2 Dieses Gefühl von Einsamkeit hat vielleicht auch mit der unmittelbaren Umgebung zu tun, in der ich wohne und die man wohl anachronistisch nennen kann. Maida Vale ist für mein Gefühl ein sehr merkwürdiges Viertel voll von riesigen Wohnblocks, in denen lauter kleine, ältliche Leute wohnen. Nur wenige dieser Leute scheinen auf die Straße zu gehen, die immer verlassen wirkt, und die wenigen, die sich für einen kleinen Einkauf hinauswagen, tragen üppige Pelzmäntel und sind nie ohne Stock und Hund. Wenn ich abends nach Hause komme, sehe ich niemanden, obwohl ich auf jedem Treppenabsatz durch die geschlossenen Doppeltüren hindurch die verlockendsten Küchengerüche riechen kann. Ich stelle mir vor, wie hier eine Dinnerparty vorbereitet wird und wie die silberhaarige Gastgeberin mit den kleinen Diamantohrringen sich mühsam vorbeugt, um die Kerzen auf dem Nussbaumtisch anzuzünden. Ihre Gäste werden wohl von nicht viel weiter als von der nächsten Tür oder dem Stockwerk darunter kommen, aber sie werden sich für die festliche Gelegenheit ordentlich herausgeputzt haben, die Damen in alten, aber gut erhaltenen schwarzen Chiffonkleidern, die Herren in Samtjacketts und mit Krawatten. Allesamt haben leichte physische Beschwerden, wie sie ihrem Alter entsprechen, aber sie sind alle sehr zuvorkommend und gut aufgelegt und brechen in Rufe des Entzückens aus über den kräftigen Geschmack des Sherrys in der Bouillon und überschütten ihre Gastgeberin mit Komplimenten. Diese braven Leute gehen zu Vorträgen im Victoria-and-Albert-Museum und gelegentlich tun sie sich zusammen zu einem Besuch des National Theatre, das ihnen indessen keinen Genuss bereitet. »Also ich bekam einfach keine Luft da drinnen«, gestehen sie einander. Im Allgemeinen finden sich vier zum Bridge zusammen, manchmal auch zwei Gruppen; für die Damen gibt es eine Tasse Tee und für die Herren einen Whisky-Soda um halb zwölf. Beim Abschied küssen sich alle liebevoll und jeder sagt: »Das nächste Mal kommen Sie zu uns!« Ich kenne natürlich keinen Einzigen von ihnen. Ich rieche nur ihr Essen, und es riecht sehr gut. Einige Damen schickten Blumen, als meine Mutter starb, aber nachdem ich ihnen schriftlich gedankt hatte, warf ich ihre Beileidskarten weg. Ich bemerke im Vorübergehen ein Kopfnicken und ein Lächeln, wenn zufällig eine Tür auf dem Treppenabsatz offen steht. Aber da ich den ganzen Tag außer Haus bin und sie allem Anschein nach den ganzen Abend Bridge spielen – oder jedenfalls bis halb zwölf –, bietet sich die Gelegenheit zu einer Begegnung nicht eben oft. Außerdem sind sie alle so viel älter als ich.
Ich bin mir durchaus darüber klar, dass dies ein Haus für alte Menschen ist, mit dem roten Treppenläufer, dem schweren Lift mit Eisengitter, den blankgeputzten Messingbriefkästen und dem kleinen behäbigen Portier. Die Bewohner gehören jener Schicht und Generation an, der man nie gesagt hat, sie sollten leise sprechen, sodass man jetzt Rufe wie: »Phyllis, meine Liebe!« von Stockwerk zu Stockwerk hören kann, bis sich die Tür hinter der pelzbekleideten Besucherin geschlossen hat. Zur Weihnachtszeit habe ich kleine Enkelkinder zu Besuch kommen sehen, in mit Samtkragen besetzten Mänteln. Fest an der Hand der Mutter, benehmen sie sich über alle Maßen gut. Wenn sie wieder auftauchen, glühen ihre Wangen, sei es von dem Genuss des Weihnachtskuchens (»Kinder, das ist noch nach dem Rezept eurer Urgroßmutter!«), sei es in der Vorfreude auf das Aufschnüren der knisternden Pakete, die sie im Arm halten. Im Sommer geht es sogar noch ruhiger zu. Denn dann sind die alten Leute an der Reihe, ihre Kinder zu besuchen, und von meinem Fenster aus kann ich von der Straße herauf ihre Stimmen und das Tappen ihrer Stöcke hören, und wenn ich hinunterschaue, kann ich Mrs. Hunt oder Lady Cohen sehen und hören, wie sie die Schwierigkeiten beklagen, die ihnen das Einsteigen in den Wagen bereitet. »Auf Wiedersehen, Mr. Reardon, und nochmals besten Dank!«, rufen sie, während sie ihre alten Gliedmaßen in dem knappen Raum unterbringen. »Auf Wiedersehen, Madam«, grüßt der Portier und wartet auf dem Bürgersteig, bis sich der Wagen in Bewegung gesetzt und sicher seine Fahrt aufgenommen hat.
