Nachwort
von Daniel Schreiber
Das Leben allein. Anita Brookners Erschütterungen
Seit Tagen schon merke ich, wie ich dem Schreiben dieses Nachworts ausweiche. Natürlich gibt es Gründe dafür, unter anderem einen Terminplan, der mir übermenschliche Kräfte abzuverlangen scheint. Doch wie so oft im Leben sind es nicht diese Gründe, die den Ausschlag geben. Schließlich geht es um Anita Brookner, eine Autorin, die ich wie wenige andere verehre, die Hürde liegt hoch. Das Geheimnis ihrer Romane und ihrer Wirkung auf mich kann ich bis heute nicht völlig durchdringen. Und es geht um Seht mich an, einen Roman, der mich, seit ich ihn vor ein paar Monaten gelesen habe, nachhaltig erschüttert. Die Lektüre glich einem kleinen Erdbeben, das bis heute seine Nachbeben in meinen Alltag schickt, Wellen, die vieles ins Wanken bringen.
In fast allen von Anita Brookners 24 Romanen, die zwischen 1981 und 2009 erschienen, steht eine Protagonistin im Mittelpunkt, deren Leben dem von Brookner selbst zu gleichen scheint: eine kluge, alleinstehende, meist wohlhabende Frau, die in London lebt, sich aber merkwürdig obdachlos fühlt. Häufig ist es eine Protagonistin, die unter Einsamkeit leidet und versucht, Anschluss an ein soziales Leben zu finden, das die meisten Menschen um sie herum ganz selbstverständlich führen, ihr aber aus unerfindlichen Gründen verwehrt bleibt. Eine Protagonistin, die sich im Nachhinein fragt, was sie hätte anders machen können, um dieses von außen so glücklich wirkende, alltägliche Leben zu erlangen, sich aber, wenn sie vor die Wahl gestellt wird, fast immer dagegen und für ihr Leben allein entscheidet. Eine Protagonistin, mit der ich mich wie viele andere Lesende, ohne es zu wollen, identifiziere, obwohl uns Welten trennen, Welten und Zeiten.
Vielleicht liegt ein Grund für diese intuitive Reaktion in der identifikatorischen Beziehung, die im Roman zwischen Francis, der Protagonistin, und Brookner selbst aufscheint und wenigstens zum Teil sowohl den kühlen Humor als auch den Schmerz des Textes, seine abgründige Wahrhaftigkeit ausmacht. Während Brookner selbst als Kunsthistorikerin am Courtauld Institute in London forschte und lehrte, arbeitet Frances in einer medizinischen Bibliothek, aber auch sie hat ein untrügliches Gespür für Bilder und ihre Wirkung und spricht darüber so mühelos und brillant wie Brookner selbst. Die Autorin und Frances teilen eine Familiengeschichte, stammen aus jüdisch geprägten Gegenden Londons, haben ihre kranke Mutter gepflegt und finden im Schreiben die Rettung, die einzige Möglichkeit, sich wirklich der Welt zu nähern und sie überhaupt erst zu ertragen. Man kann sich vorstellen, dass Brookner ähnlich auf das kulturell wie sexuell revolutionäre Klima der Sechzigerjahre reagiert hat, wie Frances es in diesem Roman tut – ohne es zu verurteilen, aber mit dem Wissen, selbst daran nicht teilnehmen zu können. Es ist verführerisch, Frances, die Hauptfigur, als autofiktionales Alter Ego von Brookner zu lesen – aber wie bei den meisten überragenden Romanen ist sie es ein bisschen und zugleich natürlich auch gar nicht. Brookner versteht nur besser als andere Menschen, wie Frances sich fühlt. Sie kann ihr Innenleben und ihre Ängste so gnadenlos ausleuchten, kann Dinge sagen, die in unserer Gesellschaft sonst ungesagt bleiben, weil sie selbst gegen die Wände gelaufen ist, gegen die auch ihre alleinlebende Hauptfigur läuft.
