’s Läba isch koi Schloddzr, sonsch wär’s rond ond bäbbig

Woran man erkennt, dass man auf dem Land angekommen ist?

Wenn die Dorfgemeinde und die Nachbarn mehr über das eigene Leben wissen als man selbst.

Und das nach nur zwei ganzen Tagen.

Eine Tatsache, an die ich mich als Großstadtmensch erst einmal gewöhnen musste.

Seufzend griff ich nach einem weiteren Umzugskarton und hob ihn auf den alten Esstisch, um ihn besser auspacken zu können. Liebevoll strich ich über die Krimis, die sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelt waren. Meine Lieblinge. Meine Bibeln.

Zufrieden stellte ich sie in das große Bücherregal im Esszimmer und achtete penibel darauf, sie Kante auf Kante, alphabetisch und nach Autoren zu sortieren. Da kam die innere Bibliothekarin in mir durch. Eine Berufskrankheit, gegen die ich nichts tun konnte.

»Ein wunderschöner Anblick, findest du nicht auch, Miss?« Erwartungsvoll schaute ich zu meinen Füßen hinab.

Miss Marple, ein grauweißer Fellknäuel-Mix, unterbrach das vormittägliche Putzen ihrer Pfoten und blickte mich mit ihren bernsteinfarbenen Augen erwartungsvoll an.

»Das Bücherregal, was hältst du davon, mein Schatz?«, fragte ich sie und war mir sicher, dass ein Außenstehender mich für völlig verrückt erklärt hätte.

Auf den Gedanken musste Miss ebenfalls gekommen sein und begann wieder mit ihrer Fellpflege.

»Banausin«, zischte ich ihr zu und entschied mich doch dafür, meine britischen Krimis auch noch nach Farben zu sortieren.

»Ich sehe, du machst eine kreative Schaffenspause?«

Tom, mein Ehemann, stand grinsend im Rahmen unserer offenen Haustür, hatte die Arme verschränkt und beobachtete mich.

Ich warf das Staubtuch nach ihm und traf seinen Kopf. Lachend nahm er den Lappen herunter, kam zu mir herüber und küsste mich auf die Stirn. Es hatte einige Zeit gebraucht, bis ich mich an seinen neuen Vollbart gewöhnt hatte, mittlerweile liebte ich das raue Kitzeln seiner Barthaare auf meiner Haut.

»Du könntest ruhig mit anpacken.« Ich deutete auf die restlichen Umzugskartons, die chaotisch in der Wohnung verstreut standen.

»Aber das mache ich doch schon«, erklärte er mir sachlich und küsste mich weiterhin. Es war gemein, meine Schwäche auszunutzen, und das wusste er. Aber seine Küsse und sein Lächeln würden nicht ausreichen, um meine Laune zu verbessern.

Schließlich war er der Grund für das Ganze hier.

Tom, Kriminalkommissar und ein Landbursche durch und durch, hatte die Möglichkeit erhalten, auf ein kleineres Revier zu wechseln, und schließlich die Chance ergriffen. Nach unserem Kennenlernen vor sieben Jahren war er mir zuliebe in Stuttgart geblieben, obwohl das Großstadtleben nichts für ihn war. Das anonyme, schnelllebige und hektische Treiben war ihm auf Dauer nicht gut bekommen. Ich hingegen bekam beim Gedanken an mein buntes und lebendiges Stuttgart wieder Heimweh.

Mit Toms Berufswechsel war zufällig die Stelle als Leitung der örtlichen Bücherei ausgeschrieben gewesen. Karma war ein mieser Verräter, so sagte man doch. Also hatte ich mit Toms Chance und Karmas komischem Sinn für Humor Abschied vom Großstadtleben genommen. Und jetzt saß ich hier in Goldthal fest, einem Nachbarort von Göppingen. Einem Kaff am Fuße der Schwäbischen Alb, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.

»Es ist niederträchtig von dir, mich so besänftigen zu wollen«, grummelte ich und konnte nichts dagegen tun, dass meine Beine beschlossen, zu Wackelpudding zu werden.

»Ich weiß.« Ich konnte das Lächeln auf Toms Lippen spüren. Dieser Schuft!

Mit geschickten Handgriffen begann er die Knöpfe meiner Bluse zu öffnen und entlockte mir, als seine Finger über meine Haut streiften, ein Seufzen. Das musste aufhören. Und zwar sofort.

»Juuuhuuuu, meine Lieben, i han euch äbbas mitbracht …«, sang es plötzlich aus dem Flur.

