Barnaba denkt, er hört nicht richtig. Konzentriert pellt Pina ihm Fitzelchen um Fitzelchen eine Mandarine.
»Was soll ich in Amerika?«
Pina zerteilt die Mandarine in zwei Hälften, reicht ihm die eine und steckt sich die andere selbst in den Mund.
»Das, was keiner so gut kann wie du. Mandarinen.«
»Braccianti gehen nach Amerika. Leute, die nichts mehr zu verlieren haben. Soll ich etwa alles aufgeben, was ich aufgebaut habe?«
»Wir sind schon dabei, alles zu verlieren. Wie lange werden wir das Haus noch halten können? Zwei Monate? Drei?«
»Der Markt wird sich erholen.«
»Nicht schnell genug.«
»Wir können nicht mal Englisch.«
»Deutsch kannst du auch nicht.«
Barnaba merkt, dass er schon über Details verhandelt.
»Schluss damit. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist.«
»Ich sage ja nicht, dass du wieder auf dem Feld arbeiten sollst. In Kalifornien und Florida bauen sie inzwischen überall Orangen an. Also brauchen sie Leute wie dich, die was davon verstehen. Land dort ist günstig zu haben, das Klima ist das gleiche wie bei uns, du könntest reicher werden als je zuvor. Sie nennen es das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.«
Barnaba kneift die Augen zu. »Sei keine Stute. Ich will nichts mehr davon hören.«
Meine Urgroßmutter legt ihre Hand mit dem verstümmelten Finger auf den Tisch.
»Ich bin deine Frau, und du hast mir das Leben gerettet, Nino. Dafür werde ich dir dankbar sein bis in den Tod, und wenn es sein muss, werde ich mit dir untergehen. Aber ich kenne die Zahlen, ich mache deine Abrechnungen, ich bin die Mutter deiner Kinder, also nenn mich nicht Stute. Unsere Zukunft liegt in Amerika, sage ich.«
»Ich bin Händler, kein padruni«, stöhnt Barnaba. »Sobald sich die Lage in München beruhigt hat, wird alles gut, du wirst sehen.«
»Überleg es dir wenigstens.«
Das tut er. Er findet sogar, dass sie in vielen Punkten recht hat, das muss er selbst zugeben. Was ihn abhält, ist nicht etwa die Furcht, irgendwo neu anzufangen, sondern etwas, für das mein Urgroßvater keine Worte hat: seine Liebe zu Deutschland.
Doch Deutschland ist fern.
Für Italien endet der Krieg in einer Tragödie. Die industrielle Produktion liegt am Boden, Massenarbeitslosigkeit und die Grippe grassieren. An der Seite der Entente-Mächte steht das Land zwar offiziell auf der Siegerseite, erhält aber die versprochenen Balkangebiete nicht. Die jungen Faschisten um Mussolini hetzen vom verstümmelten Sieg, ihre paramilitärischen Kampftruppen erhalten zehntausendfachen Zulauf von arbeitslosen und verbitterten Kriegsveteranen.
In München sind die Lehmgruben allmählich so ausgelaugt wie die Menschen. Weil Deutschland keine Arbeit mehr für sie hat, kehren die italienischen Ziegelbrenner wieder in ihre Heimatdörfer zurück. Wer etwas sparen konnte, kauft sich ein Häuschen und ein paar Ziegen und erzählt Legenden über Deutschland und Zia Melina. In München dankt der Prinzregent ab, und Kurt Eisner gründet den Freistaat Bayern. Doch was für Italien die vittoria mutilata ist, wird für Deutschland die Legende vom Dolchstoß, mit dem die Revolution das Land um den Sieg gebracht habe. Erst hundert Tage im Amt, wird Eisner auf offener Straße von einem nationalistischen Reserveleutnant erschossen. Daraufhin läuft der Revolutionäre Arbeiterrat Amok. In München brechen Tumulte von Arbeitern und Soldaten aus, es kommt zu Plünderungen, Gewalt und Hinrichtungen. Im April ruft der Revolutionäre Arbeiterrat die Räterepublik aus, Reichspräsident Ebert schickt Schutztruppen, die sich mit zwanzigtausend Rotarmisten erbitterte Straßengefechte liefern. Schließlich wird München von den konterrevolutionären Weißarmisten eingekesselt, angeführt vom dem als »Bluthund« verschrienen Freikorpsführer Franz Ritter von Epp, der bereits den Boxeraufstand in China niedergeschlagen und die Hereros in der deutschen Kolonie Südwestafrika massakriert hatte. Dem Sturmangriff im Mai fallen mehr als tausend Münchner zum Opfer, manche noch Jugendliche. Gerichtsverfahren gibt es nicht, die Freikorps wüten in den Arbeitervierteln, bis von den Türmen der Frauenkirche wieder weiß-blaue Fahnen wehen. Als im Dezember der Kriegszustand aufgehoben wird, geht ein Riss durch die bayerische Bevölkerung, an dessen Fransen sich Monarchisten, Republikaner, Kommunisten und völkische Bewegungen bis zur Katastrophe radikalisieren werden.
