Der Himmel hatte eine purpurne Spur aus Orange- und Rosatönen angenommen und leitete damit meine Feuertaufe in Sachen Kinderveranstaltung ein. Was soll ich sagen, ich war doch nervöser als gedacht. Und dazu konnte ich den aufkommenden Muskelkater vom Training mit Novak in meinen Knochen spüren. Das konnte ja heiter werden.
Ich versuchte mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Schließlich war ich zum Arbeiten da und wollte diesen Abend zum Erfolg machen.
Der Grillplatz, den wir für unsere Veranstaltung umgebaut hatten, sah einfach phantastisch aus. Annika, Ulrike und ich hatten den Nachmittag damit verbracht, alles zu dekorieren und gruselig zu gestalten. Das Holz für das Lagerfeuer war aufgeschichtet, Fackeln aufgestellt. Kleine Geister, Kürbisse, Spinnennetze und Fledermäuse aus Papier hingen in der Luft und zwischen den Bäumen. Der Holztisch, der unter einem Dach stand, war mit Teig für Stockbrot, Keksen mit Zuckerguss, die wie Skelette aussahen, und Muffins, die an Spinnen erinnerten, dekoriert. Annika, die eine Leidenschaft fürs Backen zu haben schien, hatte sich selbst übertroffen.
Und jetzt standen wir hier und warteten auf die kleinen Racker, die mit Catrin in wenigen Minuten eintreffen würden. Wir hatten uns sogar die Mühe gemacht und uns verkleidet. Annika ging als Teufel, Tom – der mir beistand – und ich hatten uns als Vampire verkleidet. Nur Ulrike hatte ich nicht davon überzeugen können, sich in ein Kostüm zu werfen.
Zu meinem Leidwesen war Sabrina Vögele wirklich hier aufgetaucht. Um die Bücherei dieses Mal in einem positiven Licht, also ohne Mord, in der Presse erscheinen zu lassen, hatte ich Frau Vögele von unserer Veranstaltung erzählt und gefragt, ob sie komme. Wegen ihres Desinteresses und des emotionslosen Gesichtsausdrucks, den sie mir zugeworfen hatte, war ich davon ausgegangen, dass wir nicht interessant genug waren. Mit einem Block bewaffnet stand sie jetzt am Büfett und machte sich hektisch Notizen. Ich biss mir auf die Lippen und konnte nur hoffen, dass der Abend gut ausginge.
»Ich kümmere mich schon mal um das Lagerfeuer«, meinte mein Mann, alias Graf Dracula, und machte sich am Holz zu schaffen. Trotz seiner Ermittlungsarbeit nahm er sich die Zeit. Ich war froh, ihn an meiner Seite zu wissen. Nicht nur weil Tom Kinder liebte und gut mit ihnen auskam, er war auch meine moralische Unterstützung.
Nach und nach plätscherten Eltern mit ihren Kindern bei uns ein und wurden direkt am Fußweg, der zu den Parkplätzen führte, von Ulrike abgefangen. Sie drückte jedem Elternteil eine Einverständniserklärung in die Hand, damit wir ihre Kinder später fotografieren durften, ohne rechtliche Schwierigkeiten befürchten zu müssen.
Die Eltern brachten ihre Kinder mit einem breiten Grinsen zu mir und versicherten mir, wie toll sie diese Veranstaltung fänden. Sie würden in ein paar Stunden zurück sein, um ihre Kinder wieder abzuholen. Und weg waren sie. Ich übersetzte das Grinsen damit, dass sie froh waren, für kurze Zeit ihre Ruhe zu haben und sich um sich selbst kümmern zu können. War mir eine Freude, zu helfen.
»Das ist wirklich super geworden.« Catrin bugsierte drei Kinder vor sich her. Sie hatte das identische Grinsen im Gesicht wie die anderen Eltern. »Das sollten wir unbedingt öfter machen.«
»Danke, dass du Werbung für die Veranstaltung gemacht hast. Wir sollten demnächst was trinken gehen, dann können wir über weitere kinderfre… ich meine, Kinderveranstaltungen sprechen.«
»Abgemacht.« Sie gab jedem ihrer Kinder einen Kuss auf den Kopf. »Viel Spaß, ihr drei, und bis später.« Und weg war sie.
»Dann kommt mal mit«, sagte ich und schob sie zu den restlichen Kindern.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum deine Mutter wollte, dass ich dich hierherbringe. Einfach lächerlich.« Die Beschwerde hallte über den Platz und drang an mein Ohr, für das sie bestimmt gewesen war.
