»Du siehst furchtbar aus.« Jonas schob mir eine dampfende Tasse Kaffee zu.
Krampfhaft umklammerten meine Finger die Tasse, als wäre sie ein Rettungsanker. Ich atmete den würzig-süßen Duft des Kaffees tief ein. Für meinen aufgebrachten Geist gab es nur zwei Beruhigungsmittel: dieses Getränk oder Double Chocolate Cheesecake mit Karamell, den ich in diesem Moment leider nicht zur Hand hatte. »Verzeih mir bitte, dass ich nach so einem Fund und einer schlaflosen Nacht nicht aussehe wie ein Supermodel von Victoria’s Secret.« Ich nahm einen Schluck zu mir, bevor ich zu einer noch größeren Beißzange wurde.
Jonas hatte ein halbherziges Lächeln aufgesetzt. »Solch ein Model würde hier nur für Verwirrung sorgen.«
Er seufzte, während ich aus dem Schaufenster meine Bücherei auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete. Ein rot-weißes Polizeiabsperrungsband prangte vor der Eingangstür und machte den Schock von gestern erschreckend real. Neumüller war der Meinung gewesen, die Bücherei und das Lager heute noch einmal geschlossen zu lassen, um die Spurensicherung in aller Ruhe durchjagen zu können.
Hier saß ich also nun, gerade einmal ein paar Tage als neue Leitung der Stadtbücherei, und hatte schon einen Mord vorzuweisen. Kein sonderlich gelungener Start für mich. Davon ging die örtliche Presse wohl auch aus.
Leiche in Bücherei entdeckt – neue Leitung involviert
Die Überschrift des Käseblatts von Goldthal schrie mich förmlich an. Ich nahm die Zeitung und drehte sie um.
»… Informationen zufolge war es Gift … Kriminalhauptkommissar Neumüller und sein Team tappen im Dunkeln … Wie sicher ist Goldthal noch? … Theodora Fuchs, 32, Tochter der preisgekrönten Schauspielerin Malin Seidel … in Mord verwickelt …«
Sabrina Vögele brachte haarsträubende Theorien in ihrem Text vor, wie ich in den Fall verwickelt sein könnte. Blöde Kuh.
Wenn meine Mutter dieses Blatt zu lesen bekäme … Oh Gott. Ich wollte mir ihre Reaktion darauf gar nicht ausmalen. Sie würde mir das vermutlich in hundert Jahren noch vorwerfen.
»Mach dir wegen des Artikels nicht so viele Gedanken. Die meisten halten Sabrina für eine verrückte Spinnerin, die ihre Texte gerne mal mit alternativen Wahrheiten aufzupeppen versucht«, meinte Jonas.
»Diese Nuss ist im Moment nicht meine größte Sorge, auch wenn ich sie erwürgen könnte.«
»Das Gefühl kennt hier im Ort, glaube ich, jeder. Es gibt hier vermutlich niemanden, über den Sabrina noch nicht geschrieben hat.«
Jonas schüttelte den Kopf und biss von einem Schokoriegel ab. Er sah genauso furchtbar aus, wie ich mich fühlte.
»Kann ich was für dich tun?«
Jonas legte eine Hand auf meine. »Wird schon wieder.« Er tätschelte meine Hand, und ich hatte so das Gefühl, als wollte er die Schublade, in der er seine Gefühle aufbewahrte, weiterhin verschlossen halten.
Wir kannten uns zwar erst ganz kurz, dennoch war er mir ans Herz gewachsen. Ohne ihn wäre mein Start in diesem Kaff wohl anders verlaufen. »Wenn du dennoch darüber sprechen möchtest, du weißt, wo du mich finden kannst.«
Jonas nickte nur. »Und wie geht es dir? Nicht die Version, die du vermutlich deinem Mann erzählt hast, um ihn loszuwerden.«
Ich musste schmunzeln. Es hatte mich heute Morgen meine ganzen Überredungskünste gekostet, dass Tom zur Arbeit gegangen war. Er hatte mich bemuttert und in Watte gepackt. Ich hatte dieses eng geschnürte Paket abschütteln müssen und ihm versichert, dass es mir gut ginge. Was nicht gelogen war … aber auch nicht die ganze Wahrheit.
