12 Ich erinnere mich, dass ich den Rest dieser Nacht hindurch abwechselnd schlief und wach lag und mir diese kurze Zeitspanne irgendwie unendlich lang erschien. Nachdem Nancy das Zimmer verlassen hatte, war ich wieder aufgestanden und hatte die Vorhänge aufgezogen. Ich sah, dass der Himmel von einem matten Pflaumenblau war, wie er angeblich immer über einer Stadt steht, die nicht schlafen darf. Es war merkwürdig, denn als ich unterwegs war, hatte ich nur Schwärze bemerkt. Mehrmals wachte ich auf und sah wieder diesen unbehaglichen, ja bedrohlichen Lichtschein, der freilich mit der Zeit dunkler und härter wurde, bis er kurz vor dem Morgengrauen in eine farblose Fahlheit überging.
Immer, wenn ich wach wurde, fühlte ich mich rein und voller Vorfreude wie ein Kind, streckte Arme und Beine voller Behagen, bis mir wieder einfiel, wo ich war und wie ich dahin gekommen war. Das Unbewusste funktionierte in mir anscheinend sehr merkwürdig. Aus tiefem ungetrübten Schlaf tauchte ich immer wieder auf – vielleicht war nur eine Viertelstunde vergangen –, in einen Zustand totaler Regression, als wäre ich, liebevoll umsorgt, in den Ferien, und vor mir läge ein Tag voller Überraschungen und Freuden. Ich finde, dass dies einer der übelsten Streiche ist, die wir uns selbst spielen: diese Unfähigkeit, uns freizumachen von der frühen, kindlichen Erwartungshaltung. Diese kindliche Schicht meines Ichs war, wie es schien, vollkommen intakt geblieben, intakt unter den Schichten von Erfahrungen, die sich wie vulkanische Asche darüber gelagert hatten und die durch das Aufwachen, diesen ungeheuren Wurf nach oben ins Licht, aufgewirbelt wurden, nur um sich nach dieser übermenschlichen Anstrengung wieder am alten Platz niederzulassen. Und jedes Mal wieder fühlte ich mich eine Sekunde lang klein und spindeldürr, und ich hätte schwören können, dass auf meinem Gesicht ein Lächeln lag, das Lächeln eines Kindes, das genau weiß, dass gleich das Kindermädchen kommt, um es für den neuen Tag fertigzumachen.
Das Lächeln schwand rasch und mit ihm alle Hoffnung, aber ich war noch nicht bereit, mich mit meiner Situation auseinanderzusetzen, und ich drehte mich einfach auf die andere Seite und zwang mich dazu, weiterzuschlafen. Der Schlaf war von dichter, dicker, verschlingender Art, und ich war gierig danach wie nach einer fetten, schweren Speise. Einmal konnte ich sogar mein Gesicht erkennen. Ich hatte die Augen fest geschlossen, und mit vollem Munde suchte ich schnüffelnd nach Art der Schweine nach etwas wie dem totalen Vergessen. Merkwürdigerweise waren beide Stadien, das des Schlafs und das der trügerischen Kindlichkeit beim Erwachen, nicht unangenehm. Und der Umstand, dass sie so regelmäßig und so häufig wechselten, ließ mich glauben, dass ich nicht nur ausgeruht genug, sondern auch auf die vor mir liegende Aufgabe eingestellt war.
Ich erwachte, endgültig und ungern, ungefähr um acht Uhr. Es war ein trüber, dunkler Morgen, und dank der Lage des Zimmers – es war ja das Schlafzimmer meiner Mutter – vernahm ich keines der mir vertrauten Geräusche von der Straße her. Stattdessen hörte ich Nancy schlurfend über den Korridor gehen, und ich hörte, wie die Wohnungstür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ich richtete mich im Bett auf, und sogleich wurden meine Arme und Beine, die noch während der Nacht ohne Gewicht gewesen waren, wieder steif von der Überanstrengung. Die Fußgelenke taten weh, und meine Handgelenke kamen mir, wenn ich sie so vor mich hielt, dünner vor. In einigen Momenten nüchterner Überlegung hatte ich gemeint, ich könnte den Vormittag im Bett verbringen, denn ich hatte keine Arbeit zu verrichten, und es gab überhaupt nichts, weswegen ich hätte aufstehen müssen. Die Geschenke waren sämtlich eingepackt, und ich hatte schon am Wochenende Nancy bei ihren Einkäufen geholfen. Ich hatte also nichts zu tun. Und doch drängte es mich aufzustehen. Ich empfand einen merkwürdigen Ekel vor meinem unbekleideten Körper, so als sei meine Nacktheit ein Vergehen. Darum erfüllte mich der Anblick meines Körpers, als ich mein Nachthemd auszog, mit Scham; denn so wie ich ihn sah, flach, reizlos und gedemütigt, fehlten ihm alle Eigenschaften des Erwachsenen. Ich überlegte mir, ob mich dieses Gefühl je verlassen würde, oder ob ich dazu verdammt sein würde, mich für den Rest meines Lebens so zu sehen.
