Ich saß in meinem Auto und starrte das Lenkrad an. Aufschlussreich war das nicht gewesen. Neumüller schien kein Teamplayer zu sein, war mir nicht entgegengekommen, keine Details zum Mord von Andreas Förstner. Wie sollte ich seiner Meinung nach diesen Mord aufklären und die Unschuld von Wilfried Nikolaus beweisen? Er machte mir meine Arbeit nicht leichter.
Nikolaus. Das war ein gutes Stichwort. Ich schnappte mir meine Handtasche vom Beifahrersitz und begann sie zu durchwühlen, bis ich fand, was ich gesucht hatte.
Ich musste an meine alte Dozentin denken, die immer mit zwei Taschen und einem Rucksack bepackt in den Unterricht gekommen war und ständig nach ihren Unterlagen gesucht hatte. Bei Gelegenheit sollte ich meine Handtasche dringend wieder einmal ausmisten, bevor ich noch so enden würde wie sie.
Ich starrte den Zettel an. Bevor die Forensiker mich aus der Bücherei hinausgeschmissen hatten, war ich so schlau gewesen und hatte mir Frau Nikolaus’ Adresse aufgeschrieben.
Da die Bücherei wegen der Untersuchungen der Polizei noch geschlossen war, hatten wir alle kurzfristig frei. Ulrike hatte sich krankgemeldet, Annika wollte den Tag in ihrem Hobbyraum verbringen zum Batiken und Kerzengießen, und ich wollte die freie Zeit sinnvoll nutzen. Und was gab es Besseres, als meine Kundin zu besuchen und mich nach ihrem Befinden zu erkundigen? Und wenn dabei noch die eine oder andere hilfreiche Information herausspringen würde, spräche doch nichts dagegen.
Mein Handy hatte mich in die ehemalige Arbeitersiedlung am Rand von Goldthal geführt. Da sie nicht zu weit vom Kommissariat entfernt lag, hatte ich mich dazu entschieden, das gute Wetter zu nutzen und zum Haus der Familie Nikolaus zu laufen.
Die Familie lebte in einem Haus, an dessen Putz bereits die Farbe abblätterte, und auch der Rest hinterließ einen eher traurigen Eindruck. Mein Herz wurde schwer. Die Familie schien es, finanziell gesehen, nicht leicht zu haben. Ein Skandal, dass Förstner ihnen das Haus weggenommen hatte. Ein Grund mehr, Bärbel Nikolaus zu unterstützen. Ich drückte die Klingel und hoffte, dass sie auch zu Hause war.
Kurze Zeit später stand ich in ihrem Wohnzimmer, umzingelt von Spielzeug, Strick- und Bastelmaterial, benutztem Geschirr und Wäschebergen. Mit fünf Kindern war es vermutlich nicht einfach, Ordnung zu halten. Und erst recht nicht, wenn man sich Sorgen um den Ehemann und Vater machte.
»Ach, Frau Fuchs«, seufzte Bärbel. »Es ist so schön, dass Sie da sind.« Sie sah schrecklich mitgenommen aus.
Ich tätschelte ihr unsicher den Rücken. Ich war, was emotionale Beziehungen anging, wirklich keine Expertin und tat mich schwer damit, wenn andere Leute in meiner Nähe zu weinen begannen. Meine Mutter hatte immer darauf bestanden, dass meine Schwester und ich in der Öffentlichkeit keine Schwächen zeigten. Ich hatte also keinerlei Erfahrung darin, wie man damit umging.
»Mama, Mama, schau mal.« Ein kleines Mädchen mit flammend rotem Haar stürmte an mir vorbei und hielt der Mutter ein selbst gemaltes Bild vor die Nase. »Meinst du, Papa freut sich darüber?«
Bärbel versuchte sich an einem Lächeln, als sie nach dem Bild ihrer Tochter griff. »Frieda.« Sie schluckte. »Er wird sich ganz sicher darüber freuen.«
Ich verspürte das Bedürfnis, etwas zu unternehmen, und ging in die Hocke. »Du bist also Frieda.« Ich hatte sie schon einige Male gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen. Das Mädchen schien meine Anwesenheit erst jetzt richtig wahrzunehmen. »Das ist wirklich ein schönes Bild«, versicherte ich ihr, ohne etwas zu erkennen. »Könntest du mir vielleicht auch eins zeichnen? Ich brauche in der Bücherei dringend ein paar schöne Bilder.« Etwas anderes fiel mir auf die Schnelle nicht ein, um dafür zu sorgen, dass die Stimmung nicht weiter in den Keller ging. Frieda sah ihre Mutter fragend an, die zustimmend nickte.