Seht mich an ist ein Roman über das Nicht-Erkannt-Werden, über die Verzweiflung des Nicht-Gesehen-Werdens, der wahrscheinlich schmerzhaftesten Form von Einsamkeit. Ein Roman über den Versuch eines letzten Ausbruchs aus dieser Unsichtbarkeit, eines Ausbruchs, der fehlschlägt. Als die Lesenden Frances zu Beginn des Romans kennenlernen, hat sie sich ein Leben zwischen ihrer Wohnung und der medizinischen Institutsbibliothek eingerichtet, dessen Leitlinie sie fast schon zwanghaft mit dem Wort »erträglich« umschreibt: Alles an diesem Leben ist ihr »erträglich«: die Arbeit, ihre Lebenssituation, ihr Vorgesetzter Dr. Leventhal. Mit umfänglicher Leidensfähigkeit stellt sie sich einem Leben, das für sie ausgesucht wurde. Nicht Freude, nicht Selbsterfüllung, Lust oder das Schöne sind die Maßgaben ihres Alltags, sondern das, was sie ertragen kann. Sie ist stolz auf ihre Beherrschung, wirkt ein wenig kühl auf ihre Mitmenschen und ist sich dessen bewusst. Dieses Gefühl von Kontrolle hat ihr schon durch viele Krisen geholfen. Obwohl Frances ein brillanter Kopf ist und alles über die kunsthistorischen Repräsentationen von Krankheit weiß, die den Kern der Arbeit der Bibliothek ausmachen, gibt sie sich mit einer Position zufrieden, die weit unter ihren Möglichkeiten liegt. Sie durchschaut den untergeordneten Platz, den die Gesellschaft ihr als alleinstehender Frau zuweist, und scheint sich nicht dagegen zu wehren. Wie ihre Freundin und Arbeitskollegin Olivia verhält sie sich den Männern in ihrem Leben loyal gegenüber, wohlwissend, dass diese Loyalität nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Obwohl sie die Abkürzung ihres Vornamens nicht mag, nimmt sie die leicht herablassenden und manchmal buchstäblich infantilisierenden Kosenamen ihrer Umgebung hin und lässt sich »Fanny«, »Fannyschatz«, »Darling Fanny«, »Miss Fanny« und sogar »Waisenkind Fanny« nennen. Sie ist stolz auf ihre Leidensfähigkeit, selbst wenn diese zu ihren Gefühlen von Einsamkeit führt.
Seht mich an ist überhaupt ein Roman voller einsamer Menschen, und um viele von ihnen kümmert sich Frances. In Rückblicken ist etwa ihre Mutter zu erkennen, die sich nach dem Tod ihres Mannes komplett von der Welt zurückgezogen hatte. Sie hinterlässt ihrer Tochter nicht nur die völlig altmodisch eingerichtete Wohnung im Londoner Stadtteil Maida Vale, ein Albtraum aus Gold, Beige und Glas, in dem diese sich nicht zuhause fühlt, sondern auch die irische Haushälterin Nancy, die nach dem Tod ihrer Arbeitgeberin ein noch einsameres Leben führt als zuvor. Die zwei Dauergäste der Institutsbibliothek, der zurückgezogen lebende Dr. Simek, ein osteuropäischer Gelehrter – von dem niemand auch nur in Erfahrung bringen will, woher er eigentlich kommt – und Mrs. Halloran, eine immer etwas zu laute Trinkerin, sind geradezu Prototypen von Einsamkeit. Die eindringlichste Personifizierung von Einsamkeit, fast schon ihre Allegorie, ist jedoch die einstige Bibliothekarin Miss Morpeth, die nach ihrer Pensionierung traurig und ohne ihre Wohnung zu verlassen dem Ende ihrer Tage entgegensieht. Auf Geheiß ihres Vorgesetzten stattet Frances ihr regelmäßig Besuche ab, obwohl das für beide eine unbefriedigende Erfahrung darstellt.