Ich empfinde dieses Haus kaum als mein Zuhause, obwohl ich immer hier gewohnt habe, und da die Wohnung jetzt mir gehört, besteht eigentlich kein Grund umzuziehen, zumal die Preise gerade jetzt so hoch sind. Im Grunde wohne ich ausgesprochen gern hier, und mein Leben verläuft in so geregelten Bahnen, dass mir der Gedanke an einen Wohnungswechsel nur selten in den Sinn kommt. Aber diese innere Unruhe, von der ich sprach, kommt zu einem Teil von der Langeweile und zum anderen von dem Mangel an Geselligkeit. Manchmal träume ich von einem Leben, in dem ich ganze Abende lang am Bett einer Freundin sitze, in vertraulichem Geplauder, und wir uns gegenseitig über unsere Liebesaffären auf dem Laufenden halten, wenn wir uns nicht unsere neuen Kleider zeigen oder eine andere Frisur ausprobieren … Dabei ist das alles nicht eigentlich nach meinem Geschmack. Aber es ist sehr schwer, hier überhaupt jemanden einzuladen. Sollte es einmal in meinem Leben einen plötzlichen Wechsel geben und ich einen völlig neuen Freundeskreis um mich scharen können, dann müsste ich allerdings einige radikale Änderungen vornehmen. Zwar ist es kaum wahrscheinlich, dass ich ein Dinner für zehn Personen oder eine Soiree für fünfzig geben werde, wenn auch die Räume groß genug dafür wären. Und ich sehe schon jetzt, dass es mir sehr schwer fallen würde, mich einmal von meinen Möbeln, die mir unerklärlicherweise so ans Herz gewachsen sind, zu trennen, obwohl ich doch in meinen kritischsten Jahren nur über sie gelästert habe. Die Veränderung in meinem Leben müsste schon sehr einschneidend sein, damit ich das Gefühl bekomme, endlich von dieser Wohnung Besitz ergriffen und damit das Recht zu haben, sie zu meinem persönlichen Zuhause zu machen.
Denn in meinen Gedanken gehört sie noch immer meinen Eltern. Sie bezogen sie während des Krieges, als die Tätigkeit meines Vaters sie zwang, in London zu wohnen. Sie bewerkstelligten den Umzug in aller Eile, wie es damals üblich war. Innerhalb einer Woche mussten sie ihr Haus in Surrey loswerden, was meiner Mutter schwer genug fiel. Sie übernahmen diese Wohnung mit allem Zubehör, da die Eigentümerin es mit dem Verkauf eilig hatte, um zu ihrer Schwester nach Amerika ziehen zu können. So erbten sie diese ganz ungewöhnliche Einrichtung, die den Eindruck macht, als sei sie der Fantasie einer anspruchsvollen Halbweltdame aus der Provinz entsprungen. Aber angesichts der damaligen Verhältnisse unternahmen meine Eltern nichts, um daran etwas zu ändern. Sie gingen auf jeden Fall so sehr ineinander auf, waren jeder so sehr um die Sicherheit des anderen besorgt, dass sie sich keine Gedanken um die Einrichtung ihrer Wohnung machten, solange sie noch heil, warm und komfortabel war und ihnen Schutz vor Gefahr bieten konnte. Aber auch als sich die Lage beruhigt hatte und das Leben sich normalisierte – mehr, als sie je zu hoffen gewagt hatten –, auch dann änderten sie nichts, vielleicht aus einer Art Aberglauben. So wuchs ich denn auf zwischen abscheulichen Spiegeln aus geschliffenem Glas mit abgeschrägten Kanten, die an Ketten über gekachelten Kaminen hängen, und zottigen schmutzigweißen Teppichböden, Brücken mit Zickzackmuster, Sitzecken mit Nussbaumtischen und halbkreisförmigen Sesseln, die mit hellem knarrenden Leder bezogen sind, und Stehlampen mit vieleckigen elfenbeinfarbenen Seidenschirmen, zwischen schmiedeeisernen weißen Gittern vor den Heizkörpern der Zentralheizung, einem Esstisch, so wuchtig, dass er die zehn dazugehörigen Stühle in den Schatten stellt, Stühle, deren Sitze immerhin aus beigefarbenem, mit Messingknöpfen besetztem Brokat gefertigt sind, und Couchen mit Kopfstützen, die sich herumschwenken lassen, um dann als Nachttisch zu dienen. Nicht vergessen sei die Frisierkommode mit der glasbedeckten Ablagefläche und dem dreiflügeligen Spiegel und schließlich, als pièce de résistance, die Sammlung von Porzellan- und Glasvögeln, von denen einige ziemlich groß sind; sie marschieren in einer Reihe auf den glänzend polierten Regalen der hellfarbenen Bücherschränke, die mit gläsernen Schiebetüren (noch mehr Glas!) versehen sind.
Meine Mutter machte diese Einrichtung heimisch, indem sie ihre vielen Fotografien von meinem Vater, später auch von mir, unter die Glasscheibe ihres Frisiertisches steckte. Sie mochte das Interieur nicht besonders, schätzte aber die solide Bauweise des Hauses. Die Wohnung befand sich in einem Vertrauen erweckenden Gebäude am oberen Ende von Westminster Bank, an der Ecke von Maida Vale und einer dieser ruhigen Straßen, die nach St. John’s Wood führen. Ein leise quietschender Lift mit blanken Messingbeschlägen wird von dem Portier, Mr. Reardon, bedient, der ein Kämmerchen im Erdgeschoss bewohnt. Meine Mutter hatte allmählich das feierlich rasselnde Geräusch der eisernen Fahrstuhltüren lieb gewonnen; es bedeutete ihr schützendes Umschlossensein, und dies war ein Bedürfnis, das bei ihr mit den Jahren immer größer geworden war.
