Fasst man die Ergebnisse des vorliegenden Buches zusammen, so wird man ernüchternd feststellen müssen, dass es auf die eingangs erwähnte Frage, warum Wolfgang Koeppen seinen so lange angekündigten großen Roman nicht geschrieben hat, keine wirklich befriedigende Antwort gibt; was, nebenbei gesagt, nicht nur daran liegt, dass uns wichtige Einflüsse auf sein privates Leben und sein Umfeld, aber auch seine persönlichen Motive verborgen geblieben sind.
Natürlich könnte man, wie das ja auch geschehen ist, und noch immer geschieht, dafür eine Menge Gründe nennen. Man könnte, wie Marcel Reich-Ranicki das getan hat, „dafür die Literaturkritik verantwortlich“ machen, die Koeppens „Rang nicht erkannt“ und „ihn nicht ausreichend ermutigt“ (Weidermann, 2006, S. 57) habe.
Man könnte auch sagen, Koeppens wechselvolle und zwiespältige Vorgeschichte als Schriftsteller während des „Dritten Reiches“ (Döring, 2003, S. 343) hätte ja in diesem Roman auch ein Thema sein müssen, und das habe ihn blockiert.
Möglich wäre das, wie es natürlich auch möglich wäre, dass der Anspruch, den dieser Schriftsteller an sich selbst gestellt hat, einfach zu hoch war. So hoch jedenfalls, dass die Angst, den eigenen Ansprüchen an ein perfektes Werk nicht genügen zu können, ihm so sehr zusetzte, dass er nicht imstande war, diesen, von seinem Verlag so ersehnten Roman zu schreiben. Solche Ängste gibt es ja reichlich – gerade auch bei Schriftstellern, man denke nur an Franz Kafka.
Denn er, der heute als einer der bedeutendsten Autoren der Weltliteratur gilt, hatte solche „Zweifel … hinsichtlich der Qualität seiner Werke“, dass zu seinen Lebzeiten „nur einzelne Texte an die Öffentlichkeit“ gelangten und er schließlich sogar testamentarisch verfügte, „sein Nachlass sei ungelesen zu vernichten“ (Schicketanz, 2008, S. 408). Eine Aufforderung, der sein Freund und Testamentsvollstrecker Max Brod zum Glück nicht gefolgt ist!
Vielleicht hat Koeppen aber auch deshalb nur einen riesigen „Steinbruch aus Anfängen“ (Estermann, 1998) hinterlassen, weil ihm eine Frau wie Alma Mahler-Werfel gefehlt hat.
Denn diese berühmt-berüchtigte Dame hat ihren Mann, Franz Werfel, nicht nur immer wieder freundlich zum Schreiben animiert, sondern manchmal geradezu gezwungen. „Nicht selten ließ sie sich die Früchte seiner Arbeit zeigen – lobte, tadelte und gab ihm die Richtung vor“ (Helmes, 2004).
Ja, sie soll sogar, wenn sie und Franz Werfel Gäste in ihrem Haus hatten, keine Hemmung gehabt haben, ihren Mann, auch wenn der sich gerade in einem Gespräch mit diesen befand, plötzlich daran zu erinnern, dass es jetzt Zeit für ihn sei, sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen, um weiter an seinem Roman zu schreiben, was dieser dann auch sofort getan habe.
Alma Mahler-Werfel sei eine Frau gewesen, die „allen, die ihr nahe kamen, … zu hilflosen Untertanen ihrer Macht“ (Krenek, 1998, S. 340) habe machen wollen, schreibt der Komponist Ernst Krenek, ihr zeitweiliger Schwiegersohn, in seinen Erinnerungen, und so mag sie gewesen sein. Aber der Romanproduktion von Franz Werfel hat diese Macht wohl gutgetan, so dass man schon fragen kann, ob nicht auch Koeppen eine Frau gebraucht hätte, die ihn, ähnlich wie Alma es mit Werfel getan hat, immer wieder zum Schreiben hätte animieren sollen – um es einmal freundlich auszudrücken. Wir wissen es nicht, was wir aber wissen, ist, dass auch der große Gioacchino Rossini bis heute Rätsel aufgibt, weil er als Komponist schon mit 37 Jahren „wie ein Beamter in den Ruhestand trat“ (Pahlen, 1983, S. 411). Denn nachdem er 39 Opern komponiert und 1829 mit der Aufführung seines „Wilhelm Tell“ noch einmal einen großen Erfolg erzielt hatte, schrieb er in den vierzig Jahren, die er noch lebte, nicht nur keine einzige Oper mehr, sondern mit „Wilhelm Tell“ war Rossinis „Schaffensweg“ überhaupt „im wesentlichen“ beendet.
„Im letzten unerklärlich“ (Honegger & Massenkeil, 1987, S. 139) nennt die Musikwelt dieses Verhalten des „Schwans von Pesaro“, wie Rossini nach seiner Geburtsstadt manchmal genannt wurde, zu dem freilich noch hinzuzufügen ist, dass er ab dem Jahr 1829 zwar keine „große Musik“ mehr schrieb, dafür aber seine kulinarischen Interessen pflegte, „Freunde zu Gast in sein schönes Haus nach Passy“ einlud, „wo er ihnen keine eigene Musik mehr, aber von ihm erfundene Speisen vorsetzte“ (Pahlen, 1983, S. 411). Sein Interesse hatte sich verlagert: Nicht mehr das so anstrengende Komponieren, sondern der Genuss stand jetzt im Mittelpunkt seines Lebens, von dem er bezeichnenderweise einmal sagte, „er habe“ in diesem „nur dreimal … geweint: als der BarbiervonSevilla ausgepfiffen wurde, bei einer Arie“ und „als ich den Flügel eines getrüffelten Huhns in den Comer See fallen ließ“ (Paczensky & Dünnebier, 1999, S. 89).
Könnte es bei Koeppen nicht ähnlich gewesen sein? So nämlich, dass er einfach keine Lust mehr hatte, die Strapazen, die ihn ein neuer Roman gekostet hätten auf sich zu nehmen, weil ihm anderes mehr Befriedigung brachte?
Welcher Schriftsteller war es noch, den seine Frau bat, einen Geburtstagsgruß zu schreiben, und der nach einer Stunde noch immer nicht mit diesem aus seinem Arbeitszimmer zurückgekehrt war? Um nachzusehen, was los wäre, ging sie schließlich zu ihm und sah, dass ihr Mann noch immer vor der Geburtstagskarte saß und außer der Anrede „Lieber“ noch kein einziges Wort zustande gebracht hatte.
„Ein Schriftsteller ist ein Mann, dem das Schreiben schwerer fällt als allen anderen Leuten“, soll Thomas Mann gesagt haben; und wie schwer, dafür ist Koeppen ein Beispiel, dessen Schweigen aber mehr Aufsehen erregte als das die Romane seiner meisten Kollegen taten. Und vielleicht – aber das ist mehr als Spekulation – hat er es in all den Jahren seines Schweigens mit dem Wort des weisen Laotse gehalten, der einmal gesagt hat: „Nichtstun ist besser, als mit viel Mühe nichts zu schaffen.“
Wie positiv „Nichtstun“ bisweilen sein kann, zeigt das Schicksal von Gottfried Benn, der von „März bis Juni 1914 … als Schiffsarzt nach New York“ reiste und „die Rückreise nicht – wie geplant – auf einem Segler“ antrat; „sein Glück“, denn „das Schiff ging auf der Fahrt nach Wladiwostok unter“ (Raddatz, 2001, S. 27).