Zusammen bilden diese Figuren ein Ensemble, das für Frances im Laufe des Romans immer stärker als Angstszenario fungiert, als eine Aussicht auch auf ihre eigene Zukunft. Brookner findet zahlreiche verstörende Bilder für Einsamkeitsgefühle. Sie stattet Frances mit einem ungeheuren Sensorium für dieses Gefühl aus – und mit so viel Selbstironie, dass sie darüber sprechen kann. Sie hat solche Angst vor Einsamkeit, dass sie sie überall sieht, auch da, wo für die meisten Menschen gängige Selbsttäuschungsstrategien greifen würden. Auch kleinste Manifestationen dieses Gefühls können sie emotional ins Straucheln bringen. Eine der traurigsten Szenen des Buches beschreibt ihre Erinnerung an den Weihnachtstag im Jahr, bevor die Handlung von Seht mich an einsetzt. Nach einem schweren Essen, das sie mit Nancy, ihrer Haushälterin, eingenommen hat, und nach der Weihnachtsansprache der Queen geht sie in den menschenleeren Straßen Londons spazieren, in denen es so ruhig ist, dass sie das Echo des Klackens ihrer Absätze hören kann. Sie kommt auch an einem Waschsalon vorbei, in dem drei Männer und eine gut angezogene Frau Wäsche waschen und gezwungen sind, den Weihnachtstag in der Zufallsgesellschaft voneinander zu verbringen. Die Szene hat nicht nur aufgrund der geschickten sprachlichen Horrorfilm-Andeutungen Brookners eine so quälende Kraft. Sie verfolgt Frances, weil sie darin einer doppelten Projektion erliegt, die den Kern ihres inneren Konflikts ausmacht. Natürlich sieht sie in der eleganten, einsamen Frau im Waschsalon sich selbst, ihr zukünftiges Selbst. Und zugleich sieht sie nicht, dass sie bereits in dem Moment ihrer Beobachtung schon viel einsamer ist als die vier Personen im Waschsalon. Sie ist es, die sich allein auf der Straße befindet, sie ist es, die sich diese Menschengruppe anschaut und ihr Verzweiflung unterstellt. Wenn Frances zu sich selbst sagt, dass sie »so etwas« nie wieder sehen möchte, weist sie damit die Zukunft von sich, von der sie glaubt, sie stehe ihr bevor. Sie sieht nicht, dass diese Zukunft für sie schon längst begonnen hat.
Frances und mit ihr die Lesenden wünschen sich nichts mehr als einen Ausweg aus dieser vorgezeichneten Einsamkeit. Anderthalb Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, deren ängstlicher, isolierter Lebenswelt sie immer noch verhaftet ist, scheint sie sogar bereit zu sein, sich daraus zu befreien. Es wäre das logische Ende ihrer langen Trauerphase, sich der Welt neu zu öffnen, ihr Leben neu zu ordnen und neu aufzubauen. Doch irgendetwas hält sie davon ab. Sie weiß, dass sie Nancy pensionieren und zu deren Verwandten nach Irland schicken sollte, weiß, dass sie die Wohnung mit ihren seltsamen Möbeln verkaufen sollte. Doch aus einem Grund, der ihr selbst verschlossen bleibt, ist sie dazu nicht imstande.
Es steht zu vermuten, dass Frances’ Skepsis romantischen Beziehungen gegenüber damit zu tun hat. Denn entgegen den Maßgaben der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist, versucht Frances ihrer Einsamkeit und ihrer Zukunftsangst nicht mit dem Eingehen einer Partnerschaft zu begegnen. Im Gegenteil – sie ist stolz darauf, in niemanden verliebt zu sein, auch in James nicht, einer der beiden wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts und eigentlich der einzige alleinstehende Mann in ihrer Umgebung, der für eine Beziehung überhaupt infrage käme. Brookner lässt offen, warum Frances eine für ihre Zeit so ungewöhnliche Abwehrhaltung Beziehungen gegenüber an den Tag legt. An zwei Stellen des Buches deutet sie lediglich an, dass ihre Protagonistin traumatische Erfahrungen mit einem älteren, verheirateten Mann gemacht hat, einer Affäre, die sie emotional abhängig werden ließ und für eine persönliche Entgrenzung sorgte, gegen die sie sich seither wehrt. Aber die genauen Geschehnisse und ihre Folgen werden von Frances so verdrängt, dass auch die Lesenden nur eine Ahnung davon bekommen.
