Klinische Dämpfe lagen in der Luft. Das Piepsen der Geräte und das quietschende Geräusch von den Schuhen der Pflegekräfte waren zu hören.
Ich hasste Krankenhäuser. Sie sorgten dafür, dass ich mich um einiges kränker fühlte, selbst dann, wenn ich kerngesund war. Kaum zu glauben, dass ich als Kind einmal Ärztin hatte werden wollen. Okay, auch mal Glückskeksautorin und Prinzessin. Zum Glück wurde daraus nichts.
Ich war nicht die Einzige, der Krankenhäuser aufs Gemüt schlugen. Die sonst so strahlende und muntere Lotte Döhring, die Oma von Jonas, sah sehr mitgenommen aus, als sie aus einem der Krankenzimmer kam und sich zu mir in den Wartebereich setzte.
Nachdem ich realisiert hatte, was passiert war, war ich sofort zu Jonas gestürmt. Wenn er mich nicht aus dem Weg gestoßen hätte, hätte mich das Auto erwischt und über den Haufen gefahren. Anstelle meiner hatte es ihn getroffen. Aber Gott sei Dank war er nicht tot. Mit zitternden Fingern hatte ich schnell den Notruf und die Polizei verständigt und versucht, mich laienhaft um Jonas zu kümmern.
Der Notarzt, den ich mit meinen unzähligen Fragen fast in den Wahnsinn getrieben hatte, hatte mir versichert, dass Jonas durchkommen werde. Er habe auf den ersten Blick eine Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Bein. Jonas werde in ein paar Wochen wieder auf dem Damm sein, zur Sicherheit würden sie ihn jedoch erst mal im Krankenhaus behalten.
Und hier saßen wir nun, im Wartebereich der Abteilung Unfallchirurgie und Orthopädie des Klinikums.
»Des wird scho wieder, Kindle, mach dir ed so viele Sorga.«
Na, das sagte aber die Richtige! Ich griff nach Lottes Hand und drückte sie fest. Ich wusste nicht, wer im Moment mehr Trost brauchte, sie oder ich.
Sie sah mich mit ihren Augen an, die so vieles von Jonas’ hatten, und rieb an meiner Hand wie Aladdin, der einen Dschinn aus seiner Wunderlampe befreien wollte.
»Dr. Klostermann moint doch, das älles guad wird. A leichde Gehirnerschütterung und dr Fuaß. Dusl had er khedd. Und du au. Sodele, jeddz gosch mol nei, du wirsch scho erwartet. Und danach ganga mr hoim.«
Ich schluckte schwer, als ich vor Jonas’ Zimmertür stand. Mir graute es davor, zu ihm zu gehen. Schließlich war es meine Schuld, dass er jetzt hier lag. Ich drehte mich noch mal zu Oma Lotte um, die mir aufmunternd zunickte. Ich trat ein.
Es war ein Zweibettzimmer, und Jonas’ Bettnachbar schien ungefähr in unserem Alter zu sein. Man hätte meinen können, er wäre von einem Lkw erwischt worden, so sehr war er in Verbandszeug eingewickelt worden. Armer Kerl.
Mein Patient lag hinten am Fenster und schien seinen persönlichen Krankenpfleger zu haben. Mirko, der hier am Klinikum arbeitete, wie ich beiläufig von Jonas erfahren hatte, kümmerte sich rührend um ihn. Schenkte ihm etwas zu trinken ein und schüttelte ihm das Kissen zurecht. Ich wusste gar nicht, dass unser Superathlet so freundlich Jonas gegenüber sein konnte. Woher kam der plötzliche Sinneswandel?
»Brauchst du noch etwas?«
»Nein, alles gut. Dora, da bist du ja!« Jonas hatte mich bemerkt und winkte mich zu sich her. Mein Herz wurde mir schwer. Er sah ganz schön ramponiert aus.
Mirko, der damit entlassen zu sein schien, trat dicht heran, wodurch ich ein leichtes Déjà-vu bekam.
»Na, zufrieden?«, zischte Mirko.
Bitte? Hatte ich etwas nicht mitbekommen? »Was meinst du?«
»Nur wegen dir liegt er hier drin.«
Ohne mir eine Chance zu geben, die Sache klarzustellen, hatte er mich angerempelt und das Zimmer verlassen.
Nur wegen dir liegt er hier drin. Die Worte hallten nach. Sie schmeckten bitter und zeigten mir, was ich selbst schon fühlte. Ich war an allem schuld. Novak hatte mir noch gedroht, und zack, wollte mich ein Auto über den Haufen fahren. Jonas hatte sich geopfert und lag hier. Wegen meiner schrecklichen Neugierde und weil ich mich nicht raushalten konnte. Bedeutete das nicht, dass ich auf der richtigen Spur war?
»Dora?« Ich sah auf. Jonas schien schon länger mit mir gesprochen zu haben, ich war jedoch zu sehr von meinen Gedanken ablenkt gewesen und stand immer noch an derselben Stelle.