Die Wohnung ist sehr groß, viel zu groß für mich. Als meine Eltern noch lebten, löste sich das Problem dadurch, dass sie durch einen Zufall Nancy fanden. Nancy stammt aus Irland. Sie stießen auf sie, wie sie weinend in dem Flur des Hauses stand, in dem sie ein Zimmer gehabt hatte und das nun nach einem Luftangriff dem Erdboden gleichgemacht war. Sie nahmen sie mit zu sich nach Hause. Sie wurde ihr ihnen treu ergebenes Mädchen, und seitdem wohnt sie hier. Da diese Wohnungen mit Unterbringungsmöglichkeiten für Personal versehen sind, bekam sie hinter der Küche ihr eigenes Zimmer mit Bad. Dieses Zimmer ist groß genug, um ihr auch als Wohnzimmer zu dienen. Sie ist jetzt schon ziemlich alt, und zweifellos wird sie bis an ihr Lebensende hier wohnen. Sie steht sehr früh auf und besucht täglich die Messe. Wenn sie zurückkommt, frühstückt sie, aber ich bin dann schon auf dem Weg zu meiner Arbeit. Später geht sie aus, um die nötigen Besorgungen zu machen, und danach bleibt sie bis zum nächsten Morgen im Hause. An dieser Gewohnheit ändert sich nichts. Sie pflegte meinen Eltern jeden Abend das Dinner zu servieren, sodass meine Mutter nicht sehr viel zu tun fand. Es kam ihr nicht ungelegen, denn sie hatte ein schwaches Herz, und der Arzt hatte ihr verboten, etwas Schweres zu heben oder zu tragen. Nach dem Tode meines Vaters war sie noch hinfälliger geworden. Nancy machte ihr das Abendbrot und brachte es ihr auf einem Tablett. Praktisch war es jeden Abend dasselbe: eine Tasse Brühe, ein bisschen Huhn, dazu Kompott – alles in kleinsten Portionen. In dem Maße, in dem es meiner Mutter schlechter ging, wurde auch ihre Mahlzeit immer kleiner und fader: die Brühe, die sie kaum berührte, ein paar Cracker mit Butter, ein Custard oder Grießbrei. Wenn ich jetzt abends zu Hause bin, macht Nancy mir das gleiche zu essen, und wie abscheulich ich es auch finde, so weiß ich doch, dass ich sie nicht dazu bringen kann, daran etwas zu ändern. »Madam hat es immer so haben wollen«, sagt sie und blickt mich aus ihren kleinen, aber erstaunlich blumengleichen blauen Augen enttäuscht und mit stillem Vorwurf an.
Ich kenne keinen Menschen, der so trauern und sich vor Gram verzehren kann wie Nancy. Ich konnte nach dem Tod meiner Mutter keine Träne weinen und zeigte ein steinernes Gesicht. Ich war froh, dass die Qual vorüber war. Während ich mit steifen, gezwungenen Bewegungen im Schlafzimmer arbeitete, die Vorhänge aufzog und all die nutzlosen Tabletten in einen Plastikbeutel warf und dann dieses schreckliche Bett abzog, saß Nancy im Sessel meiner Mutter wie ein verschüchtertes Kind. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und die grauen Haarsträhnen klebten an ihrem nassen Gesicht. Sie hielt mich gewiss für herzlos, als sie nach den Pantoffeln meiner Mutter griff, die ich gerade wegwerfen wollte. Sie presste sie an sich und wiegte sie in ihren Armen … Bei ihrer Pflege hatte sie sich vor nichts gescheut. Sie hielt meiner Mutter den Kopf, wenn die Anfälle kamen, bei denen ich vor Grauen zur Tür rannte; noch heute kann ich die Erinnerung daran nicht ertragen. Nancy brachte meine Mutter zu Bett, schob ihr das Kissen unter den Kopf und streichelte ihr die Stirn. Sie ergriff ihre Hand, tätschelte sie und legte sie aufs Betttuch. Oder sie hielt sie fest und streichelte sie, diese Hand, die so mager geworden war, dass man die Ringe an den Fingern mit einem Klebestreifen festhalten musste. Doch meinetwegen blieb meine Mutter wach; sie wartete auf meinen Gutenachtkuss, vor dem ich mich allmählich so fürchtete wie vor allem anderen. »Meine liebe, gute Fan«, flüsterte sie, aber Nancy blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war.
Wie schon meine Mutter habe auch ich in der Wohnung nichts geändert. Wenn auch der Gang meiner Tage heute ganz anders geworden ist, als er damals war, die Nächte sind die gleichen geblieben: wenn ich höre, wie Nancy den Korridor entlangschlurft, um die Tür abzuschließen, und dann denselben Weg schlurfenden Schritts zurückkommt. Auch das Essen ist das gleiche geblieben. Und auf die Einrichtung und Ausstattung der Wohnung habe ich so wenig Einfluss wie meine Mutter. Ich bringe Nancy geradezu zur Verzweiflung, wenn ich ihr vorschlage, die Vögel aus Glas und Porzellan, die sie täglich abstaubt und jede Woche abwäscht, wegzuräumen. Die Wohnung ist bei weitem zu groß, aber wir haben die drei zusätzlichen Schlafzimmer abgeschlossen, und es bleibt noch immer so viel Platz, dass wir uns gegenseitig nicht stören. Außerdem kann ich von hier aus zu Fuß in die Bibliothek gehen. Manchmal finde ich das alles unmöglich, und ich träume von einer einfachen Wohnung im Dachgeschoss irgendwo, ganz weiß und leer, mit dem Blick auf Bäume. Dann fingere ich an den Vorhängen aus Goldbrokat mit goldenen Quasten und denke daran, wie meine Mutter hier an diesem Fenster stand und auf meinen Vater wartete. Und dann weiß ich, dass ich hier bleiben werde.
