändern und zu verbessern.

Anders die lageorientierten Personen: Sie sind mit ihren Gedanken und Gefühlen auf ihre gegenwärtige Lage fixiert und können sich nur schlecht davon lösen, um neue Aufgaben in Angriff zu nehmen. Misserfolg können sie nicht gut verarbeiten, und es bereitet ihnen Schwierigkeiten, sich auf neue Aufgaben einzustellen, u.a. weil ihnen perseverierende Gedanken an vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Situationen durch den Kopf gehen. Diesen Personen mangelt es an den bereits oben genannten Handlungskontrollstrategien, wie Kontrolle der eigenen Aufmerksamkeit, tiefere Verarbeitung zielbezogener Informationen oder auch Emotionskontrolle (Kuhl, 1987).

Der Test, mit dem Handlungs- und Lageorientierung (action and state orientation) erfasst werden können, enthält drei Subskalen (vgl. Rheinberg, 2004, S. 129), die nachfolgend mit Beispiel-Items beschrieben werden.

– Handlungs- und Lageorientierung nach Misserfolg
Beispiel-Item: Wenn meine Arbeit als völlig unzureichend bezeichnet wird, dann

a) bin ich zuerst wie gelähmt. (LO)

b) lasse ich mich davon nicht beirren. (HO)

– Entscheidungsbezogene (prospektive) Handlungs- vs. Lageorientierung
Beispiel-Item: Wenn ich weiß, dass bald etwas erledigt werden muss, dann

a) muss ich mir oft einen Ruck geben, um den Anfang zu kriegen. (LO)

b) fällt es mir leicht, es schnell hinter mich zu bringen. (HO)

– Handlungs- und Lageorientierung bei der Tätigkeitsausführung
Beispiel-Item: Wenn ich für etwas mir Wichtiges arbeite, dann

a) unterbreche ich gern, um etwas anderes zu tun. (LO)

b) gehe ich so in der Arbeit auf, dass ich lange Zeit dabeibleibe. (HO)

Jede der drei Subskalen enthält zwölf Items mit jeweils einer handlungs- und einer lageorientierten Antwortalternative, von denen eine ausgewählt werden muss. Laut Kuhl sollten die Subskalen getrennt ausgewertet werden, da sie etwas Unterschiedliches vorhersagen.

Je nach Subskala hat die Lageorientierung eine etwas andere Akzentsetzung. Ist die Lageorientierung als primär misserfolgsbezogen zu charakterisieren, dann hängt die Person dem Misserfolg mental nach und behindert dadurch die Ausführung einer neuen Aktivität. Ist die Lageorientierung entscheidungsbezogen, wird das Ziel zwar nicht aufgegeben, aber auch nicht in Angriff genommen. Die Zielbindung ist abgeschwächt. Die dritte Form ist die ausführungsbezogene Lageorientierung. Hier wird die Handlungsintention zugunsten attraktiverer alternativer Intentionen aufgegeben.

Grundsätzlich kann sowohl eine Handlungs- als auch eine Lageorientierung sinnvoll sein, problematisch wird es jedoch, wenn die Person nicht in der Lage ist, von der Lageorientierung in die Handlungsorientierung zu wechseln, sobald die Situation eine Handlung erfordert. Lageorientierte Personen haben vor allem in Stresssituationen Probleme, den Überblick zu behalten.

In empirischen Studien zeigt sich, dass Prokrastination häufig mit einer Lageorientierung einhergeht, wie beispielsweise in der Studie von Helmke und Schrader (2000), in der die Subskala „Entscheidungsbezogene (prospektive) Handlungs- vs. Lageorientierung“ eingesetzt wurde. Nach Auffassung der Autoren zeigen aufschiebende Personen angesichts zu erledigender Aufgaben ähnliche Verhaltens- und Selbstkontrolldefizite wie lageorientierte Personen (vgl. auch Beswick & Mann, 1994; Blunt & Pychyl, 1998). Auch die Studie von Blunt und Pychyl (2005) legt einen Zusammenhang zwischen Lageorientierung und Prokrastination nahe. Studierende, die lageorientiert waren, hatten signifikant höhere Werte auf der Prokrastinationsskala als handlungsorientierte. Sie beurteilten gleichzeitig ihre persönlichen Projekte (mit Hilfe des Fragebogens zur Projektanalyse von Little, 1983) und hatten auf den Projektdimensionen „Langeweile“, „Frustration“, „Schuld“, „Ungewissheit“ höhere Werte und auf den Dimensionen „Kontrolle“, „Ergebnisse“, „Fortschritt“ niedrigere Werte als handlungsorientierte Personen.

Studien zur Prokrastination und Lageorientierung legen nahe, dass beide Konstrukte eine große Ähnlichkeit haben. So gelingt es weder lageorientierten noch prokrastinierenden Personen, ihre Intentionen erfolgreich in Handlung zu überführen, selbst wenn die anderen Bedingungen stimmen. Durch den Einsatz von Handlungskontrollstrategien gelingt es der handelnden Person, ihre Ziele und Handlungsintentionen von störenden Kognitionen und konkurrierenden Intentionen abzuschirmen und so ihr Handlungsziel zu erreichen.

