»Stadtbücherei Goldthal, Fuchs, grüß Gott«, sang ich ordnungsgemäß mein Sprüchlein ins Telefon und betete inständig, dieses Mal Glück mit meinem Anrufer zu haben.
Aber meine Freude ging bereits nach wenigen Sekunden den Bach runter, und mein fröhlicher Ton verwandelte sich in ein Grummeln. »Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft erteilen, auf Wiederhören.«
»Hat sich schon wieder jemand verwählt und wollte eigentlich zu ›Ricos Taverne‹?« Annika kam mit einem Schwung Bücher, die sich zur Reparatur in der Buchpflege befanden, zu mir an die Theke und nahm neben mir Platz.
»Das wäre mal eine nette Abwechslung. Es war wieder einmal eine von den vielen Klatschbasen, die glauben, irgendwelche Informationen aus mir herausbekommen zu können.«
»Die sind wirklich hartnäckig«, stimmte Annika mir zu, während sie eines dieser schrecklichen Blumen- und Gartenbücher vor dem Auflösen bewahrte, indem sie es mit ein wenig Leim wieder zusammenflickte.
Seitdem die Polizei die Bücherei wieder freigegeben hatte, nachdem keine weiteren Beweisstücke gefunden worden waren, wurden wir von solchen Anrufen förmlich belästigt. Aber Annika war, zu meiner Überraschung, die Ruhe selbst. Den Fund von Förstners Leiche hatte sie gefasst aufgenommen, und sie versuchte, die Normalität wieder einkehren zu lassen. Im Gegensatz zu Ulrike, die es nicht so gut verkraftet hatte und sich nach ihrer Krankheit für ein paar Tage Urlaub genommen hatte. Was ich natürlich gut nachvollziehen konnte.
Aber an Normalität war nicht zu denken. Jedenfalls nicht für mich. Ich hatte mir fest vorgenommen, Förstners Mörder zu finden und Bärbel Nikolaus wieder in die Bücherei, ihr Zuhause, zurückzuholen.
Apropos Normalität. Ich sollte mich dringend wieder der Realität unserer Etat- und Bestandszahlen widmen. Mit einem Klick öffnete ich die Bibliothekssoftware. Beim Anblick der unterirdischen Ausleihzahlen und des mageren Etats, der mir noch für das restliche Jahr übrig blieb, hätte ich das Programm am liebsten wieder geschlossen. Mir war schleierhaft, wie mein Vorgänger die Bücherei so herunterwirtschaften konnte. Ich wusste wirklich nicht, wie sie noch ein weiteres Jahr überstehen sollte, ohne geschlossen zu werden. Die Bürgermeisterin war sehr deutlich gewesen. Entweder holte ich die Bücherei aus der Versenkung, oder sie würde geschlossen werden. Das konnte ich nicht zulassen.
»Was will der denn hier?« Annikas sonst so ruhige Stimme hatte plötzlich ein aufgebrachtes Piepsen angenommen und brachte mich dazu, von meinen Zahlen aufzusehen.
Wenn man vom Teufel sprach! Bernhard Winter stand im Eingangsbereich der Bücherei und ließ seinen Blick prüfend umherwandern.
»Ich glaube, ich werde im Büro weiterarbeiten.« Wie ein wildes Tier auf der Flucht hatte Annika sich ihre Arbeit unter den Arm geklemmt und war davongeeilt.
»Verräterin«, zischte ich ihr hinterher, aber da war die Bürotür schon ins Schloss gefallen. Für Winter fehlten mir heute wirklich die Nerven.
In einem gemütlichen Schlendergang kam er zu mir an die Theke, und ich versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.
»Hallo, Herr Winter«, begrüßte ich ihn förmlich.
Er nickte mir kurz zu. »Ist ja nicht sonderlich viel los hier, nicht wahr?«
Bitte? Ich musste mich gewaltig verhört haben, oder hatte er das gerade wirklich gesagt? So eine Dreistigkeit besaß doch nicht einmal dieser Mann.
Mein Blick musste wohl für sich gesprochen haben. Winter schenkte mir den Versuch eines Lächelns und hoffte offenbar, mich wieder milde zu stimmen.
Damit lag er aber gründlich falsch. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass die Bücherei unter seiner Leitung öfter mit lesehungrigen Kunden besucht gewesen war. Im Leben nicht.
»Was führt Sie denn zu uns?«, erkundigte ich mich bei ihm und fügte »schon wieder« in Gedanken hinzu. »Sehnsucht?«
Winter lachte freudlos auf. »Ich dachte, ich müsste mal nach dem Rechten schauen.«
Irgendwie schien ich heute ein Problem mit meinem Gehör zu haben. Ich bildete mir ein, schon wieder eine Dreistigkeit gehört zu haben. »Entschuldigung, ich verstehe nicht ganz.«
Er seufzte mitfühlend, und langsam begann ich, mich wie ein begriffsstutziges Entlein zu fühlen. »Sie wissen schon, schauen, ob hier alles in geregelten Bahnen vor sich geht.«
»Ich verstehe.« Und das tat ich tatsächlich. Winter glaubte nicht daran, dass ich fähig wäre, diese Bücherei zu leiten. Mein linkes Augenlid begann nervös zu zucken. Mit meinem grimassenähnlichen Lächeln und dem zuckenden Auge musste ich wie eine Verrückte aussehen. »Sehr nett von Ihnen, aber das ist wirklich nicht nötig.«
»Da bin ich aber ganz anderer Meinung.« Er setzte sich direkt auf die Theke und bedachte mich mit einem seltsamen Blick. »Kaum bin ich in Rente, schon schaffen Sie es, eine Leiche hier auftauchen zu lassen. Also sollte ich schon nach dem Rechten schauen.« Winter deutete auf die Mauer, hinter der sich das Lager befand und einst die Leiche von Förstner gelegen hatte.