»Ja?« Nicht mehr wie ein Krächzen.
»Setz dich zu mir.« Er deutete auf den Stuhl, der an seinem Bett stand.
Ich umklammerte meine Handtasche auf meinem Schoß wie einen Rettungsgurt. Man hatte Jonas den Kopf verbunden, der Fuß hing in einer Schlaufe in der Luft, und ich konnte Schrammen auf seiner Haut erkennen.
»Du kannst aufhören, mich so zu mustern.«
»Das tue ich doch gar nicht.«
Ein strenger Blick. »Erst Oma, dann Mirko und jetzt du. Der Unfall ist nun einmal passiert!«
»Es tut mir so unendlich leid«, platzte es aus mir raus. Mein Griff um die Tasche wurde stärker.
»Was tut dir leid?«
»Das alles.«
»Spinnst du? Du kannst doch nichts dafür! Dem verrückten Fahrer sollte es leidtun. Der hätte dich fast um die Ecke gebracht.«
Ein freudloses Schnauben entkam mir. »Dafür hat es dich getroffen! Ich hätte die Warnung ernster nehmen sollen.«
»Was für eine Warnung?«, hakte Jonas nach.
»Nicht so wichtig.«
»Jetzt spuck es schon aus. Was verschweigst du mir?«
Er hatte ein Recht dazu, es zu erfahren, schließlich hatte es ihn getroffen.
Ich beugte mich weiter vor und warf der eingewickelten Mumie im Krankenbett neben Jonas, die leise vor sich hin schnarchte, einen kurzen Blick zu.
Jonas hörte mir aufmerksam zu, während ich ihm von Novaks Besuch und seiner Warnung an mich berichtete. Die Anwesenheit von Mirko erwähnte ich nur am Rande, ich wollte ihn nicht aufregen.
Jonas schluckte. »Meinst du, Novak hat vorhin …?«
»Möglich. Es könnte aber auch ein anderer Verrückter gewesen sein.«
»Oder eine Frau.«
»Oder eine verrückte Fahrerin.« Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es heute sehr knapp war und es möglicherweise wieder passieren könnte. Das darf nicht sein.«
»Was wirst du tun?« Er versuchte sich aufzurichten, gab wieder auf und ließ sich in seine Kissen zurücksinken.
»Soll ich?«, machte ich den Vorschlag, ihm zu helfen.
»Unterstehe dich. Also, was wirst du nun unternehmen?«
»Es scheint kein anderer Weg daran vorbeizuführen, ich werde Tom alles erzählen und dann das Ermitteln einstellen.«
»Du willst die Ermittlungen einstellen? So knapp vor dem Ziel?«
»Was für ein Ziel?«, fuhr ich ihn an.
Jonas lag wehrlos im Bett, hatte Schmerzen, und mir fiel nichts Besseres ein, als ihn anzuschnauzen.
»Tut mir leid.« Ich massierte mir den Nasenrücken. »Ich will nicht noch jemanden in Gefahr bringen, verstehst du?«
»Du musst weiter recherchieren! Wenn Novak dir droht und was mit der Fahrerflucht zu tun haben könnte, scheinst du auf dem richtigen Weg zu sein.«
»Wann haben wir die Rollen getauscht?« Sonst war ich immer die Übermütige und er derjenige, der auf die Bremse trat.
»Ulknudel«, neckte Jonas mich. »Ich meine es ernst.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Und jetzt bringst du Omi heim und ziehst dich fürs Tanzen um, heute ist doch euer Tanzabend?«
Ich nickte stumm.
»Na, besser geht es doch gar nicht. Dann wird Tom dir nach eurem letzten Tanzabend bestimmt vor den Leuten keine Szene machen.« Da hatte er allerdings recht.
Die Zimmertür wurde geöffnet, und Mirko trat ein. Er funkelte mich böse an und sah nach seinem Patienten.
»So, Ende der Besuchszeit«, bellte er in meine Richtung. »In fünf Minuten bin ich wieder zurück, dann ist hier Feierabend.«
Ohne ein weiteres Wort war er aus dem Zimmer gerauscht. Ich konnte diesen Kerl einfach nicht ausstehen.