Brookner stattet Frances aber auch nicht mit einem feministischen Blick auf Partnerschaft und Familiengründung aus – obwohl ihr Leben dafür geradezu prädestiniert wäre und man es ihr von Herzen wünschen würde. Die Heldin von Seht mich an nimmt vielmehr bewusst Abstand von der »feministischen Guerillabewegung«, wie sie es nennt, genau wie es Brookner selbst zeitlebens tat. Frances lebt nicht aus emanzipatorischen Gründen allein, zumindest nicht aus vordergründig emanzipatorischen Gründen. Dennoch beweist sie wiederholt ihre Unabhängigkeit. Die Familie ihrer Freundin und Arbeitskollegin Olivia etwa, bei der sie sonntags regelmäßig zum Essen ist, geht etwa davon aus, dass sie irgendwann Olivias Bruder heiraten wird. Frances hat nichts dergleichen vor. Auch als sie ihren Kollegen James besser kennenlernt, kann sie die intensive, sich zwischen ihnen entspinnende Freundschaft nicht unter romantischen Vorzeichen lesen. Frances sucht ihr Heil schlicht nicht in einer Partnerschaft. In mancher Hinsicht gleicht sie Jane Austens Heldinnen: Sie ist brillant und selbstreflexiv, durchschaut die Welt, in der sie lebt, mit einer außergewöhnlichen Klarheit, nimmt mit einem eher distanzierten Blick an ihren sozialen Konventionen teil und kann sich aus emotional brenzligen Situationen häufig mit einer Mischung aus Humor und Selbstbeherrschung retten. Doch in einem zentralen Punkt unterscheidet sich Frances von Fanny Price, Elizabeth Bennet, Emma Woodhouse und ihren Epigoninnen: Frances befindet sich, auch wenn sie es selbst nicht so direkt ausspricht, nicht auf dem Heiratsmarkt. Sie ist eine gloriose Anti-Austen-Heroine.
Freiheit heißt für Frances zunächst einmal, nicht die Bedürfnisse anderer Menschen vor ihre eigenen stellen zu müssen. Sie möchte nach der Pflege ihrer Mutter nicht daran erinnert werden, dass Menschen verletzlich sind, dass der Tod auf uns alle wartet. Sie ergeht sich in ungeduldigen Ausbruchsfantasien. In dieser Phase ihres Lebens lernt sie Nick kennen, den anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts. Durch ihn und seine Frau Alix glaubt sie, Anschluss an jene andere Welt finden zu können, an jene andere Form von Nähe und Sozialität, die ihr bisher weitgehend verschlossen geblieben ist. Eine Welt, von der sie glaubt, dass sie dort endlich gesehen werden könnte. Das glamouröse Paar, das Frances zunächst unter seine Fittiche zu nehmen scheint, verkörpert diese Welt auf geradezu symbolhafte Weise. Die Gesellschaft der beiden verspricht genau die Freiheit, die sich Frances wünscht – Freiheit von den Bedürfnissen der Menschen, um die sich Frances kümmert, Freiheit von den Zwängen ihres einsamen Lebens, das sie mit anderen einsamen Menschen verbringt. Sie fühlt sich von der Vitalität, dem Ehrgeiz, der Sinnlichkeit und der unkomplizierten Art des Paars angezogen, genießt die spontanen Restaurantessen, die impulsiven Entscheidungen. Sie ist von der Intensität der Beziehung, die Nick und Alix führen, fasziniert, und von ihrem Bohème-Leben.
Nick und Alix sind nicht nur das Ticket, mit dem Frances versucht, dem maternalen Reich der Schatten zu entkommen, sie sind auch Repräsentanten der Londoner Swinging Sixties und der sich darin noch einmal neu manifestierenden kulturellen Herrschaftsmacht der englischen Oberschicht. Ohne dass Brookner es ausbuchstabiert, treffen hier zwei verschiedene Lebensstile aufeinander, zwei historisch und geographisch unterschiedlich geprägte Lebenswelten, die in mancher Hinsicht unvereinbar sind. Frances fühlt sich durch die Freundschaft mit den beiden sozial aufgewertet, weil sie fest daran glaubt, dass Nick und Alix qua ihrer Geburt und ihrer gesellschaftlichen Stellung dazu in der Lage seien, die Segnung der Inklusion auszusprechen. Ein großer Teil der Anziehungskraft, die das Paar auf Frances ausübt, liegt in seiner »Britishness«, seinem Klassenbewusstsein, der quasi »natürlichen« Überlegenheit, die es als Vertreter der oberen Mittelschicht ausstrahlt. Sein Wohlstand, wenn auch geringer als der von Frances, beruht auf vielen Generationen englischer Kolonialherrschaft. Alix etwa betrauert immer wieder den verlorenen Reichtum ihrer Familie und deren Besitz auf Jamaika. Dabei betont sie freiwillig-unfreiwillig, dass sie im Gegensatz zu Frances, dem Enkelkind osteuropäischer jüdischer Migranten und Migrantinnen, »wirklich« zur englischen Gesellschaft, »wirklich« zur herrschenden Klasse gehöre.