Einmal brachten mich Nick und Alix nach Hause, als wir uns gerade kennengelernt hatten. Sie sahen sich verblüfft um, aber, ich glaube, auch voller Anerkennung, denn die Wohnung ist sehr komfortabel. Doch als sie die Vögel sahen, die Nancy erst kürzlich wieder gewaschen hatte, wechselten sie einen Blick, und es dauerte nur Sekunden, bis sie sich vor Lachen nicht mehr halten konnten. Sie taumelten und krümmten sich wie vor Schmerzen über die Lehnen der abscheulichen Ledersessel. Sie wurden wieder ernst, aber nur, um sogleich wieder loszuplatzen. Ich musste schließlich mitlachen, obschon ich dachte … Was dachte ich denn? Dass ich die Vögel noch nie richtig angesehen hatte, noch nie bemerkt hatte, wie abgeschmackt sie wirken. Ich legte sie, nachdem Nick und Alix gegangen waren, in eine Schublade. Doch am nächsten Morgen nahm Nancy sie wieder heraus und wusch sie, diesmal außer der Reihe. Ich sagte nichts.
Im Übrigen war Alix sehr angetan von der Wohnung. Zwar bekam sie noch einmal einen Lachanfall, als sie mich um einen Aschenbecher bat und ich ihr einen aus grünem Malachit gab, mit einem ebenfalls aus grünem Malachit gefertigten Kakadu auf dem Rande, der den Blick nach unten gerichtet hatte wie auf eine tropische Lagune. Da ich selbst nicht rauche, hatte ich den Aschenbecher eigentlich nie richtig wahrgenommen; immerhin brachte ich es fertig, ihn nach dem Weggang der beiden in die hinterste Ecke eines Geschirrschranks zu verbannen. Natürlich entdeckte ihn Nancy dort, und bald stand er wieder am alten Platz.
Zu dem Besuch von Alix und Nick war es ganz unerwartet, unverhofft gekommen. Sie hatten mich mit dem Auto nach Hause gebracht, nachdem ich bei ihnen zu Abend gegessen hatte, und ich hatte sie aufgefordert, zugleich voller Eifer und panischer Angst, mit hinaufzukommen. Ein bisschen neugierig und stets bereit, sich über etwas zu amüsieren, willigten sie ein, sich für einen Augenblick zu setzen, doch ohne Mantel, Schal und Handschuhe abzulegen. Es war also kein richtiger Besuch. Weder wollten sie einen Drink annehmen, noch zulassen, dass ich uns einen Kaffee kochte; trotzdem zögerten sie, sofort wieder aufzubrechen, und nahmen ungeniert das Inventar auf. »Mich interessiert immer, wie andere Leute wohnen«, gestand Alix. »Ich hatte selbst einmal ein sehr schönes Haus.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und zog ihre Zigaretten und das Feuerzeug aus der Tasche. »Bitte nicht!«, sagte Nick mitleidsvoll, aber gerade in diesem Augenblick kam ich mit dem Kakadu-Aschenbecher und sorgte damit für eine Ablenkung im richtigen Moment. Wir stimmten in ihr Gelächter ein, dankbar, dass sie ihre gedrückte Stimmung überwunden hatte. Aber auch dann noch bemerkte ich, wie Nick sie ständig daraufhin beobachtete, ob ihre Stimmung wieder umschlug. Ich dachte, wie glücklich sie doch war.
Alix nahm sich mit einer Anstrengung zusammen, die ihr größere Autorität verlieh, als ihr sonst zu Eigen war. Es sei einfach lächerlich, erklärte sie, dass ich diese viel zu große Wohnung hätte; ich sollte Nancy in ein Altenheim stecken und dann ihr Gästezimmer beziehen. Sie hätten schon immer daran gedacht, es zu vermieten, um ein bisschen mehr Geld einzunehmen. Dann könnten sie auch ein wenig auf mich aufpassen. Nun, ich lasse es mir durch den Kopf gehen, obwohl Nancy ein Problem dabei ist; bisher habe ich ihr noch nichts davon gesagt. Alix wurde ganz aufgeregt, als sie das große Badezimmer sah mit den blassgrünen Kacheln im Stil der dreißiger Jahre und die Badewanne, die so viel größer ist als ihre eigene. Eigentlich sei diese Wohnung ihrer Größe nach mehr für sie, Alix und Nick, geeignet als für mich, erklärte Alix; und sie wurde ungehalten, als ich ihr versicherte, dass mir ihre Wohnung lieber wäre. »Sie wissen nicht, was es bedeutet, dort zu wohnen«, antwortete sie gereizt. »Außerdem haben Sie sie erst einmal gesehen.« Nick ist es immer sehr unangenehm, wenn sie anfängt, über ihre Wohnung zu sprechen. »Liebling, warum schlägst du Fanny nicht vor, dir ihre Wohnung zu verkaufen; sie könnte dann unsere übernehmen. Sie hätte eher ihr Format.« Mir kam diese Form der indirekten Rede sehr merkwürdig vor. Eigentlich gab es keinen Grund, warum er nicht selbst diese Frage stellte. Aber natürlich hatte er gar keine Lust umzuziehen; er will nur seine Frau glücklich sehen. Ihre Augen verengten sich wie immer, wenn vom Kaufen und Verkaufen die Rede ist. Sie kann es nicht verwinden, dass sie einmal bessere Tage gesehen hat, wie sie es gern ausdrückt (wobei sie eine komisch gemeinte tragische Grimasse zieht), und dass der Familienbesitz auf Jamaika verkauft werden musste, um Schulden zu bezahlen. Sobald das Gespräch auf Geld kommt, zieht sie den Pelzmantel enger um sich und fröstelt, denn es erinnert sie daran, dass sie, bevor sie von dem Bankrott ihres Vaters erfuhr, noch nie einen Winter in England verlebt hatte. Man darf vor Alix weder Geld noch Kälte erwähnen. Es deprimiert Nick wie Alix gleichermaßen.