Ich nahm ein Bad und kleidete mich sehr sorgfältig an. Ich wählte heitere Sachen aus, meine wollene blaue Hemdbluse und den blauen Pullover. Ich widmete meiner äußeren Erscheinung große Aufmerksamkeit und auch meinem Wohlbefinden. So erhob ich keine Einwände, als Nancy darauf bestand, mir zwei Eier zum Frühstück zu kochen, und ohne Widerspruch saß ich am Küchentisch, während sie sich um mich zu schaffen machte. Ich aß ein paar Toastscheiben und trank zwei Tassen Tee und kaute sehr sorgfältig, als müsste ich jetzt eine Art Training beginnen und meine körperlichen Kräfte für die vor mir liegende Aufgabe stählen. Nancy war über meinen Appetit hocherfreut und schalt mich, weil ich so dünn geworden sei. Ich selbst hatte es erst an diesem Morgen bemerkt, doch jetzt, da sie es erwähnte, fühlte ich plötzlich meine eckigen Schulterblätter und bemerkte, dass mein Rock ein wenig locker in der Taille war. Aber es machte mir nichts. Ich fand es richtig für mich, dass ich an Gewicht abnahm und meine biologischen Merkmale verlor. In Zukunft würde ich ganz in meinen Kopf und meine Hand eingehen, in meine schreibende Hand.
Die Frage war, wie ich den Rest des Tages ausfüllen sollte, denn als ich mein Bett gemacht und das Zimmer aufgeräumt hatte, war es nicht später als halb zehn. Ich dachte, ich könnte vielleicht gleich drauflosschreiben, aber dann saß ich im Sessel meiner Mutter, mit müßigen Händen, indes der Tag, lichtlos und trübe, ohne mich seinen Weg nahm. Weit entfernt, der überlegene Satiriker zu sein, wie ich es mir vorgestellt und als Ziel gesetzt hatte, fand ich mich nun in die Kindheit zurückversetzt, zurück zu jenen gleichgültigen Winternachmittagen, wenn ich stillsitzen musste, weil meine Mutter ruhte. Ich vermisste die Arbeit in der Bibliothek, und ich begriff, was mein Leben sein würde, wenn ich keinen Arbeitsplatz hätte. Doch dann rief ich mir in Erinnerung, dass ich meine Arbeit mit mir herumtrug, und mit einer großen Anstrengung erhob ich mich und suchte mir ein Heft und einen Stift. Damit setzte ich mich wieder, um mir Notizen zu meinem Roman zu machen, zu einem Roman, dessen Gestalten für mich so große Wirklichkeit besaßen und mir so nahe waren. Doch als mich Nancy zum Mittagessen rief, saß ich noch immer da, am selben Platz, und hatte nichts von irgendwelcher Bedeutung geschrieben.
Nancy hatte Fisch gekocht, man roch es auf dem Korridor: ein schwerer, träger, penetranter Geruch. Ich roch ihn in den Vorhängen, in meinem Haar; er machte mir einen trockenen Mund. Nancy musste wohl bemerkt haben, in was für einem seltsamen Zustand ich mich befand – ein Zustand, der eigentlich die Aufhebung aller normalen Zustände war –, denn sie fragte mich, ob mir nichts fehle. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Man braucht nur ein bisschen Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass man nicht zur Arbeit geht. Ich glaube, es ist beinahe anstrengender, zu Hause zu bleiben.« Bei dieser Bemerkung musste ich ein Gähnen unterdrücken. Aber sie hatte es doch bemerkt und ebenso, dass ich meine Portion nicht aufessen konnte. »Am besten, Sie ruhen sich jetzt aus«, meinte sie. »Legen Sie sich für eine Stunde ins Bett. Sie können ja ein Buch mitnehmen«, fügte sie hinzu, als wäre ich wieder das kleine Mädchen.
Und so zog ich mich wieder, mit dem Gefühl der Unvermeidlichkeit, aus und ging ins Bett. Nicht, dass ich erwartete, schlafen zu können, oder es auch nur wünschte, eigentlich nur, um die beste Stellung einzunehmen, wenn man nachdenken und mit sich zu Rate gehen will. Ich setzte mich aufrecht und saß wie eine Schiffbrüchige auf einem großen Floß, und in dieser Stellung muss ich, ohne mich zu bewegen, über eine Stunde verharrt haben. Ungeachtet meiner guten Vorsätze konnte ich mich nicht einer lethargischen Stimmung erwehren, die der Trauer sehr nahe kam. Was mich am meisten beunruhigte, war der Umstand, dass ich überhaupt keinen Zorn empfand, denn ohne Zorn keine Satire. Stattdessen empfand ich Müdigkeit und eine Verständnisbereitschaft, die sich sogar bis auf die Gefährten der vergangenen Nacht erstreckte. Ich fühlte instinktiv – und vielleicht lag das nur an meiner großen Erschöpfung, aber das bezweifle ich –, dass diese Menschen ohne alle Schuld waren, abgesehen von ihrer Gier; dass sie, Kindern oder Tieren ähnlich, sich einfach nahmen, was sie begehrten. Und dass dies das allgemeine Gesetz war. Im Licht meines tristen Tages sah ich ihre Gesichter wieder vor mir, diese durchtriebenen, erhitzten Gesichter mit den verstohlenen Seitenblicken, wie um zu sehen, ob ihnen jemand auf die Schliche kommt … Ich sah sie vor mir, wie sie zügellos aßen, sich die beschmierten Münder mit süßer Speise füllten. Wie sie ihre Party, ihre Feier genossen und zu schick gekleidet waren und zu laut lachten. Ich sah, dass es Kinder waren, fast wie ich im Schlaf oder im Augenblick des Erwachens, und dass auch sie unvermeidlich einmal diese kurzfristige Verzweiflung erleben würden, die das erwachsen gewordene Kind heimsucht, das Kind ohne Eltern und ohne elterliche Freunde. Dass sie plötzlich stutzen würden, erst bestürzt, dann ärgerlich, bis der Ärger in Verlegenheit übergehen würde. Dann würde ihnen all ihr hochmütiges Gehabe so wenig nützen, wie mir meine scharfe Zunge nützte. Der einzige Unterschied bestünde darin, dass sie sich gegenseitig trösten würden, denn sie waren groß in lauter Klage und lautem Protest. Während ich einfach hier saß und nicht wusste, wie ich es überstehen sollte, aber doch, mit Stift und Schreibheft, daran arbeitete.