Das Jahrhundert stinkt nach Tod und geronnenem Blut, aber erst einmal will es wieder tanzen, fressen und saufen, und Barnaba lernt ein neues Gefühl kennen: die Einsamkeit.
Nach Rosarias Tod fühlt er sich, als ob er einen leeren Raum abschreite, ohne das Geräusch seiner Schritte zu hören. Als bestehe er aus Staub. Die Wut, als er Ruggero im Palazzo Manganelli fast verprügelt hätte, ist verdampft, die Leere, die sie hinterlassen hat, füllt nun die Einsamkeit.
Seitdem er die Verbindung zu Ruggero gekappt hat, laufen die Geschäfte schlecht. Die Besitzverhältnisse in den Gärten werden immer verworrener. Die Mafiafamilien kontrollieren alles, die braccianti haben sich in Gewerkschaften organisiert, ständig wird gestreikt, regelmäßig gibt es Aufstände, die Brunnen füllen sich erneut mit Leichen. Barnaba verliert die Lust. Das Wasser ist wieder weg, er hat aufgehört zu rudern. Sein Leben erscheint ihm wie ein Puzzle, wo nichts zusammenpasst. Er ist neununddreißig, aber er kommt sich genauso verwirrt vor wie mit zehn, als er den ersten cannolo seines Lebens probierte. Nun ist er neununddreißig, steht gesund in der Mitte seines Lebens, hat viel erreicht, aber in seinem großen Haus voller Menschen fühlt er sich zunehmend unwohl. Selbst die Familie kann ihn nicht aus der Einsamkeit retten. Also fährt er mit dem Alfa nach Taormina.
Das kleine Häuschen seiner Kindheit zwischen den Kakteen ist inzwischen eine Ruine, doch der Ort beruhigt ihn. Manchmal verbringt er ganze Tage dort, träumt von Zahlen und von München. Manchmal setzen sich Mariano und der zurückgekehrte Baron von Gloeden zu ihm und erklären ihm, dass das nicht gut sei, was er da tue.
Manchmal, wenn die Einsamkeit ganz schlimm wird oder die Kinder zu laut sind, setzt er sich zu den jungen Leuten in ihre kleine, verrauchte Redaktion und lässt sich die Revolution und das mit dem Frauenwahlrecht erklären. Er bringt jedes Mal cannoli mit, die mit spöttischem Dank angenommen, aber gierig verzehrt werden. Mit der Revolution kann Barnaba nur wenig anfangen. Er versteht nicht, was die jungen Leute eigentlich wollen, da sie doch aus guten Familien kommen, nie hungern oder arbeiten mussten und studieren können. Außerdem reden sie schlecht über Deutschland, obwohl sie noch nie dort waren. Als er einwendet, dass in Deutschland Frauen inzwischen wählen dürfen, gefällt das den jungen Revolutionären auch wieder nicht. Aber da sie schlecht etwas gegen das Frauenwahlrecht einwenden können und weil es gut passt, nennen sie ihn einen Reaktionär.