Ich hatte mir eine Unterbrechung gewünscht, aber das hatte ich nicht damit gemeint. Tom und ich fuhren auseinander, als hätten wir einen elektrischen Schlag erhalten. Während Tom so tat, als würde er den Esstisch neu ausrichten, brachte ich meine Bluse wieder in Ordnung und versuchte verzweifelt, meine »Mist, wir wurden erwischt«-Miene aus dem Gesicht zu bekommen.

Marlies Eisele, Toms Tante mit Vorliebe für nervigen Tratsch und unsere neue Vermieterin, stand mit einem Teller voller Hefezopf im Türrahmen und musterte uns mit großen Augen. Sie war ein weiterer Grund für Toms Wunsch gewesen, auf dem Land zu leben. Tom hatte gemeinsam mit seinen beiden Brüdern und seiner Schwester fast alle Sommerferien bei Onkel und Tante verbracht. Seit dem Tod von Onkel Friedrich vor zehn Jahren und dem Auszug ihrer eigenen Kinder war Marlies auf dem großen Anwesen ganz allein. Tom hatte es sich in den Kopf gesetzt, sich um seine Lieblingstante zu kümmern, was ihn ehrte.

Ich versuchte ihr mütterlich besorgtes Grinsen zu ignorieren und nicht daran zu denken, dass das für ordentlichen Gesprächsstoff im Ort sorgen könnte. Familie hin oder her, ein guter Tratsch machte vor nichts halt.

»Oh, i hoff, i stör nedd?« Tante Marlies klimperte mit den Wimpern. »I wollt nur g’schwind bei euch vorbeischaua und en Zopf vorbeibringa.« Sie schwang den Teller bedeutungsschwanger vor sich her, als wäre das der einzige Grund, uns zu besuchen. Dass sie damit ihre Neugierde stillen konnte, ließ sie unerwähnt.

»Tante Marlies, wie schön! Wir haben dich gar nicht kommen hören.« Tom setzte ein strahlendes Lächeln auf, nahm ihr den Teller aus der Hand und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Die Hausdier war offa …« Sie ließ den Satz und ihren Tadel damit unvollendet.

»Wie leichtsinnig von uns!« Tom grinste, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihn die Situation erheiterte. Ich wusste noch nicht genau, wie, aber ich würde ihn später dafür killen. Wehmütig dachte ich an unsere Dachgeschosswohnung, in der uns so etwas nicht passiert wäre.

Tom hatte Tante Marlies zur Tür gebracht und darauf geachtet, dass sie dieses Mal wirklich zu war.

»Ganz schön redselig, die Gute.« Amüsiert schüttelte er den Kopf und nahm wieder am Esstisch Platz.

Die Gute, wie Tom sie nannte, hatte es mit ihrem »g’schwind« tatsächlich geschafft, uns innerhalb der letzten Stunde die Schicksale und Skandale unserer Nachbarn aufzutischen. Bewundernswert.

»Ich dachte schon, sie würde noch länger bleiben. Dank sei ihren Bingo-Damen Astrid, Gundula und wie sie nicht alle heißen.« Ich stellte das benutzte Kaffeegeschirr im Spülbecken ab und schob mir noch ein paar Krümel vom Zopfteller in den Mund, während ich zum Esstisch zurückkehrte. Der Zopf war verdammt lecker gewesen. Backen konnte sie, das musste ich zugeben. Erschöpft ließ ich mich neben Tom auf einen Stuhl plumpsen. Klatschgeschichten in solch einem Ausmaß war ich nicht gewohnt.

»Also«, begann Tom und strich mit seinem Daumen sanft über meine Lippen, die vom Zopf mit Marmelade noch ganz klebrig waren. »Wo waren wir noch mal stehen geblieben?« Ich kannte dieses hungrige Lächeln. Er war einfach unmöglich.

»Wir haben hier noch einiges zu tun, mein Lieber.« Ich klatschte ihm auf die Schenkel, steuerte auf die Umzugskartons an der Wand zu und fragte mich zum x-ten Mal, seit wann wir so viel Zeug besaßen. »Erst die Arbeit und dann …«

»Jaja«, maulte Tom und schien wirklich beleidigt zu sein.

Männer … ich konnte nur die Augen rollen. »Wie wäre es, wenn du schon mal mit dem Aufbau der Badschränke beginnst?« Erwartungsvoll strahlte ich ihn an.