Ich konnte nicht einmal gegen sie Partei ergreifen. Ich gehörte nur nicht zu ihnen, das war alles. Sobald ich mir diesen Unterschied bewusst gemacht hatte, stürzte ich in tiefste Traurigkeit. Alle meine vorgegebenen Gewissheiten fielen von mir ab, als wären es modische Kleidungsstücke, die ich vielleicht in irgendeinem Laden anprobiert und dann mit Bedauern beiseite gelegt hatte als … nun, nicht passend für mich. Sehnsüchtig, ja mit einer gewissen Rührung dachte ich an die Zeiten unseres Zusammenseins zurück, an das Lachen, das echt gewesen war, an die gewaltige Faszination, die ihr egoistischer Hedonismus auf mich ausgeübt hatte, an die Neugier und Aufmerksamkeit, mit der ich sie beobachtet hatte. Zuerst dachte ich dabei unwillkürlich an Nick und Alix und erinnerte mich dankbar, wie sie mich vor so manchem Sackbahnhof des Lebens bewahrt hatten – dem Alter, dem Schweigen, der Einsamkeit –, und wie ich auf ihr Wort gehorcht hatte, so als hätte ich ein Leben lang darauf gewartet. Ich dachte daran, wie sie mich in den wahren, den lebenbewahrenden Egoismus eingeführt hatten, und wie ich mich unter ihrer Anleitung von trübseligen Existenzen distanziert hatte, denen ich doch keine Freude schenken und nichts weiter als meine Gegenwart und Ratlosigkeit bieten konnte. Ich erinnerte mich an die Abende und wie ich durch den Park gelaufen war in der sicheren Erwartung des Vergnügens, das ich am Ende meines Weges haben würde. Ich dachte an den Tag, an dem wir mit dem Auto nach Bray gefahren waren, und ich erinnerte mich an die Fotografie. Ich meinte, das Geräusch der letzten Blätter zu hören, die leise auf den Rasen fielen, als wir in der wohltuend wärmenden Sonne saßen, in dieser fast nicht mehr erwarteten Wärme, wo uns nur die leichte Kälte, die sich vom Fluss heraufschlich, sagte, dass es Winter und nicht Frühling war.
Mein Erinnern war von der Art, die man kennt: dass das Wetter damals immer schöner, die Farben lebhafter, die Begierden heftiger und unsere Kräfte unerschöpflich gewesen waren. Ich blickte auf den Herbst und die guten Dinge, die er mir geschenkt hatte, wie aus großer Entfernung zurück; ich sah mich, wie ich in meinem hübschen cremefarbenen Kostüm die Sloane Street hinunterging, und ich dachte, als ich mich so in der Erinnerung sah, wie lebhaft und elegant ich doch wirkte. Das brachte mich zurück in die Gegenwart, wie ich da um zwei Uhr mittags im Bett lag, hager, irgendwie auf der Hut, weder sehr jung noch sehr alt, aber ein geistiges Wesen, das dazu bestimmt war, älter zu werden in einem Körper, der dazu bestimmt war, immer kindlicher zu erscheinen. Das biedere Glück dieser Herbsttage war gefroren zu einer unaufhörlichen argwöhnischen Vorsicht.
Und selbst jetzt noch hoffte ich, sie wiederzusehen. Ich entbehrte sie und alles, was sie mir an Neuem beigebracht hatten, zu sehr, um sie völlig aufzugeben. Ich brauchte ihre Gesellschaft, ihre Vergnügungen, auch wenn ich nicht zu ihnen gehörte. Ich musste sie studieren, ich brauchte sie als Material. Und wenn ich je den Mut finden sollte zu einem letzten Versuch, dann musste ich wieder den Kontakt zu ihnen aufnehmen. Ich musste sie an Weihnachten beobachten, musste ihre gierigen Hände beobachten, ihre unfehlbaren Gelüste. Ich brauchte ihre Lasterhaftigkeit, auf die ich mich immer verlassen konnte. Und ich brauchte ihre Lebenslust, die so passend für die Weihnachtszeit war, wenn die Augen aufleuchten vor Begehrlichkeit und Unmäßigkeit, wenn die Gelüste immer größer werden und nie Befriedigung finden, wenn die Liebe auch den Beobachter beim Fest mit einschließt. Ich wollte einfach Weihnachten mit ihnen feiern, mit diesen Lords of Misrule* in Lärm und Hitze feiern, zwischen Tellern voller abgenagter Knochen und Puddingruinen, an einem Tisch, überhäuft von bunt glänzendem Papier und leeren Geschenkverpackungen, indes die Luft blau ist vom Rauch gewaltiger Zigarren und träge Hände nach Nüssen, kandierten Früchten und Marzipan tasten. Das war kein kirchliches Weihnachten. Aber wie viel begehrenswerter als mein makelloser Haushalt mit dem Geruch nach totem Fisch, der dumpfen, staubigen Wärme und dem Schlurfen pantoffelbewehrter Füße vor meiner Tür.