Ich konnte die Hitze in mir aufsteigen spüren. Wie eine giftige Natter schlängelte sie sich ihren Weg durch meinen Magen, über meine Wangen in Richtung meines Mundes, um meinem Vorgänger ein paar hässliche Worte entgegenzuschleudern. Ich war jedoch zu perplex, weshalb ich meinen Mund auf- und zuklappte, ohne etwas gesagt zu haben.
Bernhard Winter musste mein Schweigen wohl als stilles Eingeständnis verstanden haben. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck erhob er sich und zupfte sich einen Fussel von seinem Oberteil. »Keine Sorge, ich werde mein wachsames Auge über die Bücherei halten, obwohl ich mir meine Rente definitiv anders vorgestellt habe. So, und nun entschuldigen Sie mich, ich wollte etwas in ›Gundulas kleinem Gartenparadies‹ für meinen Garten nachschlagen. Falls sich das Buch nach ihrem grandiosen Flohmarkt überhaupt noch im Bestand befinden sollte.«
Mein Mund klappte auf und wieder zu. Selbst Andreas Förstner erschien mir im Vergleich zu Winter unheimlich sympathisch.
Mit sich und der Welt völlig zufrieden schlenderte Winter zu den Regalen und verschwand damit aus meinem Sichtfeld.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, aber dieser Mann hatte es doch tatsächlich geschafft, mein ganzes Päckchen Freundlichkeit für ihn aufgebraucht zu haben.
Kein Grund, nervös zu sein. Lächeln und winken, ganz einfach.
Die Mitglieder des örtlichen Strickvereins »Nodl hoch« saßen mir in einem Halbkreis gegenüber. Die neugierigen bis kritischen Blicke der jungen bis älteren Mitglieder waren auf mich gerichtet. Nur den Adleraugen von Adelheid, der Freundin von Tante Marlies, versuchte ich auszuweichen.
Sie war auch die Erste, die sich beschwerte. »Also, warum sind wir hier?«
Tante Marlies, die die Zügel des Vereins hielt, erhob sich von ihrem Stuhl und baute sich vor ihren Strickschwestern auf.
»Meine Damen, i freu mi, dass ihr meiner Einladung mitm Ortswechsel alle g’folgd seid. Dora, die Frau von meim Neffa, hat a wundervolle Idee, der ich gerne zustimmen däd. Nadierlich mit eurer Erlaubnis. Aber horchet selber, was d’ Dora zu berichta had.« Tante Marlies gab das Wort an mich ab.
Ich räusperte mich und hatte mit einem Mal einen trockenen Hals. »Hallo zusammen und herzlich willkommen in der Stadtbücherei. Ich freue mich ebenfalls, Sie heute hier begrüßen zu dürfen. Als ich gestern am Gemeindehaus vorbeilief, fiel mir eine Anzeige ins Auge. Der wöchentliche Stricktermin konnte wegen Doppelbuchung nicht …«
»Ja, diese verflixten Quilter haben wieder dazwischengefunkt«, wetterte eine Dame, deren Namen ich noch nicht kannte.
Für ein paar Sekunden war ich aus dem Konzept, fand meinen Faden aber gleich wieder. »… stattfinden. Deshalb wollte ich Ihnen gerne den Vorschlag unterbreiten, Ihre zukünftigen Treffen in den Räumlichkeiten der Stadtbücherei abzuhalten.«
In meiner Phantasie hatte ich mir vorgestellt, wie nun alle begeistert aufsprängen und vor Freude jubelten, da man ihnen eine neue Örtlichkeit zur Verfügung stellte. Doch in der Realität herrschte eisernes Schweigen, und die Mitglieder warfen sich gegenseitig vielsagende Blicke zu.
»Und was hätten wir davon, uns hier zu treffen?«, knatterte Adelheid, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Vielen Dank für den Einwand, Frau Sauer. Die Stadtbücherei ist ein Ort der Begegnung und des Lernens. Wir können Ihnen genügend Platz zum Arbeiten und Austausch anbieten. Zusätzliche Begleitmaterialien wie Strickbücher und -DVDs sowie eine geplante kleine Kaffee-Ecke in der Zukunft.«
Mehr positive Versprechungen konnte ich ihnen nicht machen. Sie mussten anbeißen.
»Also, deamr abstimma. Wer isch dafür, dass mir uns hier zukönfdig dräffed und nedd ständig mit de Quiltmädels um den bleeden Raum im Gemeindehaus hendla miaßa. Händ hoch!«
Huch, so autoritär kannte ich das Tantchen gar nicht. Das dachten sich wohl auch ihre Kolleginnen, von denen keine widersprach, nicht mal Adelheid. Und ich konnte zwölf erhobene Hände zählen.
»Super, dann dräffed mir uns zukönfdig hier.« Tante Marlies schien zufrieden mit dem Ergebnis der Wahl. »Dann hoch die Nodla und hobb!«
Lautes Rascheln war zu vernehmen, als die Damen in ihren Taschen und Körben nach ihrem Strickzeug zu suchen begannen.
»Meine Damen …« Alle drehten sich zu Tante Marlies um, die mahnend einen Finger hochhielt. »Und denkt dran, der Feind schläfd nedd, also Göschle halda.«
»Ja«, sangen Tante Marlies’ Strickdamen artig im Chor.
»Guad, dann bleib nur noch oins zu saga – herzlichen Gliggwunsch, Dora. Hiermit bisch du offiziell a neis Mitglied bei uns.« Sie umarmte mich fest. »Du woisch ja, aufm Land isch mir nie ohne en Verein.«