Wir wohnen also weiter in dieser Wohnung, Nancy und ich, so gut wie ohne je ein Wort miteinander zu wechseln. Allerdings bin ich am Tage nicht hier und neuerdings auch kaum an den Abenden, Gott sei Dank! Es besteht kein Grund, irgendetwas ändern zu wollen. Ich habe mehr als genug Geld, wie ich mich beinahe schäme zu sagen, wenn ich an die arme, in ihrem Pelzmantel fröstelnde Alix denke, auch wenn es nicht das Geld ist, was Alix schätzen würde. Mein Vater erbte eine Spielwarenfabrik in East End von seiner etwas exzentrischen Familie. Er verkaufte die Fabrik sobald wie möglich und gründete mit seinem Freund Sydney Goldsmith eine Art Offener Handelsgesellschaft, um an der Börse zu spekulieren. Sie waren dabei unglaublich erfolgreich. Sie wandelten ihr Geschäft in eine GmbH um, trafen sich zwei- bis dreimal wöchentlich zum Lunch, um Geschäftliches zu besprechen, nahmen zu ihrem Unternehmen neue Geschäftsbereiche hinzu und wurden am Ende ziemlich reich. Daher also kommt mein Geld, und mir macht das so wenig aus wie meinem Vater. Ihm war vor allem wichtig, seinen Lebensunterhalt auf eine Art zu verdienen, die ihm genug Zeit ließ, sich meiner Mutter zu widmen. Nach meiner Meinung war Sydney die Seele des Unternehmens. Er mochte meinen Vater sehr gern, und in ihrer Freundschaft war etwas von zarter Rücksicht, wie ich es nirgendwo sonst erlebt habe. Wie ich überhaupt sagen muss, dass alle damals empfundenen Gefühle nie wieder ihresgleichen hatten … Nach dem Tode meines Vaters pflegte Sydney jeden Monat einmal meine Mutter zu besuchen. Er erschien jedes Mal mit einer Schachtel Konfekt, die sie, sobald er gegangen war, an Nancy weitergab. »Nun, Fanny, wie geht es unserer Lieben heute?«, fragte er mich auf der Diele, während er sich seines eleganten Kamelhaarmantels und seines weichen braunen Filzhuts entledigte (er kleidete sich immer wie ein Gangster). Dann setzte er sich zu meiner Mutter und sprach mit ihr von meinem Vater; dabei glaube ich, dass er selbst meine Mutter liebte. Ihrer beider Unschuld war, wie ich es heute sehe, schier grenzenlos. Ich hatte vor diesen Besuchen ein leises Grauen. Sie verliefen immer nach dem gleichen Muster, dem gleichen altmodischen Muster. Ich musste stets, wenn Sydney kam, zu Hause sein, und wenn ich auch gern zugab, dass er, wie mein Vater behauptet hatte, der beste aller Menschen sei, zählte ich die Minuten, bis er sich verabschiedete. Auch der Abschied folgte einem vorgeschriebenen Muster. Er beugte sich über den Sessel, küsste meiner Mutter die Stirn und sagte: »Aber jederzeit, Beatrice. Wann immer Sie mögen, kommen Sie zu mir. Meine Zeit gehört Ihnen.« Stets hatte er beim Fortgehen auch ein Wort für Nancy. Ja, er ließ es sich nicht nehmen, an die Küchentür zu klopfen, um ihr für den Tee zu danken. Auch sie liebte ihn. Er kommt noch immer, wenn ich auch selten zu Hause bin. Ich glaube, er wohnt jetzt in Worthing. Wenn ich mich nicht irre, sagte er einmal, dass er dorthin ziehen wolle. Wie ein steuerloses Schiff dahintreibend, sagte er.