Für die zukünftige Prokrastinationsforschung sind u.a. die von Kuhl herausgestellten Kontrollmechanismen (selektive Aufmerksamkeit, Enkodierungskontrolle, Emotionskontrolle, Motivationskontrolle, Umweltkontrolle, sparsame Informationsverarbeitung und Misserfolgsbewältigung) interessant, da sie lageorientierten und aufschiebenden Personen weitgehend fehlen oder in einer unvollständigen und dysfunktionalen Form vorliegen. Diese Prozesse der fehlenden Selbstregulation und Selbstkontrolle, die Kuhl für die Lageorientierung beschrieben hat, können nach Helmke und Schrader (2000) recht gut die Verhaltensdefizite von aufschiebenden Personen erklären. Ob die Handlungskontrolltheorie als ein Erklärungsansatz für aufschiebendes Verhalten angesehen wird oder ob – etwas bescheidener – die Lageorientierung als ein Korrelat von Prokrastination zu sehen ist (vgl. Schulz, 2007), wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Vor allem fehlen dazu weiterführende empirische Untersuchungen, da die Anzahl der vorliegenden Studien noch recht überschaubar ist.

6.5. Zusammenfassung

Fast jeder hat eine Alltagsvorstellung darüber, wie sich Aufschiebeverhalten manifestiert, und kann über eigene Aufschiebetendenzen in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Aufgabetypen berichten. Es liegen viele korrelative Studien vor, die Zusammenhänge zu Personenvariablen, aber auch zu Kontextmerkmalen aufzeigen. Diese zum Teil singulären Befunde werden in den unterschiedlichen theoretischen Modellen mehr oder weniger umfassend berücksichtigt. So wurden verschiedene Minitheorien oder Hypothesen, abgeleitet aus allgemeineren Theorien in anderen psychologischen Bereichen, aufgestellt und teilweise empirisch überprüft.

Schon früh zeigten sich positive Zusammenhänge zwischen akademischer Prokrastination und klinischen Merkmalen wie Depression, (Leistungs-)Angst und irrationalen Kognitionen (Rothblum et al., 1986). In der klinisch-therapeutisch orientierten Prokrastinationsforschung (vgl. Ferrari et al., 1995) wendeten Ellis und Knaus bereits in den 1970er Jahren das Therapiekonzept der RET auf Prokrastination an. Es besagt, dass unangemessene, irrationale Kognitionen zu unangemessen hinderlichen Emotionen und Verhaltensweisen (wie eben dem Aufschiebeverhalten) führen und diese irrationalen Kognitionen umstrukturiert werden müssen. Nur so kann es der Person gelingen, das Aufschiebeverhalten dauerhaft erfolgreich zu überwinden.

Bei den theoretischen Ansätzen sind zunächst die behavioralen und kognitiv-behavioralen zu unterscheiden. Bei den behavioralen Ansätzen wurden operante Konzepte der Belohnung und Bestrafung in Bezug auf Prokrastination angewendet, wobei sich aber schon bald die geringe Reichweite und eingeschränkte Erklärungsmächtigkeit dieser Modelle in Bezug auf Aufschiebeverhalten zeigte. Erfolgversprechender schien da das RET-Modell von Ellis und Knaus (1977) zu sein, das zu den kognitiv-behavioralen Ansätzen gezählt wird und bis heute im Rahmen therapeutischer Interventionen oder Trainings zur Überwindung von Prokrastination angewendet wird (u.a. Knaus, 2002; Rückert, 2011). Allerdings fehlen nach wie vor überzeugende empirische Nachweise zur Wirksamkeit dieses Ansatzes.

Ein weiterer erfolgversprechender Ansatz schien das Big-Five-Modell der Persönlichkeit von Costa und McCrae (1992) zu sein, das als nomologisches Netzwerk verwendet wird, um aufschiebendes Verhalten, insbesondere wenn es sich um das Eigenschaftsmerkmal handelt, näher zu bestimmen. Die empirischen Befunde zum Zusammenhang der Big Five und Prokrastination sind relativ einheitlich, obwohl sie mit unterschiedlichen statistisch-methodischen Verfahren ermittelt wurden. Der Hauptfaktor „Gewissenhaftigkeit“ des Big-Five-Modells, der mit all seinen Teilfacetten (Kompetenz, Ordnungsliebe, Pflichtbewusstsein, Leistungsstreben, Selbstdisziplin und Besonnenheit) mit Prokrastination (trait) zusammenhängt, ist wohl die wichtigste Persönlichkeitsdimension, durch die chronische Aufschieber charakterisiert werden können. Deutlich schwächer bestimmt der Neurotizismusfaktor das Persönlichkeitsprofil des Aufschiebers, schon deshalb, weil nur bestimmte Teilfacetten wie Angst, Impulsivität und Depression mit Prokrastination zusammenhängen. Allerdings sind die Einschränkungen, die sich schon allein durch die Wahl einer Persönlichkeitstheorie als Erklärungsmodell ergeben, nicht unerheblich. Die Absicht, ein typisches Persönlichkeitsprofil eines Aufschiebers zu erstellen, anhand dessen Verhaltensprognosen gemacht werden, ist schon deshalb problematisch, weil es den typischen Aufschieber nicht gibt, sondern verschiedene Typen denkbar sind und so in der Literatur beschrieben werden. Auch können die eigentlichen Ursachen des Aufschiebens (warum hat jemand z.B. eine gering ausgeprägte Gewissenhaftigkeit) damit nicht ermittelt werden. Dazu bedarf es anderer Erklärungsansätze.