Die nörgelnde Stimme kam mir sofort bekannt vor. Der Autohausmogul eilte mit schnellen Schritten auf mich zu, im Schlepptau einen Jungen.
»Herr Steinkamp, Sie auch hier?« Mit ihm hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
Steinkamp verzog seine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Er hatte eine Hand auf die Schulter des Jungen gelegt, der ihm jetzt schon erschreckend ähnlich sah. »Nicht freiwillig. Das ist Cornelius, Sie sollten gut auf ihn aufpassen.«
»Das werden wir, machen Sie sich keine Sorgen. Cornelius wird es hier gut haben.«
Der kleine Steinkamp verzog sein Gesicht wie sein Vater. Gleich zwei von der Sorte, wie wunderbar.
Steinkamp schien etwas hinter mir zu fokussieren. »Aber das ist doch … Cornelius, warte hier!«
Er schob seinen Sprössling in meine Arme, rauschte wie ein wilder Stier an mir vorbei und direkt auf meinen Mann zu.
Nicht gut.
»Sie haben ja Nerven«, bellte Steinkamp. »Tauchen hier auf und stochern fröhlich im Feuer rum. Dass Sie sich nicht schämen!«
Tom hob beschwichtigend seine Arme. »Herr Steinkamp, wir sollten –«
»Platzt da in meine Firma und stellt meinen Angestellten Fragen über mich, wenn ich nicht da bin!«
Ich schob Cornelius zu den restlichen Kindern und eilte zu Steinkamp und meinem Mann. Das durfte nicht wahr sein. Dieser Kerl musste sich dringend beruhigen.
»Wir sind einem Hinweis nachgegangen, Herr Steinkamp. Das ist unser Job«, erklärte Tom sachlich und nahm die Vampirzähne aus dem Mund.
»Muss das sein, hier und jetzt?«, zischte ich Steinkamp zu und blickte mich nach Sabrina Vögele um, die zum Glück von Annika abgelenkt wurde und noch nichts von der Auseinandersetzung mitbekommen hatte.
»Halten Sie sich da raus!«, blaffte Steinkamp mich an. Er wandte sich wieder meinem Mann zu. »Sie wollen mir jetzt den Mord an diesem Versager Förstner andichten, ich fasse es nicht.«
»Herr Steinkamp, ich bitte Sie, die Kinder!« Die mussten das nun wirklich nicht mitbekommen.
Steinkamp gab ein kurzes Bellen von sich. »Da scheiß ich drauf. Mein Anwalt wird Sie in der Luft zerreißen, Fuchs. Hören Sie? Rufmord ist das.«
Tom hatte seinen Rücken durchgestreckt und sich vor Steinkamp aufgebaut. »Jetzt mal langsam. Sie sollten sich beruhigen, oder ich muss Sie mitnehmen. Wollen Sie das? Na also! Wir haben Hinweise, die zu Ihnen führen, und denen müssen wir nachgehen. Das ist reine Routine, das müssen Sie verstehen.«
»Ich muss gar nichts. Dieses Märchen können Sie der da erzählen.« Er zeigte mit dem Daumen in meine Richtung. »Und was für Hinweise sollen das überhaupt sein?«
Tom deutete zur Waldlichtung. »Sie sollten nun gehen, wir klären das morgen im Revier und nicht hier in der Öffentlichkeit.«
Steinkamp knirschte mit den Zähnen. »Jetzt spucken Sie es schon aus!«
Er hatte einen schrecklichen Nervfaktor. »Sie sollten auf meinen Mann hören, oder wollen Sie Sabrina Vögele ein Exklusivinterview geben, in dem Sie darüber berichten, wie Sie in den Mordfall Förstner verwickelt sind?« Wenn diese Drohung nicht half, wusste ich auch nicht.
Steinkamp sah uns beide hasserfüllt an. »Wir sehen uns wieder, Fuchs«, zischte er und dampfte davon.
Während fünfzehn erwartungsvolle, gespannte Kindergesichter mich beobachteten, hatte ich ein Prickeln im Nacken, weil ich Sabrinas Blicke spüren konnte. Jetzt lag es an mir, den Abend zu keinem Reinfall werden zu lassen. Mit meinem Umhang verdeckte ich meinen Mund und schaute die Kinder prüfend an, als wären sie meine nächste Mahlzeit.
»Willkommen bei unserer Gruselnacht.« Ich hatte versucht, meine Stimme tiefer klingen zu lassen, und einen falschen Akzent benutzt, wie es die Vampire in Filmen immer taten.