* Historisch. U. a. in den Colleges der Universitäten und den Rechtsschulen in London (Inns of Court) ernannter Aufseher und Anführer für die meist lärmenden Weihnachtsfestlichkeiten. A. d. Ü.
Wenn ich an James dachte – und ich gab mir Mühe, es nicht zu tun, empfand ich so etwas wie Angst. Denn jetzt war mir klar geworden, dass er für andere zugänglich war, aber nicht für mich. Was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, machte es mir unmöglich, diesen Beweis wieder aus meinen Gedanken zu verdrängen. Denn sobald man etwas weiß, kann man es nicht mehr nicht wissen. Allenfalls kann man es vergessen. Und selbst wenn ich es vergäße, was unwahrscheinlich ist, so würde er es nicht vergessen oder, besser gesagt, er würde in irgendeiner Ecke seines Bewusstseins ein Warnsignal hören, das ihn an meinen beobachtenden Blick und meine schreibende Hand erinnert, und sogleich würde er sich von mir fernhalten. Ich glaubte, dass eher ich als er das zustande gebracht hatte, und meine Verzweiflung war ungeheuer groß. Denn jetzt, als ich wusste, dass ich ihn liebte, war es sein ganzes Leben, das ich liebte. Und dieses Leben würde ich nie kennenlernen. Natürlich würde es in seinem Leben Veränderungen geben, aber ich konnte nicht einmal wissen, worin sie bestanden. »Wie geht es ihm«, würde ich gerne fragen, aber niemand würde da sein, den ich fragen konnte. Wenn ich ihm auf dem Korridor des Instituts oder im Bibliothekssaal begegnen sollte, würde ich lächeln müssen wie die Fremde, die er in mir zu sehen wünscht. Und wenn ich ihm einen Gefallen tun wollte, brauchte ich ihm nur fernzubleiben. Und sein Leben, sein Leben … das würde ohne mich weitergehen. Und ich würde nichts davon erfahren. Und da ich ihn augenscheinlich so wenig verstanden hatte, konnte ich ihm nicht einmal Vorwürfe machen. Sie sehen es selbst, ich fasse alles falsch an.
Diese Schlussfolgerung schürte meine Unruhe. Von neuem fragte ich mich, ob der Fehler nicht wiedergutzumachen sei. Mit Schrecken dachte ich an die kommenden Tage und Nächte, an die vor mir liegenden Jahre, in denen sich vielleicht nichts änderte, und ich wäre so alt wie Nancy und lebte so zurückgezogen wie sie. Ich glaube, dass ich in diesem Augenblick beschloss, mir ein Herz zu fassen und gegen dieses Schicksal anzukämpfen – zu telefonieren und ihnen zu sagen, dass es mir gut ginge und ich mich darauf freute, sie wiederzusehen. Und zwar zu ihren Bedingungen, wie sich versteht. Aber es erübrigte sich gewiss, dies eigens zu betonen; die Botschaft würde ohnehin vollkommen klar sein. Und wenn ich sehr aufpasste und meine Blicke zügelte und aus meiner Miene Zweifel oder Vorwürfe verbannte, würden sie mich vielleicht wieder aufnehmen. Natürlich wäre mein Status nun nicht mehr derselbe. Ich würde bescheidener sein müssen, mich mehr unterordnen. Das war der Preis, den ich zu entrichten hatte. Und ich würde ihn zahlen. Aber wenn ich nun gleichzeitig Notizen für einen satirischen Roman machte…? Wenn sie ihr Schicksal aus meinen Händen annehmen mussten, und das, ohne etwas davon zu ahnen, wäre das dann nicht eine vollkommen folgerichtige Entwicklung?