Ich zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen? Ich liebe Krimis und Thriller. Je blutiger, desto besser. Aber eine wirkliche Leiche zu finden, auch wenn sie nicht blutig oder verstümmelt ist, ist dann doch noch einmal eine andere Hausnummer.« Ich nahm einen Schluck Kaffee und blickte zu meiner Bücherei hinüber. »Ich habe nicht vor, deshalb meinen Verstand zu verlieren und selbst anzufangen, Leute abzustechen. Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, warum gerade hier. Ich meine, du hast das Lager gesehen. Alte Möbel, Schrott und Plunder … Warum also bringt jemand Förstner ausgerechnet dort um?«
»Sucht denn jeder Mörder immer den passenden Ort für seine Opfer?« Jonas hatte den Kopf leicht schräg gelegt und sah dabei aus, als würde er versuchen, sich an ein Detail aus dem letzten »Tatort Stuttgart« zu erinnern.
»Natürlich nicht immer.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber trotzdem ist es komisch. Sag mal, du bist doch von hier und kennst die Leute ganz gut. Wie war Andreas Förstner menschlich denn so? Und was kannst du zu seinem Ansehen im Ort sagen?«
»Ganz schön viele Fragen, Frau Kommissarin …«
»Ich bin Bibliothekarin. Es ist mein Job, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Außerdem bin ich neugierig. Du hast hier in deinem Laden, dem Quell der Klatschdamen, sicherlich das eine oder andere gehört.«
Jonas grinste und warf einen schnellen Blick auf die Ecke, in der sich normalerweise die Klatschdamen verabredeten, aber bisher noch nicht aufgetaucht waren. Vermutlich wurde der Kriegsrat, in dem der Tod von Förstner debattiert wurde, an einem anderen Ort abgehalten. Er schob seinen Hocker näher zu mir heran und beugte sich verschwörerisch herüber. »Man soll ja nicht schlecht über Tote sprechen, aber das eine oder andere habe ich tatsächlich im Verlauf der Zeit mitbekommen.«
»Und …?«, drängelte ich.
»Ich weiß nur, dass er verheiratet ist oder besser war, zwei Kinder hat und sich vor ein paar Jahren eine protzige Villa gebaut hat. Vor ungefähr einem Jahr ist er zum neuen Leiter der Bank ernannt worden.«
»Klingt ja recht normal, wenn du mich fragst.« Ich begann aus den Zuckertütchen, die auf dem Tisch lagen, verschiedene Muster zu formen. »Und was erzählen sich so die Damen der Gesellschaft?«
»Wilde Frauengeschichten. Schwierigkeiten in der Bank und mit Geschäftspartnern. Große Geldsorgen. Aber wie viel man davon wirklich glauben kann …«
»Wir werden es wohl nie erfahren.« Ich zerstörte meine Nachbildung eines Hauses. »Aber jedenfalls klingt die zweite Version von Förstners Leben schon eher nach einem Motiv, ihn loswerden zu wollen.«
Ich erhielt zustimmendes Grummeln. »Sag mal, ist das nicht Bärbel Nikolaus, die da vor der Bücherei rumschleicht und mehr als verzweifelt aussieht?«
Ich blickte auf die andere Straßenseite. Frau Nikolaus stand vor der verschlossenen Büchereitür und sah ziemlich mitgenommen aus. Sie passte optisch perfekt zu Jonas und mir.
»Ich schaue mal kurz nach ihr«, sagte ich und war schon halb aus der Ladentür raus. Ich konnte meine einzige Stammkundin nicht in so einem Zustand stehen lassen.
»Frau Nikolaus, kann ich etwas für Sie tun? Die Bücherei ist heute leider geschlossen.«
Sie drehte sich zu mir um. Als sie mich erblickte, begann sie zu schluchzen. Es ist ja schon so einiges in meiner Nähe passiert, aber dass man gleich bei meinem Anblick zu weinen beginnt, das hatte ich auch noch nicht erlebt.
»Frau Nikolaus …?« Unbeholfen klopfte ich ihr auf die Schulter.
Sie warf sich in meine Arme. »Es ist einfach schrecklich.« Ich wusste beim besten Willen nicht, was passiert war oder wie ich ihr helfen konnte.
»Na, na, jetzt erzählen Sie erst einmal, und dann schauen wir, wie wir das wieder hinbekommen.«
»Wilfried … Sie haben ihn … Keine Ahnung, was ich nun tun soll.« Ihr Griff um meinen Arm wurde immer stärker.