Gerade als er etwas erwidern wollte – vermutlich, dass er etwas anderes im Sinn hatte –, begann sein Handy zu klingeln.

Er schien zunächst erleichtert zu sein, als er den Anruf entgegennahm, doch dann nahm sein Gesicht mit einem Mal einen ernsten Ausdruck an. »Bin schon unterwegs. Bis gleich.«

Er griff nach seinen Autoschlüsseln und verpasste mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Was ist passiert?«

»Das Revier … wir haben eine Vermisstenanzeige erhalten. Förstner, der Leiter der örtlichen Bank, wird vermisst. Höchste Priorität.«

»Schrecklich«, murmelte ich und dachte an die vielen Male zurück, in denen Tom bereits nach vermissten Personen hatte suchen müssen. Wohlhabende Rentner vom Killesberg, Kinder, die während des Schulwegs verschwunden waren, oder junge Frauen, die nach einer Partynacht nicht nach Hause gekommen waren. Früher oder später hatten Tom und seine Kollegen die Vermissten gefunden, doch gelebt hatte keiner mehr von ihnen. Eine Gänsehaut überkam mich.

Mit einem Lächeln auf den Lippen blieb er an der Tür stehen. »Danke, dass du hier die Stellung hältst. Sorry, dass ich dich mit dem ganzen Chaos alleinlasse. Ich melde mich später bei dir.«

Die Haustür fiel ins Schloss.

Mit einem Seufzer wandte ich mich einer neuen Kiste zu. Schluss mit den dunklen Gedanken, ich hatte hier noch genug zu tun. Mein erster Arbeitstag war Montag. Noch Zeit genug, Bücher einzusortieren.

Ich musste daran denken, wie ich vor dem Umzug die Bücher in Kisten verstaut hatte und meine Mutter da gewesen war. Einer ihrer seltenen Besuche, den sie dazu genutzt hatte, sich über meine jüngere Schwester zu beschweren. Meine Schwester hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein weiteres Semester zu pausieren und mit dem Rucksack durch Indonesien zu reisen. Für meine Mutter, die preisgekrönte Schauspielerin Malin Seidel, ein Skandal. Eine arbeitslose Tochter, die wie eine Wilde durch die Welt bummelte und auf einer Selbstfindungsreise war, könnte für schlechte Presse sorgen.

Und da die Laune meiner Mutter eh schon im Keller gewesen war, hatte ich die Gelegenheit genutzt und ihr von unserem Umzug aufs Land berichtet. Meine Mutter hatte wie erwartet reagiert. Nach einer dramatischen Pause hatte sie mir eine Predigt darüber gehalten, welchen großen Fehler neben der Wahl meines Berufes ich begehe. Mit dem Umzug aufs Land seien meine Karrierechancen, mein Ansehen und Status für die Katz.

Insgeheim hatte ich ihr zugestimmt, wodurch mir wieder einmal bewusst geworden war, wie ähnlich ich ihr doch war. Was mir ziemliche Bauchschmerzen bescherte. In Stuttgart lebte ich in ihrem Schatten, und das war alles andere als angenehm. Ständig war ein Artikel über sie und unsere Familie in der Presse oder Thema in Talkshows. Reporter lauerten einem auf in der Hoffnung, ein Foto oder ein Interview zu ergattern. Diese Geier waren die reinste Pest.

Ich hatte mich also auf das Projekt Landleben eingelassen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Ich wollte ihr und mir beweisen, dass ich ohne ihren Einfluss auskommen konnte.

Ich schob die Bücher, die ich aus dem Karton geholt hatte, ins Regal und schüttelte die Erinnerungen an meine Mutter ab.

Hier war ich also nun, ein Kind der Großstadt mitten auf dem Land, auf dem nichts Großartiges passierte. Und wie schwer konnte die Arbeit in der örtlichen Bücherei schon werden? Ein Kinderspiel, fast wie Urlaub! Ich konnte meinen Hobbys nachgehen, die so lange auf der Strecke geblieben waren. Ich konnte ganz viel Zeit mit Miss und Jessica verbringen. Und lesen. Das war doch was.

»Da waren es am Ende nur noch wir drei«, sagte ich zu Miss, die sich immer noch putzte, und Jessica Fletcher, einer zierlichen weißen Katze, die auf dem Boden lag und Zeitungspapier zerfetzte. Ich klang optimistischer, als ich mich eigentlich fühlte, und betrachtete das umstehende Chaos.

Na, das konnte ja heiter werden.