Dieser Gedanke erregte mich und setzte meinen Grübeleien ein Ende. Schon konnte ich fühlen, wie ein aggressiver Scharfsinn in mir die Oberhand gewann, und ich schloss mein inneres Auge, das, wie ich meine zu Unrecht, das Glück der Einsamkeit genannt wird, und öffnete stattdessen wieder meine äußeren Augen und richtete den Blick wieder auf die weißen Schränke mit den Schiebetüren und den in Gold abgesetzten Kanten, auf die austernfarbenen Atlasvorhänge, auf die flaumigen weißen Bettvorleger, die Bücherstützen aus Rosenquarz in Gestalt von Elefanten, den rosa opalisierenden Dufttopf auf der Frisierkommode, die silbern gefassten Bürsten und die kleine flache Kristallschale mit dem samtenen rosa Nadelkissen und der Maniküregarnitur mit Elfenbeingriffen. Ich glaube, heute sind diese Dinge ziemlich viel wert; ich muss sie einmal schätzen lassen. Ich schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in meine Kleider, die lustige blaue Bluse mit dazugehörigem Pullover und den blauen Wollrock. Ich setzte mich vor den Frisierspiegel und bürstete mir das Haar, und als ich mich im Spiegel musterte, beglückwünschte ich mich zu meiner Beherrschtheit. Ich sah keine Gespenster. Hinter meinem Spiegelbild erblickte ich einen gerahmten Farbstich an der gegenüberliegenden Wand. Er zeigte eine Schlittschuhläuferszene aus dem achtzehnten Jahrhundert, puppenähnliche Gestalten mit Muff und weiten Röcken oder mit Dreispitz und in eng anliegenden seidenen Kniehosen. Als Kind hatte ich dieses Bild geliebt, doch konnte ich damals die Unterschrift nicht lesen. Heute erschienen mir die Worte merkwürdig gut passend. Sie lauteten: »Glissez, mortels; n’appuyez pas!« – »Gleitet dahin, Sterbliche; bleibt nicht stehen!« Natürlich eine Anspielung darauf, wie dünn das Eis ist. Ich sah darin ein gutes Omen und beschloss, mich in einer entsprechend zwanglos eleganten Manier zu bewegen.
Ich hatte Hunger und Durst bekommen, der Lebensmotor lief wieder. Ich stand auf und musterte mich, und ich sah, wie die Maske der Belustigung wieder an ihrem Platz war, wie mein körperliches Ich wieder adrett und gesammelt war, ausgeglichen und bereit zu handeln. Ich machte mein Bett, öffnete das Fenster und ging zu der farbigen Radierung hinüber. Ich gab dem Bild einen kleinen beifälligen Stups. Die puppenähnlichen Gesichter, in ewiger Jugend konserviert, bar jeden Ausdrucks und Gefühls, erwiderten starr meinen Blick. Sie erinnerten mich daran, dass auch ich jung war und nicht ganz mittellos. Ich schloss die Tür hinter mir und ging in die Küche auf der Suche nach Tee.
Ich fand Nancy, wie sie sich mit einer Vielzahl von Dosen zu schaffen machte, runden, quadratischen, rechteckigen und vieleckigen Dosen, denen sie mancherlei Kuchen und Kekse entnahm. Sie backt derlei ständig, aber ich kann mir nicht vorstellen, wer sie alle isst. Ich glaube, sie liebt Süßigkeiten, und wie die meisten alten Leute knabbert sie lieber an etwas Leichtem, als dass sie eine richtige Mahlzeit zu sich nähme. Es war sehr warm in der Küche, und ich stellte fest, dass Nancy ungefähr zwei Dutzend mince pies gemacht hatte. Der gute Geruch schwebte noch in der Luft, und da sie zum Abkühlen auf ein Kuchengitter gelegt worden waren, sah ich dort, wo die Füllung durch den Pastetenteig gedrungen war, den verlockenden Schimmer. Ich muss gestehen, dass Nancy keine sehr gute Bäckerin ist und ihre Kuchen gewöhnlich etwas zu schwer geraten; hinzu kommt, dass dermaßen viele Früchte darin sind, dass sie ewig reichen. Ich kann mir nicht vorstellen, was am Ende mit ihnen geschieht. Zu den sympathischen Zügen von James gehörte (doch, ich brachte es fertig, ganz ruhig an ihn zu denken), dass er stets die kleinen runden Kuchen und die Kekse, die Nancy für uns auf das Tablett gestellt hatte, aufaß. Was Nancy natürlich nur dazu anreizte, noch mehr zu backen.
Sie schien eine kleine Party vorzubereiten, und als ich sie fragte, ob sie jemanden erwarte, antwortete sie: »Ich nehme an, dass Mr. Reardon hereinschauen wird.« Natürlich war ich nachmittags nie zu Hause, und so konnte ich nicht wissen, dass Nancy all ihr Backwerk auf Mr. Reardon ablud, der wohl immer noch mit der Abendzeitung heraufkam, bevor er ins Wettbüro ging, um dort seine Gewinne zu kassieren. Ich hatte eigentlich nur rasch eine Tasse Tee trinken und dann wieder in mein Zimmer gehen wollen, um ein bisschen zu schreiben. Aber nun kam mir dies hier durchaus gelegen, denn irgendwann musste es zum Austausch weihnachtlicher Artigkeiten kommen, und ich brachte das ebenso gern bei der sich nächstbietenden Gelegenheit hinter mich.
Mr. Reardon war offensichtlich ein ausgezeichneter Kenner des süßen Gebäcks, denn ich zählte vier verschiedene Sorten auf dem Tisch, und alle sehr schwer. Die Türglocke läutete gerade, als Nancy den Tee einschenkte, und als ich aufstand, um die Tür zu öffnen, hoffte ich, dass dies einigermaßen schnell überstanden sein würde. Mr. Reardon ist ein reizender Mann und lebt in diesem Hause, solange ich denken kann. Er ist sehr klein, ruhig und korpulent und leidet, wie ich glaube, an hohem Blutdruck. Er trägt eine Art von blauer Uniform, die offensichtlich aus früherer Zeit stammt, denn sie ist ihm heute viel zu eng. Sie scheint seinen gedrungenen Körper zusammenzupressen und ihm das Blut in den Kopf zu treiben, denn er bewegt den Nacken nur mit Vorsicht, und seine kleinen stachelbeerfarbenen Augen sind anscheinend von der Mühe, offen zu bleiben, blutunterlaufen. Er hat das Pensionsalter längst erreicht, ist aber immer noch da, weil ihm die Arbeit Freude macht und weil er stolz auf das Haus und seine Bewohner ist; die Herren von der Verwaltung sind natürlich sehr froh darüber.