»Das ist eine super Idee, Spätzle. Würdest du für die liebe Frau Fuchs und ihre Bücherei ein paar Bilder malen? Am besten holst du Karlotta und Anton dazu.« Bärbel tätschelte den Kopf ihrer Tochter und sah ihr hinterher, als sie aus dem Zimmer hüpfte. »Zum Glück sind sie noch zu klein, um es richtig zu verstehen. Ich will gar nicht wissen, was sich Ferdinand und Henriette in der Schule anhören müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Setzen Sie sich bitte.« Bärbel deutete auf den voll beladenen Esstisch und räumte mir eine Sitzgelegenheit frei.
Unsicher ließ ich mich auf dem Stuhl nieder. Ich war nicht mehr so überzeugt davon, dass mein spontaner Besuch wirklich die beste Idee des Tages gewesen war.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ich sie, als sie sich umsah und nach einer freien Stelle für ihr Geschirr suchte.
»Nein, nein, ich habe es gleich.« Sie griff nach einem Wäschekorb, leerte den Inhalt auf der Couch aus und stellte die dreckigen Teller hinein. »Warten Sie hier.« Bärbel eilte in die Küche und kam ein paar Minuten später mit einer Tasse Kaba und einem Stückchen Kuchen zurück.
Ich sah sie fragend an. »Bärbel, ich bin nicht gekommen, um mich von Ihnen bedienen zu lassen.« Hatte sie etwa gedacht, ich würde das erwarten?
Sie winkte ab. »Das weiß ich doch. Ich muss immer backen, wenn ich aufgewühlt bin …« Jeder ging mit seinen Gefühlen anscheinend anders um. Sie nahm Platz und sah wirklich grauenvoll aus.
»Wie geht es Ihrem Mann?«
Bärbel bekam einen traurigen Gesichtsausdruck. »Sehr schlecht. Er sitzt von früh bis spät in seinem Hobbyraum im Keller und starrt die Wand an. Er will das Haus nicht mehr verlassen, isst und spricht kaum noch. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.«
»Ich hatte Ihnen versprochen, zu helfen, damit Sie und Ihre Familie Goldthal nicht verlassen müssen. Die Lage ist schon schlimm genug. Dafür bräuchte ich noch ein paar Antworten, dürfte ich Ihnen dann ein paar Fragen stellen?«
Bärbel nickte. »Natürlich. Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß.«
»Vielen Dank. Warum genau haben Sie Ihr Haus verloren? Oder anders formuliert: Was wollte Förstner mit Ihrem Haus?«
»Ach«, sie seufzte, »die letzte Zeit lief leider nicht so gut für uns. Wir mussten einen Kredit aufnehmen und gaben unser Haus als Sicherheit an. Dann hat mein Mann seine Arbeit im Stahlwerk Ziegler verloren, weshalb wir mit den Raten hinterherhinkten. Herr Schumacher, der für uns zuständig war, meinte, wir würden eine Lösung finden. Herr Förstner war davon überhaupt nicht begeistert und hat uns das Haus genommen, weil wir ihm zu unsicher waren.« Tränen rollten wieder über ihre Wangen.
»Aber das kann er doch nicht so einfach tun … ich meine, konnte.« Mann, das war wirklich kompliziert.
Bärbel zuckte mit den Achseln. »Ich kenne mich damit nicht so genau aus.«
»Hatte Ihr Mann schon einmal eine Auseinandersetzung mit Herrn Förstner?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Aber Wilfried ist schrecklich eigen, was das angeht. Er versucht immer, alles im Alleingang zu regeln.«
Ich konnte ihn gut verstehen, wir waren uns in dem Punkt sehr ähnlich.
»Sie essen ja gar nichts von meinem Kuchen. Schmeckt er Ihnen nicht?«
»Verzeihung, ich war so mit den Fragen beschäftigt …« Ich nahm einen kleinen Bissen. Der Geschmack war anders als erwartet. Experimentell und würzig, Zitrus traf auf Zimt. »Sehr interessant.« Ich nahm einen Schluck von meinem Kaba. »Was genau haben die Polizisten gesagt, als sie Ihren Mann abgeholt haben?«
»Dass er ihr Hauptverdächtiger sei.« Sie zückte das Taschentuch und schnäuzte sich. »Er habe ein Motiv gehabt und diesem Halunken schließlich vor Publikum gedroht. Wilfried war so entsetzt, dass er ihnen davonlief. Die Polizisten haben das als Schuldeingeständnis verstanden und sind ihm hinterher. Sie müssen mir glauben, Wilfried hätte das niemals getan. Er ist ein guter Mensch.«
»Das glaube ich Ihnen. Hat sich Ihr Mann in den letzten Tagen anders verhalten als sonst? War etwas auffällig?«
»Nein, alles wie immer.«
An der Haustür klingelte es, und Bärbel sah sich um. »Wer ist denn das?« Sie erhob sich und öffnete. Bei der Stimme des Besuchers bekam ich ein leichtes Ziehen in der Magengegend.