Die Männer im Leben meiner Mutter glichen Priestern, die ihr geistlichen Beistand leisteten. Sie liebten sie auf eine Art, wie ich hoffe nie geliebt zu werden: mein Vater, Sydney Goldsmith und Dr. Constantine, der so lange Jahre ihr Arzt gewesen war. Darum suche ich nun die Gesellschaft von jungen Leuten, Leuten von Welt, mit geschliffenen Manieren, die Gesellschaft der Ambitionierten und der großen Begabungen so wie Nick und seine Freunde. In der Welt meiner Mutter, zumindest in ihren späteren Jahren, waren die Männer gütig, schüchtern, verletzlich und viel zu mitfühlend mit ihren Schmerzen. Ich möchte nie wieder solchen Männern begegnen. In gewisser Hinsicht habe ich es noch lieber, wenn sie abweisend sind, selbst wenn das bedeutet, dass sie es mir gegenüber sind. Ich ertrage nicht länger den schmachtenden Ausdruck in ihren Augen, nicht, dass sie so leicht die Fassung verlieren und ihre Hoffnungen so rasch dahinwelken. Heute erwarte ich von den Menschen, dass sie lebensfähig sind, geformt aus einem durablen Material. Ich versuche, mir ihre Unverletzlichkeit anzueignen. Ich möchte glauben können, dass Menschen hart genug sind, einen Schlag einzustecken wie selbst Schläge auszuteilen. Ich liebe den Anblick von Glück und Gesundheit – und die Menschen, die sich beider erfreuen. Aber diese priesterliche Betulichkeit, diese einfältig-kindliche Fröhlichkeit, dieses bemühte Zartgefühl, diese unterdrückten Seufzer, die dankbare Annahme konventioneller Aufmerksamkeiten, das Vertrauen auf die eingefahrenen Gleise des Lebens, all diese Treue und Beständigkeit – und das Grauen dahinter … Das alles nie wieder!
Es besteht für mich nun nie mehr der Zwang, so zu tun, als ob alles in bester Ordnung sei. Denn das ist es jetzt nicht und ist es nie gewesen. Es war unerträglich, und ich übte mich darin, es zu ertragen. Von all den traurigen, so viel Geduld erfordernden Tugenden, die in den Möbeln und Stoffen dieser Wohnung eingeschlossen wurden wie in einen Schrein – die Frivolität der Details kämpft ganz ohne Erfolg gegen die Feierlichkeit des Gesamteindrucks an –, von all diesen Tugenden hat fortan keine mehr eine Rolle in meinem Leben zu spielen. Die Untadeligkeit, die innerhalb dieser Wände gedieh, hatte zur Folge, dass uns die Laster fehlten, die man braucht, um sich in der Welt zu behaupten, überhaupt alle Kenntnisse, die für unser Leben notwendig sind, wenn es uns glücken soll. Heute weiß ich, dass man so listenreich wie Odysseus sein muss, um seinen Lebensweg mit Erfolg zu gehen. Ich glaube, dass ich das nun begriffen habe – ich hoffe es jedenfalls zuversichtlich –, und ich bin gewillt, von meiner Erkenntnis guten Gebrauch zu machen, obwohl ich noch nicht genau weiß, wie. Wenn nötig, werde ich mich in einen neuen Lebensstil hineinschreiben, und dieser Lebensstil wird sehr amüsant sein. Ich weiß, dass ich noch einen weiten Weg vor mir habe. Das alte Muster ist noch wirksam, weil es so vollkommen ist, weil sich hier alles verschworen hat, es zu erhalten. Es ist wie ein einsames Altern, in Erwartung des Endes. Jeden Morgen beeile ich mich jetzt, aufzustehen und die Wohnung zu verlassen, bevor Nancy von der Frühmesse zurückgekommen ist. Ich eile in die Bibliothek und bin bereit, wieder die grenzenlose Komik seriösen Vertieftseins zu beobachten. Ich lasse mir keine Absonderlichkeit im Verhalten um mich herum entgehen, und wenn ich nach Hause komme, schreibe ich jede meiner Beobachtungen nieder, und ich meine zu spüren, wie sich das Gewicht all der in dieser Wohnung eingeschlossenen Tugenden von mir hebt, mich erleichtert zurücklässt, beinahe schon wieder bereit, von neuem zu beginnen.
Wahrscheinlich werde ich in dieser Wohnung bleiben, bis Nancy stirbt oder aber auszieht, was freilich unwahrscheinlich ist, obwohl sie eine Schwester in Cork hat. Dies ist ihr Heim so gut wie meines, und ich bin durchaus bereit, es zu verlassen und habe es auch schon für eine Weile getan. Ich sollte vielleicht doch lieber in die Nähe von Nick und Alix ziehen, wenn auch nicht gerade in ihre Wohnung. Ich brauche die gute Laune der beiden, ihre Energie und Widerstandsfähigkeit. Ich muss teilnehmen an dem Leben, das um sie herum zu entstehen scheint; ich brauche diese improvisierten Mahlzeiten, die in letzter Minute getroffenen Entscheidungen, ihre Ungezwungenheit. Hier dagegen herrschen Behutsamkeit, Vernunft, Vorsicht. Die Fahrstuhltüren schließen sich mit einem klirrenden Geräusch, Nancy schlurft in ihren ausgetretenen Pantoffeln durch die Wohnung, und manchmal erscheint wieder dieses Tablett vor mir, mit der immer gleichen winzigen Mahlzeit, angesichts derer ich mich insgeheim schüttele, die ich aber ihr zuliebe dann doch esse. Ich könnte sie nie kränken. Aber sie scheint zu glauben, dass sich nichts geändert hat und auch nie ändern wird. Und sie begreift nicht (wie sollte sie auch?), dass mir das Angst macht.