Frances verspricht sich von der Gesellschaft der beiden nichts weniger, als ihre eigene Vergangenheit ungeschehen zu machen und sich neu zu erfinden. »Ich war aus meiner Einsamkeit erlöst«, sagt sie an einer Stelle, »man hatte mir eine neue Chance gegeben, und ich hatte große Hoffnungen auf eine Zukunft, welche die Vergangenheit auslöschen würde«. Spätestens wenn sie diese Überlegung anstellt, wissen die Lesenden, dass ihre Begegnung mit dem glamourösen Paar kein gutes Ende nehmen wird. Frances will etwas, das ihr niemand geben kann, sie will ein neues Leben, in dem sie sich völlig frei von den Fesseln ihrer Vergangenheit machen kann, sie möchte ein anderer Mensch werden. Darüber hinaus sind die eher einfach gestrickten, oberflächlichen und selbstgefälligen Nick und Alix auch noch die völlig falschen Adressaten für jede Art komplexerer Begegnung. Frances fällt nicht auf, dass sie sich ihr neues Freiheitsgefühl zu einem erheblichen Preis erkauft. Zunächst einmal einem wirtschaftlichen Preis. Da Frances aufgrund ihres Erbes – ihr Vater betrieb eine erfolgreiche Investmentfirma – wohlhabend ist, übernimmt sie viele der anfallenden Restaurantrechnungen. Sie scheint sich bewusst zu sein, dass das zum Vertrag ihrer Freundschaft gehört, obwohl oder gerade weil sie weiß, dass Nick und Alix diese Form des Reichtums, das »new money«, nicht respektieren. Doch als noch viel höher soll sich der Preis erweisen, den sie in der Währung ihrer Gefühle und ihrer vergeblichen Hoffnungen auf ein anderes Leben bezahlt.
Auch Frances’ Verhältnis zu James ist von dieser unausgesprochenen Spannung geprägt, dem Versprechen auf Aufstieg in eine als höher wahrgenommene soziale Schicht. Neben der traumatischen Erfahrung ihrer zurückliegenden Affäre liegt darin wohl ein weiterer Grund für Frances’ Weigerung, sich näher auf James einzulassen. Für Frances steht zu viel auf dem Spiel, sehr viel mehr jedenfalls als für James, der zwar wie sie eine komplizierte Mutterbeziehung hat und nicht so gut in das lebensweltliche Laissez-faire von Nick und Alix zu passen scheint, aber durch seinen Posten als wissenschaftlicher Mitarbeiter und den schlichten Umstand, ein gutaussehender heterosexueller Mann zu sein, eine abgesichertere Stellung im sozialen Gefüge einnimmt. Die Freundschaft, die sich zwischen ihm und Frances entwickelt, hat daher fast etwas Kindliches, vielleicht auch, weil Frances zu lange zögert und sich zu spät eingesteht, dass sie tatsächlich romantische Gefühle für ihn hegt. Ihre langen gemeinsamen Spaziergänge und ihre regelmäßigen Treffen in der Institutsbibliothek wirken auf jugendliche Weise keusch. Lange hat man zusammen mit Frances den Eindruck, dass sich auch James nicht auf dem Heiratsmarkt befindet.