Wahrscheinlich wegen seines Alters und wegen seines hohen Blutdrucks kann Mr. Reardon nicht mehr die schwere Arbeit leisten wie zum Beispiel das Hochheben der Mülltonnen. Dafür hat er einen Gehilfen, einen etwas merkwürdigen jungen Mann, den mein Vater immer nur den Jungen genannt hatte; jetzt ist er natürlich viel älter und als Mr. Fentiman anzusprechen. Auch bei ihm ist nicht alles ganz in Ordnung, aber ich glaube, dass Mr. Reardon ihn unter Kontrolle hat. Mr. Fentiman spricht mit sich selbst, und zwar in einem drohenden Ton, und zuweilen macht er auch drohende Gebärden mit den Armen. Sein Äußeres ist nicht gerade Vertrauen erweckend, denn er trägt die Mütze ziemlich tief in die Stirn gezogen, und an seiner Jacke, einer Art Blouson, hat er den Kragen ständig hoch gestellt, sodass sein Gesicht aussieht, als luge es hinter einem MG-Stand hervor. Er rasiert sich nur einmal in der Woche und hat ständig eine Zigarette zwischen den Lippen; er nimmt sie nie aus dem Mund, und wenn man mit ihm spricht, während er gerade hustet, bekommt man die ganze Asche ins Gesicht.
Mein Mut sank, als ich sah, dass Mr. Reardon Mr. Fentiman mitgebracht hatte, samt Zigarette und allem Zubehör, und ich stellte mich darauf ein, die Teegesellschaft über mich ergehen zu lassen. Nancy war entzückt, und sobald wir alle aßen, wurde mir klar, dass dies jeden Nachmittag so vor sich ging und dass der Eindringling ich war. Aber alle waren besonders nett zu mir und nötigten mich zum Essen, und ich saß da und beobachtete fasziniert, während ich mit ein paar Krümeln spielte, wie Mr. Reardon seinen Teller füllte und leerte und unter den strahlenden Blicken Nancys eine Tasse Tee nach der anderen trank. Einmal versuchte Mr. Fentiman, dessen Mütze fest an ihrem Platz saß, eine einigermaßen unzusammenhängende Geschichte von einem Mann zu erzählen, der sich in eine der Garagen geschlichen hatte, aber Mr. Reardon, der gerade seine dritte Tasse Tee entgegennahm und sich mit dem Finger rund um den Kragen fuhr, unterbrach ihn: »Genug davon, Arthur, wir dürfen die Damen nicht aufregen.« Dann bat er um die Erlaubnis zu rauchen, und als ich aufstand, um einen Aschenbecher zu holen (den aus grünem Malachit mit dem Kakadu auf dem Rand), nutzte ich die Gelegenheit, die für die beiden vorbereiteten Umschläge vom Schreibtisch zu nehmen, und legte sie, als ich zurückkam, neben ihre Teller. Mr. Fentimans Teller war natürlich bereits voller Asche.
»Sehr freundlich von Ihnen, Miss«, sagte Mr. Reardon und gab Mr. Fentiman einen Wink, der darauf aufsprang, davoneilte und eine Minute später mit einer eingewickelten Flasche in der Hand zurückkam. »Ich war so frei«, erklärte Mr. Reardon, »eine kleine Aufmerksamkeit für Miss Mulvaney mitzubringen, die uns mit ihrer Gastlichkeit so verwöhnt. Ich war immer sehr glücklich hier«, sagte er schlicht und überreichte Nancy die Flasche. »Das hätten Sie nicht tun dürfen«, sagte Nancy, die immer verlegen wird, wenn sie etwas geschenkt bekommt, und sich wehrt, etwas anzunehmen. Aber ich ließ sie die Flasche auswickeln, und da klar war, dass die Gelegenheit nach dem gebührenden feierlichen Ernst verlangte, holte ich vier Gläser. »Ich möchte einen Toast ausbringen«, erklärte Mr. Reardon und hob sein Glas Kirschlikör. »Arthur, steh auf. Allen Menschen ein Wohlgefallen!« Er leerte sein Glas. »Bravo!«, sagte ich, da irgendjemand etwas sagen musste, und brachte es fertig, einen Schluck von diesem Kirschlikör hinunterzubringen, der unangenehm zähflüssig und viel zu kalt war. »Ich trinke mein Glas später«, sagte Nancy, wie sie es zu sagen pflegte, wenn ihr mein Vater am Sonntag ein Glas Sherry vor dem Mittagessen eingoss; sie war dann immer hin und her gerissen zwischen der Abscheu davor, den Sherry zu trinken, und ihrer Furcht, meinen Vater zu kränken. Ich sah ihr an, dass sie jetzt von dem gleichen Konflikt gepeinigt war. »Es wird Ihnen schmecken, Nan«, ermunterte ich sie. »Es ist süß.« Aber sie blieb dabei, ihr Glas lieber zum Abendbrot zu trinken, und stellte es hinter sich auf die Anrichte.