»Mein Name ist Vampirella –«
»Seit wann sind Vampire denn schwarz?« Steinkamp junior sah mich zweifelnd an. Er rückte die Brille auf seinem Nasenrücken zurecht.
»Gute Frage! Es ist ein Zauber, um mich vor euch Menschen in der Dunkelheit besser verstecken zu können«, zischte ich. Etwas Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein.
»Mein Vater sagt, so etwas wie Vampire existiert überhaupt nicht.«
Ich musste an mich halten, um nicht mit den Augen zu rollen. »Dein Vater hat wohl noch keinen echten Vampir getroffen.« Ich zwinkerte dem Jungen zu. Gerade als er seinen Mund für eine besserwisserische Antwort öffnen wollte, fuhr ich schnell mit meinem Text fort. »Ich hoffe, ihr habt eine große Portion Mut mitgebracht. Euch erwarten heute tierische Knabbereien, Verwandlungen und Gruselgeschichten am Lagerfeuer. Seid ihr bereit?«
Ein paar vereinzelte Kinder nickten mir zu, der Rest sah mich emotionslos an. Ich würde an meiner Draculavorstellung dringend arbeiten müssen.
»Fangen wir an. Wer hat Lust, geschminkt zu werden?« Ich führte die Kinder, die sich gemeldet hatten, zu Annika hinüber, die schon freudig auf und ab sprang.
»Wollt ihr euch schon einmal um das Stockbrot kümmern?«, fragte ich die restlichen Kinder und scheuchte sie zu Ulrike. »Meine Kollegin Ulrike wird euch dabei unterstützen, dann kann ich mich um die Geschichten kümmern.«
Ulrike setzte ihre übliche Sauertopfmiene auf. »Darf es sonst noch was sein?«
»Im Moment nicht, aber danke.«
Sie machte es mir wirklich nicht leicht. Seit ich ihr und Annika von der Veranstaltung erzählt hatte, hatte sie sich in einer Tour darüber beschwert, dass so was nicht in ihrem Vertrag stehe und es so was noch nie in der Bücherei gegeben habe. Mit Engelszungen hatte ich auf sie eingeredet, zu kommen und Annika und mich zu unterstützen. Diese Veranstaltung war nicht zu meinem persönlichen Vergnügen, sondern für das Image der Bücherei nötig. Bis zur letzten Minute war ich mir nicht sicher gewesen, ob sie erscheinen würde oder nicht. Zum Aufbauen war sie tatsächlich aufgetaucht, und ich war sehr glücklich darüber, auch wenn ihre Laune nun sibirische Züge angenommen hatte.
»So, ihr kleinen Monster«, schnurrte sie. »Für jeden von euch einen Stock. Und wehe, ihr kommt auf falsche Gedanken.«
Ulrike würde das hinbekommen, oder? Ich unternahm eine kurze Stippvisite zu Annika, die mir versicherte, zurechtzukommen.
»Du machst das gut.« Tom hatte den Holzberg in ein Lagerfeuer verwandelt und stand neben mir, während ich einen prüfenden Blick über den Platz warf. Ulrike und Annika kümmerten sich um die Kinder, und Sabrina schoss fleißig Fotos. »Die Kinder scheinen Spaß zu haben.«
»Meinst du?« Ich war mir unsicher.
»Natürlich. Allen geht es gut.«
Vermutlich hatte er recht. Meine Anspannung ließ etwas nach. Nachdem die Kinder fertig geschminkt und das Stockbrot um Weidenstöcke gewickelt worden war, saßen wir gemeinsam um das Lagerfeuer. Um mehr Stimmung aufkommen zu lassen, hatte ich von verschiedenen CDs und aus dem Internet Musik mit schaurigen Klängen zusammengestellt, die nun leise im Hintergrund ablief.
»Frau Fuchs, jetzt bleiben Sie doch mal still sitzen, so wird das nie was«, meckerte die Journalistin und zielte mit der Kamera direkt auf mich. Für mich war es natürlich, jeder Kameralinse aus dem Weg zu gehen und mich versteckt zu halten. Hier sollte ich mich richtig zeigen. Also hielt ich das Buch, das ich gerade aus meinem Korb geholt hatte, auf Brusthöhe und lächelte vampirisch in die Kamera.