»Er liebt seinen Job«, verteidigte Jonas seinen Freund und lächelte zufrieden. Liebe schien blind zu machen. »Aber vielleicht sollte ich mich wirklich ausruhen. Du hältst mich auf dem Laufenden?«
»Werde ich.«
»Gut. Und jetzt hör auf, dir einen Kopf zu machen, und geh tanzen. Ich bin in ein paar Tagen wieder draußen. Dann erwarte ich neue Erkenntnisse. Verstanden?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
Jonas grinste. »Nein.«
»Nicht so steif.« Herr Tews verpasste meinem Arm einen leichten Klaps. »Mambo ist bekannt für seinen typischen Hüftschwung, also locker aus der Hüfte, Mädchen.«
Er ging weiter durch die Reihe und verbesserte die Haltung eines anderen Pärchens. »Mambo erfordert Körpergefühl, Rhythmus und Leidenschaft. Also noch mal von vorne.« Er klatschte in die Hände, und seine Assistentin Ines begann an der Musikanlage zu hantieren. Keine Ahnung, wie Meister Fridolin es geschafft hatte, aber mittlerweile stand eine neue Musikanlage im Raum, die ihren Dienst höchstwahrscheinlich nicht verweigern würde. Ob er Catrin und ihrem Mann die Pistole auf die Brust gesetzt hatte?
Ich konnte mich heute Abend einfach nicht konzentrieren. Die erste Gelbe Karte hatten wir bereits in den ersten zehn Minuten erhalten. Der Tag hatte es einfach in sich gehabt, konnte man mir da einen Vorwurf machen?
»Geht es Jonas etwas besser?«, fragte Tom. Im Hintergrund spielte die Musikanlage die rhythmischen und pulsierenden Klänge ab, die an Kuba erinnerten und mir einen inneren Schauer bescherten. Wir brachten uns erneut in Position und begannen mit den ersten Figuren.
»Musik ist Kunst und damit eines der wertvollsten Güter, die wir haben. Geben Sie sich Mühe und tanzen Sie, als würde ihr Leben davon abhängen! Denken Sie daran: Krücken haben hier nichts verloren.«
Tews war beim nächsten Paar stehen geblieben und brachte die arme Nicole mit seiner Kritik an ihrer Haltung fast zum Heulen. Es war kein Wunder, dass aufgrund des sprühenden Charmes des Tanzlehrers nur noch die Hälfte der ursprünglichen Teilnehmer anwesend war. Selbst Theo und seine Frau waren heute daheim geblieben.
Wir hatten ebenfalls darüber gesprochen, mit dem Tanzkurs aufzuhören, uns jedoch dafür entschieden, es weiter durchzuziehen. Der Kurs hatte schließlich Geld gekostet und würde jetzt zu Ende gebracht.
Ich warf einen Blick zu unserem Tanzlehrer hinüber, der abgelenkt schien.
»Laut den Ärzten hatte er sehr viel Glück und muss noch ein paar Tage im Krankenhaus zur Beobachtung verbringen. Dann kann er wieder heim.«
»Ich will mir gar nicht ausmalen, was alles noch hätte passieren können …« Tom sprach es zwar nicht aus, aber ich wusste, dass er mich damit meinte. »Ich werde mich bei meinen Kollegen erkundigen, ob sie schon eine Spur haben. Hoffentlich finden sie dieses Schwein bald.«
»Mhm.«
»Aber dich beschäftigt etwas, richtig?«
»Wie kommst du darauf?«
Wir machten seit einer Ewigkeit die gleichen Figuren. Ich war überrascht, dass wir noch keinen Ärger bekommen hatten.
»Normalerweise würdest du nach Mistgabeln und Fackeln verlangen und die Ermittlungen einleiten, um den Bösewicht zu schnappen. Aber ich habe noch keinen Piep zu diesem Thema aus deinem Mund gehört. Also stimmt irgendwas nicht.«
»Ich muss dir da was beichten.« Ich fühlte mich wie jemand, die zu ihrer eigenen Hinrichtung geführt wurde. Das war alles andere als angenehm. Ich begann zwischen Umdrehungen und Füßen vor und zurück, zu erzählen. Und ich meine: alles.
Davon, dass ich Frau Nikolaus versprochen hatte, ihr zu helfen, und Katharina Förstner daheim besucht hatte. Von dem Geld in meinen Büchern. Meinen Recherchen in Novaks Fitnessstudio und bei Schumacher in der Bank. Dem Drohbrief. Und schließlich von Novaks und Mirkos Besuch heute und der Warnung. Und als Krönung: von der Fahrerflucht.
Als ich meinen Bericht beendet hatte, fühlte ich mich auf der einen Seite um zwanzig Kilo leichter, aber auf der anderen Seite wusste ich nicht, was schlimmer war: mich dem Zorn meines Mannes stellen zu müssen oder mich von einem Auto anfahren zu lassen.
Tom sah mir intensiv ins Gesicht. Kein Schreien, kein Toben. Nichts. Aber das täuschte. Es brodelte in ihm.
»Bitte sag doch was! Schrei mich an oder keine Ahnung, aber sag was«, flehte ich ihn an.
Er biss die Zähne zusammen. »Wir sprechen nachher zu Hause, darauf kannst du dich verlassen.« Er schleuderte mich mit einer Armbewegung zur Seite. Jonas hatte recht behalten, Tom würde mir hier keine Szene machen. Doch die Wut in seinen Augen ließ auf nichts Gutes hoffen. »Aber es wird dir nicht gefallen, glaub mir!«