Barnaba ist gerne bei den drei jungen Revolutionären, denn ihr Zorn gefällt ihm. Unermüdlich wie einem Kind, das schwer von Begriff ist, leidenschaftlich und gestenreich schleudern sie ihm entgegen, dass die bürgerliche Gesellschaft ein Geschwür der Dekadenz am Arsch der Arbeiterklasse sei, das man wegschneiden müsse. Und wischen sich dann den Puderzucker von den Lippen. Als sie ihm einmal ein Foto von Lenin zeigen, ruft er erfreut aus, dass er den Mann kenne, und erzählt ihnen von seinen Begegnungen mit dem stiernackigen Herrn Meyer im Hofbräuhaus, dem er manchmal eine Steige Mandarinen und Orangen zukommen ließ. Da sind die drei Revolutionäre baff. Drei Monate später präsentieren sie ihm aufgeregt einen Brief mit kyrillischem Briefkopf und einem roten Stern darauf und verraten dem Patriarchen, dass sie an das Zentralkomitee in Moskau geschrieben hätten, zu Händen des Genossen Lenin, des Inhalts, dass ein ehemaliger Bekannter von ihm aus Münchner Zeiten mit ihnen an der revolutionären Umgestaltung der italienischen Nation mitwirke. Im Grunde wollten sie mit ihrem Vermieter angeben und hatten noch nicht einmal eine Antwort erwartet. Bis tatsächlich eine Antwort eintrifft. Der Brief ist von Lenin persönlich unterzeichnet und beginnt mit den Worten:
Genosse Carbonaro, ich freue mich, dass du dich in den Dienst der Revolution stellst. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an deine Mandarinen.
Er schließt mit dem Hinweis, dass der Volkskommissar für Ernährung, der Genosse Iwan Teodorowitsch, wegen einer größeren Order von Mandarinen und Orangen für die hungernden Arbeiterinnen, Matrosen und Rotarmisten der jungen Sowjetunion demnächst an ihn herantreten werde.
Barnaba weiß nicht, wie ihm geschieht. Aber tatsächlich erscheint einen Monat später ein Bevollmächtigter des Volkskommissariats für Ernährung, um ihm eine komplette Ernte abzukaufen. Die Verhandlungen sind zäh, die junge Sowjetunion steckt finanziell in einer Klemme, am Ende verdient Barnaba fast nichts an den beiden Schiffsladungen, die er nach Odessa auf den Weg bringt. Aber so schlecht seine Marge auch ist, sie verschafft ihm Luft, und er ist wieder im internationalen Geschäft. Der Feigenduft frischer Zahlen muntert ihn auf.
Soll ich nach Amerika gehen?
Um die Entscheidung zu beschleunigen, sucht er die Wahrsagerin in seinem Haus auf. Sie nennt sich Madame Romanov, behauptet, eine Cousine des letzten Zaren zu sein und nur dank ihrer hellsichtigen Fähigkeiten der Ermordung durch die Bolschewiken entgangen zu sein. Tatsächlich aber spricht sie das stakkatohafte, orientalische Sizilianisch aus der Kalsa und wirkt so slawisch wie eine Dattelpalme. Eigentlich kommt sie Barnaba eher vor wie ein rosa gekleidetes Krokodil. Als er ihr Studio betritt, funkelt sie ihn misstrauisch an.
»Ich kann Euch nichts sagen, Don Barnaba«, erklärt sie ihm, noch ehe er sie um irgendetwas gebeten hat.