Erst als James bei Nick und Alix einzieht und das Band zu Frances merklich schwächer wird, erst als sein unwiederbringlicher Verlust droht, versteht Frances, dass sie mehr für ihn empfindet, versteht, dass sie mit ihm die Möglichkeit hätte, ihrer Einsamkeit zu entkommen und sich eine Zukunft aufzubauen, die zwar ihre Vergangenheit nicht auslöschen, ihr aber ermöglichen würde, einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Sie versteht, dass sie sich in ihn verlieben könnte und sich vielleicht schon in ihn verliebt hat. Die Szenen, in denen das Frances klar wird, bilden das schmerzhafte, durch und durch erschütternde Crescendo des Romans. Ihr Versuch, James zu verführen, scheint zunächst zu gelingen, endet jedoch mit der schmerzvollsten Zurückweisung, die man sich überhaupt vorstellen kann: »Nicht mit dir, Frances. Nicht mit dir.« Trotz dieses Fehlschlags geht Frances noch zu einem gemeinsamen Essen mit James, Nick und Alix und Maria, einer aristokratischen italienischen Freundin des Paars, und begreift, dass James schon eine anderweitige sexuelle und vielleicht auch romantische Liaison eingegangen ist. Die beherrschte Frances versucht, emotionale Kontrolle über die Situation zu erlangen, indem sie die Rechnung für das gemeinsame Restaurantessen bezahlt und beim Abschied lächelt. Beide Szenen gehören zum Traurigsten, was Brookner oder irgendjemand je geschrieben hat. Beide Szenen haben sich unweigerlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Beide Szenen werde ich nie wieder vergessen können.
In einem Interview, das Brookner spät in ihrer Karriere gab, sagte sie, sie bedaure, Seht mich an geschrieben zu haben, da dieser Roman für ihren Ruf als »nur über alte Jungfern schreibende alte Jungfer« verantwortlich sei. Man kann Brookners Bedauern verstehen, auch ihr Gefühl, von einer in Klischees denkenden Öffentlichkeit ungerecht behandelt worden zu sein. Sie hat ein überlebensgroßes literarisches Werk hinterlassen, das noch viel größeren Ruhm erlangt hätte, wäre sie ein heterosexueller weißer Mann gewesen. So sehr die Tatsache, dass Brookner eine alleinstehende Frau in ihren Fünfzigern war, das öffentliche Urteil über sie beeinflusste, so wenig verzieh man ihr die röntgenscharfe, völlig unsentimentale Präzision, mit der sie in diesem Roman das Leben allein durchleuchtet. Brookner reißt dem Singledasein alle Schleier der Selbsttäuschung weg und löscht jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer aus. So unmissverständlich wie nie jemand vor ihr stellt sie dar, was auf dem Spiel stand, wenn man allein lebte, und wie begrenzt die Möglichkeiten für alleinstehende Frauen in einer Gesellschaft waren, die dieses Lebensmodell nicht für beschützenswert, respektabel oder auch nur akzeptabel hielt, sondern bestenfalls für bemitleidenswert. Sie macht deutlich, wie groß die Unsichtbarkeit jener Menschen war, die sich, ob freiwillig oder nicht, für dieses Lebensmodell entschieden. Dieser schonungslose, eindringliche Blick geht mit einer Ehrlichkeit einher, die die Gesellschaft, in der Brookner lebte, nicht vertrug, weil sie nichts weniger als einen ihrer geheimen blinden Flecken ausleuchtete. Eine Kultur, die an ihren blinden Flecken festhalten möchte, verzeiht es nicht, wenn jemand den Scheinwerfer darauf richtet.
Vielleicht liegt darin auch der Grund, warum Seht mich an auch heute noch so erschüttert, warum der Roman auch heute noch, vierzig Jahre nach seinem Erscheinen, Lesenden wie mir schlicht den Boden unter den Füßen wegreißt: Brookners Röntgenblick macht klar, dass trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen die Zweisamkeitsgrammatik unserer Kultur so wirksam ist wie je zuvor. Man kann nicht umhin, diesen Blick auch auf die eigenen Selbsttäuschungen zu richten. Ich lebe seit einigen Jahren allein, habe mich damit lange bewusst auseinandergesetzt. Doch Seht mich an hat mir Seiten dieses Lebens aufgezeigt, die ich bis dato nicht gesehen habe. Die Lektüre hat mich mit Facetten dieses Lebens vertraut gemacht, vor denen ich bisher die Augen verschlossen hatte. Die emotionale Dichte des Buchs sorgt dafür, dass ich mich innerlich bis heute mit ihm auseinandersetze – mit ihm und damit auch mit mir. Ich weiß, dass ich nicht der Einzige bin, dem es mit diesem großen, erschütternden und durch und durch gloriosen Roman so ergeht. Anita Brookner nimmt uns, die Lesenden, an die Hand und zeigt uns mit virtuoser Wucht nichts weniger als unsere eigenen blinden Flecken auf – und das ist mehr, als man sich auch von großer Literatur jemals wünschen kann.