»Was haltet ihr zwei davon, wenn ich uns etwas zu essen besorge und ihr uns schon mal ein Plätzchen zum Sitzen sucht?«
Tom und Tante Marlies nickten mir zu und machten sich auf den Weg zu einem der nahe gelegenen Zelte.
Der leckere Duft und der Anblick des Essens sorgten dafür, dass mein Magen laut knurrte. Ich entschied mich für einen italienischen Stand mit Pizza, Pasta und Salat und stellte mich in der Schlange an. Nebenan befand sich ein türkischer Stand, und ich war fest davon überzeugt, später noch etwas davon probieren zu müssen.
Ich wurde mit dem Essen bereits sehnsüchtig zurückerwartet. Wir unterhielten uns noch mit ein paar Bekannten von Tante Marlies, deren Namen ich mir nicht merken konnte, und traten langsam den Marsch nach Hause an. Unterwegs betrachteten wir den aufwendig verzierten Maibaum, der laut einem Gemeinderatsmitglied nur ganz knapp auf dem zweiten Platz gelandet war. Für nächstes Jahr würden sie eine andere Strategie fahren, um zu gewinnen.
Na, wenn das kein Engagement war, dann wusste ich auch nicht.
»Was sind denn das für Zelte dort hinten?« Da wir einen anderen Weg nach Hause eingeschlagen hatten als zuvor, fielen mir die unterschiedlichen Zelte am Rand erst jetzt auf.
»Desch isch en Doil vom Hock.«
Ich verstand nur Bahnhof. »Was ist denn ein Hock?«
»Des Ganze do henna nennt mr an Hock. A gmiadliches Beiananderhocka. Du kosch au Dorffescht dazu saga. So en Hock wird emmer von de Vereine veranschdaldet. Und da henda hend se ihre Zeld aufg’schdäld.«
Was es nicht alles gab. Seit meiner Ankunft in Goldthal hatte ich von Dingen erfahren, von denen ich zuvor nie gehört hatte. Die Älbler waren schon ein komisches Volk.
Eine Frau, die eines der Zelte verließ, weckte meine Aufmerksamkeit. War das nicht die junge Frau aus der Bank? Ich versuchte krampfhaft, mich an ihren Nachnamen zu erinnern. Vogel? Egal, ich war mir sicher, dass sie es war.
Und sie wirkte sehr betrunken. Sie lief Schlangenlinien, und ihre ganze Erscheinung sah nicht mehr so frisch aus. Keine Ahnung, wie sie das zu der frühen Uhrzeit geschafft hatte, sich so abzuschießen. Aber das war meine Chance. Wie hieß es im Volksmund? Kindermund tut Wahrheit kund, und Alkohol lockert die Zunge. Ich könnte ihr bestimmt ein paar Antworten zu Förstner, ihrer Beziehung zu ihm oder Schumacher entlocken.
Tante Marlies hatte sich bei Tom untergehakt. Ich musste die beiden loswerden. Wenigstens für ein paar Minuten.
»Geht ruhig schon vor, ich muss mir schnell die Schuhe neu binden.« Ich bedeutete ihnen, weiterzugehen, und tat so, als würde ich mir die Schuhe richten. Die Bankangestellte hatte eine Holzbank erreicht, ließ sich auf ihr nieder und hielt sich daran fest, als wäre sie auf hoher See und drohte jeden Moment über Bord zu gehen. Auweia. Ich biss mir auf die Lippen und überlegte, ob ich das wirklich bringen konnte. Die Gute war ziemlich angeschlagen, und ich konnte mich nicht hundertprozentig darauf verlassen, nützliche Informationen von ihr zu erhalten. Aber ich musste es riskieren. Für Bärbel und Wilfried.
»Guten Tag … Svenja.« In letzter Sekunde war mir noch ihr Vorname eingefallen. »Was für ein Zufall, Sie hier anzutreffen.« Ich nahm neben ihr Platz.
Svenja wandte sich mir schwerfällig zu und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Kennen wir uns …?« Gerade als ich zu einer Antwort ansetzen wollte, hellte sich ihr Blick auf. »Ah … Sie sind doch die Neue. Hase, gell?«
Ich musste schmunzeln. »Fast, ich bin der Fuchs. Geht es Ihnen besser?«
Svenja schien darüber nachdenken zu müssen.
»Als wir uns neulich in der Bank begegnet sind, schien es mir so, als ginge es Ihnen nicht so gut«, half ich ihr auf die Sprünge. Mein Zeitfenster war begrenzt.
»Wie soll es einem schon gehen, wenn einem das Herz herausgerissen wurde.«
Armes Ding. Liebeskummer war wirklich ein Arschloch, wer kannte es nicht.
»Sie haben ihn geliebt, nicht wahr? Ich meine, Andreas Förstner.«
»Ja, wir haben uns geliebt. Das können ruhig alle wissen. Und hätte er diesen alten Besen nicht daheim gehabt, wären wir schon längst weg von hier.«
»Soso, wo wollten Sie beide denn hin?«
Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Wir wollten an die Côte d’Azur und es uns gut gehen lassen. Einfach der Sonne hinterher. Aber er meinte, er könne hier noch nicht weg.«
»Hat er Ihnen gegenüber von irgendwelchen Machenschaften gesprochen, in die er verwickelt war? Hatte er mit Leuten Ärger, denen er Geld schuldete?« Zum Beispiel dem Automogul Steinkamp.
»Was?« Das war zu viel Input auf einmal.
»Hatte Andreas Schwierigkeiten?«
»Verzockt.« Sie hatte die Augen geschlossen. »Der Boden dreht sich so schnell.«
»Bleiben Sie bei mir, Svenja. Sie meinen, sein Geld?«
»Ja, was denn sonst? Andreas wollte sich darum kümmern.«
Das war ja hochinteressant. »Hat er Ihnen auch gesagt, wie?«
Svenja schüttelte den Kopf. »Ich bin so müde.« Ihre Worte bestanden nur noch aus nuscheln.
Auch das noch. »Svenja, Sie wollten doch gerade …« Aber da war es schon zu spät. Ihr Kopf landete auf meiner Schulter, und Svenja hatte sich ins Traumland verabschiedet.
Und zum Dank hatte ich die Gute nun an mir kleben. Es hatte doch so gut angefangen. Ich hatte zwar nicht sonderlich viele Informationen aus ihr herausquetschen können, aber besser als gar nichts.
Hinter mir räusperte sich jemand. Ohne mich umdrehen zu müssen, wusste ich genau, wer hinter mir stand. »Hallo, Schatz«, sagte ich so fröhlich wie möglich und versuchte, Svenjas Kopf von meiner Schulter zu lösen.
Tom hatte die Arme verschränkt. »Was machst du hier?«, zischte er und deutete auf die junge Frau, deren Kopf ich inzwischen waghalsig an die dünne Plane des Zelts hinter uns gelehnt hatte.
»Ich bin ihr zufällig begegnet und wollte nicht unhöflich sein und gehen, ohne sie begrüßt zu haben.«
»Zufällig.« Tom zog die Augenbrauen hoch. »Dich kann man wirklich nicht allein lassen. Geht es ihr gut?«
»Ja. Sie hat zu viel getrunken und hat morgen sicherlich ziemlich Kopfschmerzen«, unterstrich ich das Offensichtliche.
Er beugte sich über sie, berührte ihre Stirn und fühlte nach ihrem Puls. Einmal Polizist, immer Polizist. »Ich bringe sie lieber zurück ins Zelt und sorge dafür, dass sie jemand nach Hause begleitet. Du wartest hier. Und das, ohne irgendjemanden auszuhorchen. Klar?«