»Warum nicht?«
»Weil es gegen die Hausordnung verstößt und ich keinen Ärger mit Eurer Frau will, darum. Geht bitte.«
»Ich habe nur eine einfache Frage.«
»Tut mir leid. Hausordnung ist Hausordnung. Und überhaupt, seien wir ehrlich, ich kann Euch auch gar nichts sagen. Und warum nicht? Weil ich nur eine Scharlatanin bin, Don Barnaba, so, jetzt ist es heraus. Natürlich kann ich Euch sagen, was ich allen sage, dass Ihr eine alte Seele seid, dass Ihr an einem Wendepunkt Eures Lebens steht, dass Ihr bald eine große Reise machen werdet, lauter solche Dinge. Aber die Wahrheit ist, dass ich nur eine Schneiderin aus Bagheria bin und dass Ihr die Toten mit ihren griesgrämigen Visagen viel besser kennt als ich. Alles ist vorbestimmt, Don Barnaba. Die Zeit ist ein Gebilde, kein Fluss. Alles ist schon gewesen, und alles wird noch geschehen. Geschichten werden erzählt, darauf läuft alles hinaus. Aber Vergangenheit und Zukunft existieren nicht, findet Euch damit ab. Wir leben, wir sterben, und dann werden wir wiedergeboren und leben das gleiche Leben noch einmal und immer so weiter. Ihr seid nur unglücklich, weil Ihr Euch nicht an Eure Zukunft erinnert, aber es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Denkt nur an das Eichhörnchen.«
»Eichhörnchen?«
»Vergesst es. Wie gesagt, ich will keinen Ärger, also geht bitte, geht! Kschsch!«
Ungehalten wedelt sie ihn hinaus.
Barnaba ist es leid. Die Launen des Schicksals ist er leid, die Einsamkeit, die miesen Geschäfte und am meisten sich selbst. Und weil er keine bessere Idee hat und weil man selbst die Worte einer Scharlatanin aus Bagheria irgendwie deuten kann, beschließt mein Urgroßvater mit neununddreißig Jahren, Amerika eine Chance zu geben.
Mit einem jungen Dolmetscher namens Martino Lombardo, den ihm die Handelskammer empfohlen hat, schifft sich Barnaba in Lissabon ein, übersteht zwei stürmische Wochen auf See und landet in Tampa, Florida, wo schon die spanischen Eroberer Orangenbäume am St. Johns River gepflanzt haben.
Das mediterrane Klima und der sandige Boden sind ideal für Zitrusfrüchte, und der Markt boomt. Florida erzeugt zehn Millionen Kisten Orangen jährlich, und immer noch gibt es Land zu erwerben. Der größte Teil der Früchte wird als Saftkonzentrat in den Vereinigten Staaten verkauft. Ein Exportgeschäft existiert praktisch nicht. Barnaba kann die Zahlen bereits schmecken.
Um nicht wie ein italienischer Emigrant zu erscheinen, mietet er sich im besten Haus am Platz ein, dem Tampa Bay Hotel. Eine groteske Fantasie eines Eisenbahnmagnaten mit silberglänzenden Minaretttürmen, eine Mischung aus einem osmanischen Palast, dem Kreml und Schloss Neuschwanstein, ausstaffiert mit teurem Kitsch aus aller Welt. Der Name des Hotels ist eine Lüge, denn es liegt weit abseits der Bucht, am Ende einer eingleisigen Eisenbahnstrecke des Magnaten, damit die prominenten Herrschaften aus Amerika und Europa nur wenige Meter durch die schwülheiße Luft bis zur ersten eisgekühlten Limonade gehen müssen. Alle Zimmer haben elektrisches Licht, Telefon und eigene Bäder, sie kosten zehn Dollar pro Nacht, fast sechzig Lire, das Fünffache einer üblichen Hotelübernachtung. Dennoch nimmt Barnaba eines für sich und eines für Martino Lombardo. Er trägt weiße Leinenanzüge und einen Strohhut, er diniert mit dem jungen Winston Churchill, Sarah Bernhardt, dem Prince of Wales und Babe Ruth, der auf dem anliegenden Sportplatz den längsten home run der Baseballgeschichte schlägt. Das Spiel findet Barnaba langweilig, das Essen im Hotel scheußlich.
Im Tampa Bay Hotel kommt Barnaba sich vor wie unter den Fremden in Taormina damals. Als ob er endlich durch die feine Membran auf die Seite des Reichtums getreten sei, genau wie er es sich als Kind erträumt hat. Doch es fühlt sich wie eine Lüge an, genauso wie das Tampa Bay Hotel.