»Hallo, Frau Nikolaus, vielleicht erinnern Sie sich noch? Kommissar Fuchs, und das ist mein Kollege Herr Wagenknecht. Es tut mir leid, dass wir Sie in dieser Situation stören müssen. Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss, würden uns gerne umschauen und mit Ihrem Mann sprechen.«
»Oh Gott. Ein Durchsuchungsbeschluss? Kann ich den mal sehen?«
Sie kehrte mit den beiden Besuchern in den Wohnraum zurück und las sich das Dokument genau durch.
»Dora, was machst du denn hier?« Tom hatte mich entdeckt, als er mit seinem Kollegen – Björn? – eintrat. Perplex sah er mich an.
»Ich hatte vorhin einen Termin und wollte nun die Schließzeit der Bücherei nutzen, um nach Frau Nikolaus zu schauen.« Ich hatte mich von meinem Platz erhoben und war an die Seite von Bärbel getreten.
»Ich verstehe«, sagte er. »Wo befindet sich Ihr Mann?«
Bärbel deutete auf die Tür im Flur. »Er sitzt unten im Keller.«
Tom wandte sich an seinen Kollegen. »Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«
Sein Mitarbeiter nickte ihm zu und verschwand im Flur.
»Während mein Kollege nach Ihrem Mann schaut, würde ich Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen, Frau Nikolaus.«
Sie nickte und begann nervös ihre Hände zu kneten. »Was möchten Sie wissen?«
»Setzen Sie sich bitte.« Tom deutete auf den freien Platz am Esstisch. Ich wollte mich ebenfalls dazusetzen, als Tom nach meiner Hand griff. »Dich müsste ich jedoch bitten, zu gehen.«
»Was, warum das?«
Tom fuhr sich über seine Augenbrauen und schien nicht glauben zu können, dass ich diese Frage ernsthaft stellte. »Wir befinden uns mitten in einer Ermittlung, und ich werde gleich eine Befragung durchführen. Dabei sind Zivilisten nicht gestattet.«
Ich schnaubte. Frau Nikolaus sah meinen Mann mit großen Augen an. »Oh, Herr Fuchs, kann Ihre Frau bitte bleiben?«
Mein Mann setzte ein professionelles Lächeln auf. Nicht zu überschwänglich, aber auch nicht zu unnahbar. »Leider nein, Frau Nikolaus. Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich habe nur ein paar Fragen an Sie. Es wird ganz schnell gehen, versprochen.«
Sie ließ den Kopf hängen.
»Es ist wichtig, dass wir diesen Mordfall so schnell wie möglich aufklären«, flüsterte Tom mir zu und sah mich durchdringend an.
Gut, vielleicht hatte er recht. Er war hier, um seine Arbeit zu erledigen, und ich wäre ebenfalls nicht so scharf darauf, wenn er bei mir in der Bücherei auftauchen und mir zusehen würde.
»Bärbel, ich muss leider gehen, aber sollten Sie etwas benötigen, melden Sie sich bei mir. Sie müssen mir nur eines versprechen.«
Sie hob den Kopf.
»Sie dürfen nicht aufgeben, wir bekommen das hin.« Kaum hatte ich ausgesprochen, befand ich mich wieder in ihrem Klammergriff und japste nach Luft.
Auf dem Rückweg zum Kommissariat, wo ich mein Auto abgestellt hatte, beschloss ich, einen anderen Weg einzuschlagen. Und später auf dem Heimweg noch kurz einkaufen zu gehen, unser Kühlschrank begrüßte mich jeden Morgen mit gähnender Leere.
Während ich in Gedanken bereits eine Einkaufsliste erstellte, lief ich orientierungslos durch die Straßen und fand mich mit einem Mal vor dem katholischen Gemeindehaus wieder. Es war ein Betonklotz mit Dachschrägen und lauter Grünzeug vor dem Haus. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, in welchem Teil von Goldthal ich mich aktuell befand. Mist, ich sollte wirklich besser aufpassen, wohin ich ging.
Genervt zog ich mein Handy aus der Tasche, um das Navi anzuwerfen, das mich wieder auf Kurs bringen sollte. Während ich darauf wartete, dass mein Standort lokalisiert wurde, fiel mein Blick auf das Schwarze Brett vor dem Gemeindehaus: eine Mitteilung vom örtlichen Strickverein »Nodl hoch« an seine Mitglieder. Der nächste Termin müsse aufgrund einer Doppelbuchung im Gemeindehaus ausfallen. Das war bestimmt ärgerlich, dass sie keinen Ausweichort hatten. Aber vielleicht doch! Mit Stricken konnte man etwas anfangen. Ich überflog das restliche Schreiben und suchte nach einer Ansprechperson. Unterzeichnet von Marlies Eisele, der Vorsitzenden.
Ich grinste. Besser ging es gar nicht. In meinem Kopf begann sich bereits eine Idee zu entwickeln, und ich konnte es kaum erwarten, zu Hause anzukommen.