Mr. Reardon war jetzt in der Stimmung, in Erinnerungen zu schwelgen – eine Stimmung, vor der mir graute. Er hatte immer ein paar Worte über meinen Vater zu sagen, den er sehr bewundert hatte, und natürlich hatte er meine Mutter sehr gern gehabt. Ich sehe noch, wie er sich eine Träne aus den kleinen Stachelbeeraugen wischte, als er zu uns heraufkam, um sich, wie gewohnt, nach ihrem Befinden zu erkundigen, und ich ihm sagen musste, dass es zu spät war … Und seine kleinen, dicken, ein wenig nikotinverfärbten Finger, mit denen er zittrig ein Taschentuch mit buntem Rand entfaltete … Um dem zuvorzukommen, fragte ich ihn, wo er Weihnachten verbringen würde, und erfuhr, dass er seine verheiratete Tochter in Harrow besuchen wolle. »Aber am Abend bin ich wieder zurück«, versicherte er uns. »Ich lasse die Damen doch nicht den ganzen Tag über allein. Die meisten sind natürlich fort. Mrs. Hunt ist gestern weggefahren. Sogar Lady Cohen ist fort, aber ich weiß nicht, ob das, mit ihrem Bein, eine kluge Entscheidung war.« Wir alle nickten nachdenklich. In der Küche war es warm und dunstig geworden.
Ein verstohlener Blick auf die Uhr zeigte mir, dass der Zeiger langsam auf die Fünf rückte, und ich begann, ihnen wortlos den Aufbruch nahezulegen. Am Ende stand ich auf und sagte: »Mich müssen Sie jetzt entschuldigen, ich habe noch zu schreiben. Aber bitte, bleiben Sie beide!« Die Männer schoben die Stühle mit einem scharrenden Geräusch zurück und erhoben sich. »Ein frohes Fest, Miss«, sagte Mr. Reardon. »Ich weiß, Sie vermissen Ihre Lieben. Das ist nur natürlich. – Arthur«, bellte er, als er mich entschlossen sah zu gehen, »begleite Miss Fanny zur Tür. – Aber die Erinnerung an sie lebt in unseren Herzen«, fuhr er fort; der Kirschlikör war ihm offenbar in den Kopf gestiegen, und so hatten sich bei ihm unwillkürlich Erinnerungen an den Waffenstillstandstag eingeschlichen. »Wir werden sie nicht vergessen.« »Bravo!«, kam es wie ein Echo von Mr. Fentiman.
An der Tür drehte ich mich um und sah sie alle feierlich hinter dem Tisch stehen, den Blick mir zugewandt; auf ihren dem grellen Deckenlicht ausgesetzten Gesichtern lagen tiefe Schatten. Auf dem mit Kuchenkrümeln bestreuten Tisch standen die klebrigen Gläser, und diese kindlichen Attribute, Kuchenkrümel und klebrige Gläser, schienen schlecht zu den freudlosen Gesichtern zu passen. Nancy und Mr. Reardon hatten die kurzen, derben Hände vor sich auf den Tisch gestemmt und sahen aus, als posierten sie für eine letzte, eine Abschiedsaufnahme. Mr. Fentiman sah mit dem hoch gestellten Kragen und seiner Zigarette zwar gefährlich aus, aber auch wie jemand, der es überlebt hatte: nicht den Hunger oder politische Unterdrückung, sondern Entbehrungen von mehr alltäglicher Natur. In ihren Mienen war deutlich zu lesen, dass sie um mich besorgt waren, dass sie mich, obwohl ich doch von ihrem Standpunkt aus zu den Privilegierten gehörte, als gefährdet betrachteten.
Als ich die Tür hinter mir schloss, hatte ich das Gefühl, mich von Licht und Behaglichkeit auszuschließen. Ich ging in den Salon und schaltete die Lampen und das Kaminfeuer ein. Aber es kam mir irgendwie unpassend vor, dort nun ganz allein zu sitzen, und ich hatte auch etwas gegen die soziale Barriere, die mein Aufenthalt im Salon zwischen mir und den Leuten in der Küche aufrichtete. Nachdem ich ein paar Minuten nervös hin und her gelaufen war, schaltete ich Lampen und Kamin wieder aus und zog mich in das Schlafzimmer meiner Mutter zurück. Ich fand es ganz selbstverständlich, mich hier aufzuhalten, obwohl ich den Transport meiner Kleider von meinem Schlafzimmer in das meiner Mutter noch aufschob – eine Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühlte. Vielleicht konnte es Nancy für mich tun, dachte ich, während meine ursprüngliche Zuversicht ein wenig nachließ. Ich setzte mich in den rosa Samtsessel, und zum ersten Mal an diesem Tag wurde mir bewusst, dass ich Weihnachten vielleicht allein sein würde. Das aber brachte die quälenden Gedanken zurück, die mich schon vorher verfolgt hatten. Wie auf der Suche nach einem inneren Halt, stand ich auf, holte mir Notizbuch und Stift und setzte mich an den Tisch, fest entschlossen, etwas zu schreiben.