Mein Urgroßvater hat viertausend Dollar in bar dabei, ausreichend Visitenkarten und eine Auswahl seiner Orangenpapierchen. Er ist unerschütterlich zuversichtlich, dass dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten einen Unternehmer wie ihn mit offenen Armen empfangen werde. Leider erweist sich Martino Lombardo als völlige Niete. Sein Englisch reicht kaum für eine simple Konversation, den amerikanischen slang versteht er gar nicht. Die Termine mit den Behörden und Landbesitzern sind eine demütigende Quälerei, die Gesetzeslage ist offenbar komplexer als gedacht. Mit Martino Lombardo an der Seite kommt Barnaba sich wie ein Idiot vor. Wo auch immer die beiden elegant gekleideten Sizilianer vorstellig werden – niemand interessiert sich für seine Orangenpapiere. Alle interessieren sich nur für Geld. Alleine fünfhundert Dollar gehen für einen Anwalt mit einem Haifischgrinsen drauf.
Florida ist sumpfig, sandig und fruchtbar, es wimmelt von Leben. Das Land, wild und weit, es zerrt an seinen Nerven mit der Schwüle, den Moskitos, den apokalyptischen Gewittern und den Alligatoren, die wie Fürsten über den Hotelrasen schreiten. In den ersten zwei Wochen plagen Barnaba Kopfschmerzen bis zur Besinnungslosigkeit. Er ist ein Nachfahre von Nymphen und griechischen Piraten, er stammt aus einem alten Land, in dem unzählige Eroberer seit Jahrhunderten ihre Götter abladen. Aber dieses Land ist noch viel älter. Seit Anbeginn der Zeit lag es nur träumend da, bis junge, gierige Götter es weckten wie ein Schwarm Moskitos. Ihre Namen sind Geld, Elektrizität und Geschwindigkeit.
Die jungen Götter leben in den Salons des Tampa Bay Hotels von Pianomusik, kultivierten Gesprächen und gedämpftem Lachen. Nirgendwo liegt Staub. Aber wenn Barnaba die endlosen Zitrusplantagen besichtigt, wo nur Schwarze hacken, wässern und ernten, dann sieht er Heerscharen von traurigen Toten durch die Felder irren und kann sich denken, warum. Diese Plantagen sind größer als alles, was er bislang gesehen hat, schier unendlich fressen sie sich ins Land. Die dickbäuchigen amerikanischen padruni bewirtschaften sie nachlässig, auf Barnaba wirken die Bäume in einem jämmerlichen Zustand, grob gehackt, nachlässig gedüngt und völlig überbewässert. Die Qualität enttäuscht ihn, aber am Ende macht es die schiere Masse, und Amerika will Saft, immer mehr Saft.
An den kreolischen Garküchen in den Arbeitervierteln auf der anderen Seite des Flusses schmeckt es ihm allerdings endlich auch wieder. Da ist er unter seinesgleichen, unter braccianti, dort spürt er wieder das ruhige Schnaufen alter Götter, und seine Kopfschmerzen lassen nach. Er kommt zur Ruhe und verbringt immer mehr Zeit ohne Martino Lombardo bei den Schwarzen und Kreolen. Manchmal fühlt es sich an, als würde er aus seiner alten Realität herausrutschen und nie wieder zurückfinden.
Warum muss alles so kompliziert sein?, fragt er sich resigniert. Warum hänge ich in diesem Scheißland in diesem Scheißhotel fest, warum kann nicht mal eine Scheißsache glattgehen?
Frauen werden ihm angeboten, aber Barnaba winkt ab. Allerdings interessiert er sich für eine tätowierte alte Haitianerin mit einem riesigen weißen Alligator, die alle Sprachen der Welt spricht und die Zukunft kennt. Da er nichts Besseres zu tun hat, fragt er sie um Rat.
Der weiße Alligator neben ihr scheint zu schlafen, aber als Barnaba sich unbehaglich in einigem Abstand von ihm auf einen Stuhl setzt, öffnet er ein Auge, und Barnaba hört ihn murmeln: Vergangenheit wird, Zukunft war. Glück und Unglück sind eins. Geschichten müssen erzählt werden. Lerne von den Eichhörnchen.