Jetzt konnte uns nur noch ein einziges Mittel auf der Welt helfen.
Kuchen.
Es war das beste Mittel auf der Welt, um sich den Kummer von der Seele zu schaffen. Dicht gefolgt von Eis, Schokolade und Chips. Deshalb hatte ich Bärbel, wie ich sie nun nannte, kurzerhand zu Jonas geschleppt und zwei große Stücke Kuchen mit einer Extraportion Sahne bestellt. Bärbel hatte beteuert, keinen Hunger zu haben, aber nur wenig später war der Kuchen verschwunden gewesen. Und mit jedem Bissen hatte sie uns ihr ganzes Leid berichtet.
Die Polizei war gestern Abend bei ihr aufgetaucht. Ganz vorne dabei sei eine schöne, blonde Kommissarin gewesen. Sicherlich Saskia Kühnert, eine Kollegin von Tom. Sie hätten Bärbel und ihrem Mann erklärt, dass er unter dem Tatverdacht stehe, Andreas Förstner ermordet zu haben. Es gebe Zeugen, wie Wilfried ihm … gedroht habe. Sie berichtete mir davon, was vor einigen Tagen in der Goldthaler Bank vorgefallen war. Dass ihr Wilfried zu tief ins Glas geblickt und etwas die Kontrolle verloren habe. Die Polizisten hätten ihn nach einem gescheiterten Fluchtversuch mitgenommen, vernommen und aufgrund mangelnder Beweise wieder gehen lassen müssen.
»Das ist ein Skandal!«
Durch das laute Klirren des Geschirrs erkannte ich, dass ich mit meiner Faust zu heftig auf den Tisch geschlagen hatte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sich diese Saskia nur dabei gedacht hatte. Wilfried, der nicht wusste, wie er ohne Geld seine Familie versorgen konnte, sollte für den Mord an Förstner verantwortlich sein. Eine Leiche, die wie ein Truthahn bis zum Rachen mit Geldscheinen gestopft worden war. Wie sollte das, bitte schön, gehen?
»Können Sie sich vorstellen, warum die Polizei glaubt, Ihr Mann hätte Förstner umbringen können?«
Mit der Gabel kratzte Bärbel die letzten Kuchenkrümel zusammen. »Es ging um unser Haus. Dieses Jahr war bei Weitem nicht unser bestes. Wilfried verlor vor einigen Monaten seinen Arbeitsplatz, da die Firma Insolvenz anmelden musste. Und da es in unserem Alter nicht so einfach ist, eine neue Stelle zu finden, haben wir angefangen, Prospekte und das Dorfblättchen zu verteilen. Als eine Art Übergangslösung. Wie Sie sich sicher vorstellen können, wurden unsere Schulden dadurch natürlich nicht weniger, weshalb wir mit Förstner darüber sprechen wollten. Wir brauchten mehr Zeit oder die Chance, weniger zurückzuzahlen. Aber er blieb eisern und verlangte auf einmal die gesamte Summe von uns.«
»Die gesamte Summe. Auf einmal? Aber das ist doch verrückt.«
»Das hatten wir ihm auch versucht zu sagen, aber er wurde wütend. Er würde ein anderes Mittel finden, um an unser Geld zu kommen.«
»Und das hat er schließlich gefunden, als er Ihnen das Haus weggenommen hat.« Was für ein widerlicher Kerl.
»Den Rest kennen Sie.« Bärbel seufzte. »Deshalb wollte ich noch einmal zur Bücherei kommen und mich bei Ihnen und Ihren Kolleginnen verabschieden.«
»Wer wird sich deshalb gleich verabschieden wollen? Dafür gibt es überhaupt keinen Grund.«
»Ohne Haus, ein Mann, der den Ruf hat, ein Mörder zu sein, dazu haben wir kein Geld … Wie sollen wir das schaffen? Wir werden erst einmal bei meiner Schwester unterkommen. Sie wohnt in Ulm und wird sich um uns kümmern.«
Ulm? Das lag nicht direkt um die Ecke. Zu weit weg, um weiterhin in die Bücherei zu kommen.
Ich schluckte. »Das ist ganz schön weit weg von hier.«
»Ich weiß.« Bärbel vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Alles wird wieder gut«, versprach ich Bärbel. Und das würde es auch wieder, schließlich konnte ich es nicht zulassen, dass mich meine einzige Kundin verließ.