Bei den Frasers ist alles anders. Alix, die ihr ganzes Leben lang Personal gehabt hat, kann keine Mahlzeit zubereiten, abgesehen von einem Steak und Spaghetti, die sie allerdings recht gut macht, sodass ihre Spaghetti »ihre« Spaghetti geworden sind, für die man ihr Komplimente macht. Sie hat diese amüsante Art, ihr vollkommen fremde Leute anzusprechen, wenn sie meint, sie sähen interessant aus, und oft sind wir abends zu dritt ins Restaurant gegangen, und am Ende waren wir zwei oder drei mehr, oft war es auch nur einer. Sie ist immer fasziniert von Menschen, die selbstständig sind. Ich glaube aber nicht, dass sie viele dieser Art kennt. Jeder erliegt dem Charme und der Energie Alix’, die die unerhörtesten Fragen stellen kann, ohne dass die Befragten gekränkt sind. Vielmehr verspürten sie nach einer Weile den Wunsch, sich ihr anzuvertrauen. Meistens rufen sie schon am nächsten Morgen an, und ich bin überzeugt, dass sie alle das Gefühl haben, eine bedeutende Bekanntschaft gemacht zu haben. Wahrscheinlich warten sie, genau so wie ich es tat, auf die erste Einladung: »Sie müssen einmal zu uns kommen und meine Spaghetti kosten«, sagte Alix damals, als sie in die Bibliothek kam, nachdem sie mit Nick geluncht hatte. »Es wird keine große Sache sein«, fügte sie hinzu, »weil meine Verhältnisse nicht mehr danach sind.« Dabei zog sie eine komische kleine Grimasse und sah Nick an; er erwiderte ihren Blick in einer Weise, die mich etwas verlegen machte. Dann gingen sie zusammen fort und ließen sich eine ganze Zeit lang nicht mehr in der Bibliothek sehen. So habe ich sie damals kennengelernt, obwohl ich Nick schon seit Längerem kannte. Er ist alle Augenblicke in der Bibliothek und ebenso schnell wieder draußen.
Nun, eines Abends ging ich zum Dinner zu ihnen, genau einen Tag, nachdem ich Alix’ Bekanntschaft gemacht hatte. Ich war entzückt. Ich fand alles wundervoll: die kleine Wohnung in einer Nebenstraße von King’s Road, die winzige Küche, wo ich zusah, wie sie ihre berühmten Spaghetti kochte, die wirklich sehr gut waren, und das Gästezimmer, in dem ich meinen Mantel ablegte und das tatsächlich recht klein ist. Vor allem aber mochte ich das Gefühl, dass mich Alix unter ihre Fittiche genommen hatte, jemand mit ihrer Kraft und Entschlossenheit – nach dem Schattenreich, in dem ich so lange gelebt hatte. Wir hatten ein bisschen Zeit für uns, bevor Nick kam, und sie erzählte mir ausführlich von ihrer wundervollen Kindheit auf Jamaika, von ihren Reisen um die ganze Welt mit ihrem Vater, und wie sehr sie dieses dynamische, erregende Leben vermisse. Wahrscheinlich ist es ziemlich langweilig, nach einer solchen Jugend nun als Frau eines Arztes und Wissenschaftlers in London zu leben, aber das Verblüffende ist, dass sie sich für Nicks Arbeit interessiert und immer bereit ist, ihm zu helfen. Ich finde es auch großartig von ihr, sich so viel Zeit für Leute zu nehmen, denen es an Kraft oder Selbstvertrauen fehlt, und ihnen Mut zu machen. Ich kenne kein stärkeres Stimulans als ein Gespräch mit Alix. Ich weiß, dass die Leute von ihr begeistert sind, und ich konnte sehen, wie sie ihnen von ihrer Kraft abgegeben hat. Es ist eine besondere Gabe, über die sie verfügt. Sie erzählte mir von ihrem Erfolg bei einem besonders unglücklichen Mann, und was für einen großen Eindruck das auf alle gemacht habe. Sie glaubt, es liege einfach daran, dass sie gerade der Typ von Frau sei, der Verständnis für seine Probleme hatte. Aber dann schloss sie mit einem Seufzer, dass dies alles doch sehr schwierig und niederdrückend sei und so gar nicht das, was sie von früher her gewohnt war zu tun.
Ich sagte ihr, dass sie damit, wie ich meinte, einen großen Dienst leiste.
Sie antwortete mit einem Seufzer. »Man glaubt das gern«, sagte sie. »Und wenn ich Nick damit helfen kann … Schließlich ist das jetzt meine Aufgabe. Und selbstverständlich bin ich absolut verschwiegen. Das wissen alle. Verschwiegen wie ein Grab.«
Und wieder äußerte ich meine Anerkennung.
»Und wie steht es um Sie?«, fragte sie. »Was tun Sie so, abgesehen von Ihrer Plackerei in dieser albernen Bibliothek?«
Ich erklärte ihr, was für eine Hilfe es nach dem Tode meiner Mutter für mich bedeutet haue, meine Arbeit in der Bibliothek fortsetzen zu können. Denn ich hatte begriffen, dass die Arbeit mein einziger Schutz war und dass allein schon die Einteilung des Arbeitstages, auch und gerade mit seiner ganzen Banalität, mir nach der aufwühlenden und zermürbenden Zeit, die hinter mir lag, geholfen hatte, meine innere Fassung zurückzugewinnen. Ja, wie schon die stille Anwesenheit von Dr. Leventhal und Olivia mir in der Schwindel erregenden Perspektive meiner plötzlichen Einsamkeit einen festen Punkt bedeutete …
»Oh, Sie sind Waise!«, rief sie mit komischer Emphase aus. »Liebster, sie ist eine Waise!«, begrüßte sie Nick, der gerade hereinkam. »Arme kleine Waise Fanny!« Sie sagte es so, dass man meinte, es wäre alles in Großbuchstaben geschrieben. Sie ließ es komisch und albern klingen, und ich fühlte mich plötzlich erleichtert. Seitdem nennen sie mich Fanny oder kleine Waise Fanny.