Und das tat ich. Ich machte Notizen für meinen Roman und fand, dass es sehr gut und sehr schnell vonstatten ging, auch dass die Figuren ganz selbstverständlich hervortraten und dass ich, ebenfalls ganz selbstverständlich, die rechten Worte zu ihrer Beschreibung fand. In der Tat strömten mir jetzt die Worte nur so zu, die mich zuvor im Stich gelassen hatten. Der Umstand, dass ich souverän über die Oberfläche dahinglitt, alles ins Komische zog und um das Lachen des Lesers warb, mochte etwas damit zu tun haben. Einmal musste ich selbst lachen. Es war wirklich alles ganz leicht. Es gelang mir, auf diese Weise ein paar Stunden zu vertreiben. Ich hörte nicht einmal, wie Nancys Gäste aufbrachen.
Aber dann, ich weiß nicht genau warum, hörte ich plötzlich auf. Es war, als ob mein kleiner Vorrat an amüsanten Einfällen erschöpft sei, und selbst das Bewusstsein, dass ich, wenn ich wollte, diese Arbeit meisterte und damit für die kommenden Tage und Monate eine mir angemessene Beschäftigung gefunden hatte – selbst das interessierte mich nicht. Ich stand auf und trat ans Fenster, konnte aber nichts sehen als mich selbst: mein Spiegelbild in der schwarzen Fensterscheibe. Ich dachte an meine verlorenen Hoffnungen, und was für ein Glück es doch war, sie so leicht in Satire umwandeln zu können. Jetzt würden die Feiertage so gut wie unbemerkt vorübergehen, weil ich ganz in meine Aufgabe vertieft sein würde. Wahrscheinlich vor Neujahr (nur noch eine Woche bis dahin) würde ich dann die Frasers anrufen, mit allen guten Wünschen, und sagen: »Übrigens, ich schreibe jetzt an diesem Roman, von dem ich euch immer erzählt habe. Er nimmt meine ganze Zeit in Anspruch. Aber einmal müssen wir wieder zusammen zu Abend essen. Es ist eine Ewigkeit her … Und wenn ihr James seht, dann wünscht ihm von mir ein glückliches neues Jahr!« Das, um den Schein zu wahren. Aber auch eine Investition. Denn ich musste wieder zurück zu ihnen und sie von neuem studieren. Ich musste sie noch einmal aus erster Hand kennenlernen.
Doch während ich ruhelos im Zimmer umherging, sagte ich mir plötzlich: »Es geht nicht.« Etwas war davon falsch, es passte nicht, es gab einen falschen Ton. In fast physischer Erschöpfung warf ich den Kopf von einer Seite auf die andere und überlegte, was daran falsch war. Allmählich beruhigte ich mich, denn es wurde mir klar, dass ich noch immer die Hoffnung hegte, einer von ihnen würde mich anrufen und zu ihrer Weihnachtsfeier einladen.
Selbstverständlich konnte es auch anders kommen. Denn sobald eine Sache erst einmal bekannt geworden ist, kann sie nicht wieder unbekannt werden. Allenfalls kann man sie vergessen. Aber sobald sie einem wieder ins Gedächtnis kommt, weist sie, die Zeit gewissermaßen überspringend, auch in unsere Zukunft. Jetzt mache ich mir klar, dass ich, die ich hier in diesem Zimmer sitze und die ich älter werde, allein und sehr traurig, dass ich in diesem Bewusstsein leben muss. Da mag heute Abend oder morgen das Telefon läuten: es spielt keine Rolle. Jemand hat an mich gedacht, wahrscheinlich Alix, die immer sehr freundlich zu mir gewesen war. »He«, wird sie sagen, »ist da unser kleines Waisenkind Fanny?« Und im alterletzten Moment werde ich dann zu ihrer Weihnachtsfeier eingeladen werden. Ich habe keine Ahnung, ob ich gehen soll oder nicht. In einem gewissen Sinne macht es keinen Unterschied, denn die Sache ist bereits im Voraus entschieden und erledigt worden. Sie ist schon durchlebt worden. Sie ist gewesen.
Nach diesem letzten Satz trat ich ans Bett und schaltete die Nachttischlampe an. Indem ich diese letzte Barriere zwischen mir und der Wahrheit aufhob, hieß ich die Bilder wieder willkommen, die mich einst bedrängt hatten. Das nachtschwarze Fenster sperrt mich ein und in ihm spiegelt sich Dr. Constantine, wie er sich über das Telefon beugt, mit seinen braunen Augen, die ratlos und ohne Ausdruck sind. Ich sehe Dr. Simek, wie er sich auf die Rückenlehne seines Sessels stützt, die Bernsteinzigarettenspitze zwischen den Zähnen. Und ich sehe Mrs. Halloran, zur Ruhe gekommen in ihrem Bett in South Kensington, die Flasche neben sich. Ich sehe auch Miss Morpeth, im Begriff, ihrer Nichte zu schreiben. Ich sehe mich selbst.
Nancy schlurft den Korridor hinunter; ich höre, wie sie die Haustür schließt. Jetzt ist alles ganz still. Eine Stimme sagt: »Fan, mein liebes Kind.« Ich nehme den Federhalter in die Hand. Ich beginne zu schreiben.