Dann schließt er das Auge wieder, um weiterzuträumen. Ein bisschen verwundert es Barnaba, dass ein sprechender Alligator ihm das Gleiche sagt wie eine sizilianische Wahrsagerin. Andererseits hat er schon genug seltsame Dinge erlebt.
»Stell eine Frage«, erklärt ihm die Haitianerin in einem Italienisch, das wie Blätterrauschen klingt. »Aber sag sie mir nicht. Stell sie dir nur vor. Eine einfache Frage. Hast du sie?«
Und Barnaba denkt: Wer sind wir?
»Falsche Frage«, murmelt die Wahrsagerin. Träumerisch tätschelt sie den weißen Alligator. »Die Frage muss mit Ja oder Nein zu beantworten sein. Denk fester. Denk an nichts anderes, nur an diese eine Frage.«
Es sind jedoch so viele Fragen, die Barnaba durch den Kopf schwirren, er kriegt kaum eine zu fassen. Schließlich denkt er trotzig:
Findet mich das Glück?
»Macht einen Dollar.«
Der weiße Alligator blinzelt, und während sie den Schein in einer Rocktasche verschwinden lässt, sagt die Wahrsagerin: »Du solltest dich besser auf deine Arbeit konzentrieren.«
»Das ist die Antwort?«
Die Haitianerin nickt.
Wie immer bei Orakeln eine wenig befriedigende Antwort. Barnaba hatte zumindest etwas Rätselhaftes erwartet, stattdessen souffliert der weiße Alligator seiner Herrin deutsche Tugenden. Mürrisch kehrt er ins Tampa Bay Hotel zurück, wo Martino Lombardo auf seine Kosten das süße Leben genießt, Cocktails trinkt und mit einer englischen Witwe anbandelt. Als Barnaba ihn zurechtweist, stiehlt sich Martino Lombardo mit weiteren fünfhundert Dollar, die für den windigen Anwalt bestimmt waren, davon, um sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten als Gigolo selbstständig zu machen. Weit kommt er allerdings nicht, noch auf dem Grundstück des Hotels wird er von einem Alligator angefallen. Man hört zwar seine Schreie, aber außer seinem Boater und einigen Dollarnoten in der Nähe des Flusses gibt es keine Spur mehr von Martino Lombardo.
Barnaba steht nun ohne Dolmetscher da, in diesem wilden Gewitterland, und seine Barmittel schwinden schneller als das Tageslicht. Viel Land wird er für die restlichen zweieinhalbtausend Dollar abzüglich seiner Spesen kaum noch kriegen. Die Hotelleitung bittet Barnaba bereits, seine Rechnung zu begleichen, da sie um seine Zahlungsfähigkeit fürchtet.
Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Denn das Schlimmste ist das Heimweh. Ein schreckliches, namenloses Heimweh, das Barnaba zusammen mit der Einsamkeit beutelt und würgt. Trübselig wandert er durch die dampfende Luft der überladenen Salons des Tampa Bay Hotels. Wie durch sein großes Haus in Catania oder noch früher durch den Palazzo Manganelli. Mit dem Unterschied, dass die traurigen Gespenster, denen er hier begegnet, Ureinwohner des sumpfigen Landes sind, deren Stamm man beim Bau des Hotels massakriert hatte.
Und als er so bedrückt durch das quecksilberne Licht und den Kitsch des Tampa Bay Hotels wandert, entdeckt er das Bild. Es hängt in der Ecke eines Salons zwischen einem Piano und einer Vitrine mit Nippes, und es fällt ihm auch nur auf, weil eine traurige tote Ureinwohnerin es betrachtet. Es ist ein altes Foto. Es zeigt den zehnjährigen Barnaba als zornigen Polyphem. Genau das Foto, das er bei Zia Melina zurückgelassen hat. Und in diesem Moment, als Barnaba das Foto wiedersieht, das irgendwie durch einen Spalt zwischen Raum und Zeit gerutscht und auf geheimnisvollen Wegen nach Florida gelangt ist, bekommt sein Heimweh einen Namen: München.