»Kennt ihr schon die Geschichte von ›Ichabod, dem kleinen Geisterjäger‹?« Einstimmiges Kopfschütteln, das war gut. Ich räusperte mich und begann die Geschichte des kleinen Ichabod vorzulesen, der Teil einer berühmten Geisterjägerfamilie war und sich dabei schrecklich vor Geistern fürchtete. Ich versuchte Sabrina Vögele auszublenden, die im Moment dem kleinen Schlaumeier von gerade eben ein paar Fragen stellte.
Das Knirschen des Kieswegs und das Knacken einiger Äste ließen mich kurz aufhorchen. Da die Geräusche nicht von meiner Playlist kommen konnten, ließ ich meinen Blick umherkreisen, um die Störquelle ausfindig zu machen. Aus den Schatten konnte ich jemanden näher kommen sehen, meine Augen brauchten jedoch einen Moment, um in der Dunkelheit mehr als nur Schemen erkennen zu können.
Ich musste mehrfach blinzeln. Auf dem Weg, der zu den Parkplätzen führte, stand Katharina Förstner mit ihren beiden Kindern. Vögele, die meinem Blick gefolgt war, hatte die neuen Besucher ebenfalls registriert und begann bereits, wie ein Paparazzo Fotos zu schießen. Diese Frau war unmöglich.
Ulrike, die neben mir saß, streckte mir eine Hand entgegen. »Geben Sie schon her, ich lese weiter.«
Ich sah sie ungläubig an.
»Ja«, knatterte sie. »Retten Sie lieber die arme Frau vor dieser schrecklichen Journalistin.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Aber da mir ihre Anweisung ein Befehl war, nahm ich meine Beine in die Hand und eilte auf Familie Förstner zu. »Danke, Frau Vögele, ab hier übernehme ich.« Ich stellte mich schützend vor die beiden Kinder und die Witwe und versuchte der neugierigen Journalistin klarzumachen, dass ich hier das Sagen hatte.
Sabrina hob kurz eine Augenbraue, zückte ihren Block und trat den Rücktritt an.
»Frau Förstner, was für eine schöne Überraschung, Sie hier zu sehen«, begrüßte ich sie. »Hallo, ihr zwei, habt ihr Lust, bei unserer Gruselnacht mitzumachen?«
»Hallo, Frau Fuchs«, begann Frau Förstner und hielt ihre Kinder an den Schultern fest. »Es tut mir leid, dass wir zu spät dran sind, ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee sein könnte.«
Sie warf Vögele einen kurzen Blick zu. Ich wusste, was sie meinte. Die Kinder hatten es seit dem Tod ihres Vaters bestimmt nicht einfach, und eine lästige Journalistin, die vermutlich ständig wie ein Geier um sie herumschwirren würde, war da nicht hilfreich.
Ich setzte ein vertrauenerweckendes Lächeln auf. »Keine Sorge, Frau Förstner, Sie können die zwei beruhigt in meine Hände übergeben. Ich werde mich gut um Leonie und Moritz kümmern. Die beiden erhalten noch Stockbrot, Kekse, Schminke und können gemeinsam mit den anderen dann den Geschichten lauschen.« Die beiden Förstner-Kinder sahen ihre Mutter fragend an, diese nickte kurz. Katharina verabschiedete sich, und ich lief mit meinen Schützlingen zum Büfett. »So, ihr zwei, dann wollen wir euch mal ein schnelles Make-up verpassen.«
Dem fünfjährigen Moritz, der mit seinem goldenen Engelshaar und den strahlenden blauen Augen zu süß war, verpasste ich die Schminke einer kleinen Maus. Ich konnte nicht anders. Leonie, die vier Jahre älter war, wollte wie eine Hexe aussehen.
»Ich hoffe, ihr beiden habt nicht zu viel Angst. Wir haben ein paar wirklich gruselige Geschichten rausgesucht.«
Moritz griff nach einem neuen Keks und zuckte mit den Schultern. »Jetzt nicht mehr.«
Ich hielt mit dem Pinsel, mit dem ich Leonie ein paar Warzen verpasste, kurz inne. »Hast du keine Angst mehr?«
»Nein, jetzt nicht mehr.«
»Da bist du mir weit voraus.« Ich zwinkerte ihm zu. »Es gehört schon einiges an Mut dazu, seine Angst zu besiegen. Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich habe schreckliche Angst vor Clowns.« Die beiden fingen an zu kichern. »Wovor hattest du Angst, Moritz?«
»Wenn Mama und Papa immer gestritten haben.«
Mir wurde das Herz schwer. Hätte ich das gewusst, hätte ich ihm diese Frage nicht gestellt. Ich dachte, er hätte vielleicht Angst vor Tauben, großen Autos oder davor, im Regen nass zu werden.