Ein weiteres theoretisches Modell kommt ursprünglich aus der Motivationspsychologie. Unter dem Oberbegriff „Erwartung-mal-Wert-Modell“ lässt sich das Modell von Eccles und Wigfield, das ursprünglich zur Vorhersage von Leistungshandeln konzipiert war, einordnen. Aber auch das Modell der Nützlichkeitserwägung von Steel ist hier zu erwähnen. Diese Modelle gehen davon aus, dass akademisches Aufschiebeverhalten mit leistungsmotiviertem Handeln im Zusammenhang steht und dieses behindert. Untersuchungen zeigen, dass Erwartungs- und Wertvariablen im signifikanten Zusammenhang mit Prokrastination stehen: Je niedriger die Erwartungs- und Wertvariablen einer Person sind, desto stärker sollte sie zögern und aufschieben. In dem Modell von Eccles und Wigfield zählen zu den Erwartungsvariablen das Fähigkeitsselbstkonzept und die Erfolgserwartung. Die Fähigkeit, Prüfungen, Klausuren etc. nach einem strukturierten Zeitplan vorbereiten zu können, hängt eng mit der Erfolgserwartung der Person zusammen. Kurz gesagt, eine gute Organisation und ein strukturiertes Zeitmanagement sollten mit einer hohen Erwartung und folglich einer geringen Ausprägung der Prokrastination einhergehen (Callies, 2012; Rustemeyer & Rausch, 2007). Steel (2007, 2011) nimmt eine Erweiterung des Erwartung-mal-Wert-Modells um zwei weitere Variablen vor, nämlich „Anfälligkeit für Prokrastination“ und „persönliche Aufschiebetendenz“. Zur Überprüfung der empirischen Voraussetzungen seines Nützlichkeitsmodells führt Steel (2007) eine Metaanalyse durch, und als Strukturierungsansatz bedient er sich des Big-Five-Modells. Eine grundlegende Schwierigkeit beim Modell von Steel (2007) stellen die teilweise unscharfen Definitionen der einzelnen Modellparameter dar, die nicht eindeutig und trennscharf operationalisiert sind. Weiter fehlt auch hier eine empirische Bestätigung des Modells bzw. einzelner Modellkomponenten.

Gegenwärtig scheint der weitreichendste theoretische Ansatz, unter den sich viele Befunde einordnen lassen, das Modell der Handlungsphasen zu sein. Beim sogenannten Rubikonmodell der Handlungsphasen von Heckhausen wird prinzipiell davon ausgegangen, dass in jeder der vier Phasen (Abwägen, Planen, Handeln und Bewerten) Aufschiebeverhalten zum Ausdruck kommen kann, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die meisten Autoren sehen jedoch die beiden volitionalen Phasen (Planen und Handeln) als die für Prokrastination zentralen Prozessphasen. Selbst wenn die Handlungsinitiierung stattfindet, kommt es nicht oder nur verzögert zur geplanten Handlungsausführung. Die Bewertung der (aufgeschobenen) Handlung spielt bei Prokrastinierern sicher auch eine Rolle, aber eine eher untergeordnete.

Die in den 1980er Jahren von Kuhl entwickelte Handlungskontrolltheorie ähnelt dem Modell von Heckhausen, nur erscheint sie realitätsnäher. Gründe hierfür liegen darin, dass die einzelnen Intentionen in Beziehung zu konkurrierenden Intentionen gesehen werden (Störquellen werden bewusst berücksichtigt), was bei der Analyse der sogenannten Handlungskontrollstrategien deutlich wird. Das Konzept der Handlungs- und Lageorientierung bietet einen Schlüssel zum Verständnis von Aufschiebern. Lageorientierte Personen, denen im Gegensatz zu handlungsorientierten Personen die Kontrollstrategien, mit denen sie ihre gefassten Handlungsintentionen gegen konkurrierende Motivationstendenzen abschirmen können, weitgehend fehlen, können schlecht Misserfolg verarbeiten, und sie haben Schwierigkeiten, sich auf neue Aufgaben einzustellen.