»Papa hat immer ganz laut geschrien, und Mama hat geweint.«
Leonie verzog die Lippen zu einem schmalen Strich. Ich wusste, wie es den beiden ergangen war. Meine Mutter hatte nach der Ehe mit meinem Vater noch zwei weitere Male geheiratet. Es wurde viel gestritten, und keine der beiden Ehen hielt sonderlich lange.
»Das war sicherlich nicht immer einfach für euch. Meine Eltern haben sich auch immer schrecklich gestritten. Zum Glück habt ihr euch beide.«
Moritz nickte heftig und hatte den ganzen Mund voller Zuckerguss. »Weißt du noch, dass Mama zu Oma meinte …«, er drehte sich zu seiner Schwester um, »… dass bald alles vorbei sein würde? Und jetzt habe ich keine Angst mehr. Mama meinte, jetzt würde alles gut werden.«
»Moritz«, zischte Leonie ihrem jüngeren Bruder zu, der sich keiner Schuld bewusst schien.
»Aber es ist doch so.«
Er knabberte weiter an seinem Keks. Das war heftig. Hatte Frau Förstner etwa damit den Mord an ihrem Mann gemeint? Und war sie so skrupellos, dies noch vor ihren Kindern anzudeuten?
Ich hatte wohl zu lange geschwiegen, Leonie musterte mich bereits mit großen Augen.
»Keine Sorge, Leonie, von mir erfährt keiner etwas davon.«
Die armen Kinder. Es war wirklich ein Unrecht, was ihnen zugestoßen war. Ich versuchte mich an einem zaghaften Lächeln, um den beiden zu zeigen, dass sie nichts falsch gemacht hatten und alles in Ordnung war.
»So, und nun lasst uns zu den anderen zurückgehen, bevor Ulrike die Geschichte fertig gelesen hat.«
Die Kinder und Ulrike waren in meiner Abwesenheit wohl zu dem Entschluss gekommen, dass Ulrike weiterlesen sollte. Die Förstner-Kinder hatten sich einen Platz beim Feuer gesucht und lauschten gespannt der Geschichte.
»Sie macht das wirklich gut«, raunte Tom mir zu, als ich mich zu ihm setzte.
Völlig fasziniert betrachtete ich Ulrike in einem neuen Licht. Sie schien in ihrem Element zu sein. Mit ihrer Stimme, die immer wieder neue Höhen und Tiefen annahm, erweckte sie die Geschichte zum Leben, und die Kinder hörten ihr gebannt zu.
Während wir Ulrike lauschten, wie sie uns mit jeder neuen Geschichte in eine andere Welt entführte, verloren wir alle die Uhr aus den Augen. Als ich mich umsah und mit einem Mal einige Eltern wiedererkannte, schien das Ende der Veranstaltung erreicht zu sein. Ein Jammer, es war wirklich nett gewesen. Ich wartete noch, bis Ulrike ihr letztes Kapitel beendet hatte, und erhob mich.
»Liebe Kinder«, begann ich. »Leider hat sich unsere Zeit dem Ende zugeneigt. Im Namen meiner Kolleginnen möchte ich mich ganz herzlich bei euch und euren Eltern bedanken, dass ihr heute bei der ersten Gruselnacht dabei wart. Wir würden uns freuen, euch in den Räumen der Stadtbücherei wiederzusehen.«
Die Kinder sahen zufrieden aus, ihre Eltern applaudierten, und Sabrina nutzte die Gelegenheit und führte Gespräche mit einzelnen Elternteilen.
Eine meiner kleinen Besucherinnen hatte sich an Ulrikes Seite gestellt und hielt ein Buch fest umklammert. »Du, Frau Deckert, liest du uns noch eine Geschichte vor? Bitte!«, flehte die kleine Mia und setzte ihren Welpenblick bei Ulrike ein. Die restlichen Kinder unterstützten sie bei ihrer Bitte.
Ulrike, die mit sich selbst zu ringen schien, nahm das Buch entgegen. »Also gut, ihr kleinen Monster, aber nur noch eine Geschichte.«
Und so begann Ulrike, den Kindern ihre letzte Geschichte vorzulesen. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich schwören können, dass Ulrike mit einem zufriedenen Lächeln dasaß. Konnte das wirklich sein, oder spielten mir die Schatten der Flammen einen Streich?