Danach sprachen wir nicht weiter, weil Nick einen Mann mitgebracht hatte, mit dem er im Pub Fingerhakeln (mit aufgestütztem Arm) geübt hatte, und dieser Mann, ein Ire, erzählte uns seine vollständige Lebensgeschichte. Sie war sehr interessant.
Ich machte mir Gedanken wegen der Gegeneinladung, obwohl ich in diesem Stadium schon die Grenze bei dem Iren zog, denn irgendwie spürte ich, dass Nancy etwas dagegen haben würde. Sie kocht neuerdings nicht mehr viel, und da wir so gut wie nie abends Gäste hatten, schließt sie gern früh das Haus ab, und jede Veränderung des gewohnten Ablaufs regt sie auf und macht ihr Angst. Ich erklärte es Alix, und da stellte sich heraus, dass ich mir deshalb gar keine Gedanken hätte machen müssen, weil sie im Allgemeinen außer Haus essen. Im Erdgeschoss ihres Wohnblocks befindet sich ein Restaurant, in dem sie es viel bequemer finden zu essen. Dies zu hören, war mir überaus angenehm, denn es hieß, dass ich mich ohne ein schlechtes Gewissen zu ihnen setzen, für mich selbst zahlen oder sie auch zugleich einladen konnte.
Ich ging schon in der nächsten Woche mit ihnen in dieses Restaurant, und das war wieder eine neue Offenbarung für mich. Als bloßes Esslokal gesehen, hat es den Vorteil der Bequemlichkeit, aber das, worauf es ankommt, ist, dass Alix hier ihre Freunde trifft. Sie gehört zu den glücklichen Frauen, um die sich, wo immer sie sich befinden, ein Kreis getreuer Freunde bildet. Ist man mit ihr zusammen, gehört man gleichsam einem Klub an. Besonders intim ist sie mit einer schrecklich aristokratischen italienischen Dame namens Maria. Auch sie lebt in diesem Wohnblock und auch sie hat eine faszinierende Vergangenheit. Maria und Alix sind so gut miteinander befreundet, dass sie sich die schlimmsten Dinge an den Kopf werfen, sich in jeder Weise beschimpfen können, nur, um am Ende in lautes Gelächter auszubrechen. Maria ist sehr eindrucksvoll in der etwas eckig-hochmütigen Art, wie man sie manchmal bei Norditalienerinnen findet. Ich sage lieber eindrucksvoll als schön. Sie ist eine stattliche, Achtung gebietende Erscheinung, aber sie hat die gleiche Ungezwungenheit wie Alix und verträgt sich auch mit allen übrigen Tischgenossen aufs beste. Ich hatte übrigens den Eindruck, dass die Stammgäste etwas früher essen und die Freunde von Alix sich erst später einfinden, sodass ein Abend in der Gesellschaft von Alix und Maria und natürlich auch von Nick ein unvergleichliches Erlebnis ist.
Ich war entzückt und wie geblendet. Wir verbrachten den ganzen Abend dort, und Maria saß an unserem Tisch und rauchte Zigaretten, und es wurde der klassische Bohemeabend, wie ich ihn sonst nur aus Büchern kannte. Maria ist anscheinend ziemlich reich, wenn auch ihre finanziellen Verhältnisse auf Grund ihrer Scheidung auf einigermaßen abenteuerliche Weise verwickelt sind. Diesem Problem widmen Alix und sie eine Menge Zeit. Ich begriff so viel, dass sie es vorzieht, in London zu bleiben, weil sie hier viele Freunde hat. Eine ganze Anzahl von ihnen kam an diesem Abend hereingeschneit, und sie begrüßte sie stets mit großer Begeisterung, ging von Tisch zu Tisch oder rief den Hereinkommenden einen Gruß zu. Manche dieser Leute deuteten zwar eine scherzhafte Fluchtbewegung an, aber niemand kam an Maria vorbei, die Nick als Italiens nuklearen Brückenkopf bezeichnete. »Wir haben alle Angst vor ihr«, erklärte er. »Wenn wir nicht sehr aufpassen, sorgt sie dafür, dass wir nichts zu essen bekommen. Sie kann Langweiler nicht ausstehen.« Maria tat so, als ob sie ihm eine Ohrfeige geben wolle, und er tat so, als wolle er zurückschlagen, und dann schlug sie wirklich zu. »Das ist nicht fair«, sagte er, und dann brachen beide in schallendes Gelächter aus.
»Das ist Fanny«, sagte Alix mit einem zeremoniösen Räuspern. »Seid nett zu ihr. Sie ist Waise.«
»Hallo Fanny«, sagte Maria und bot mir die Hand, die ich schüttelte. Sie hatte große Hände. »Willkommen in unserem Klub!« Ich war so bewegt, dass ich nur »Danke!« sagen konnte.
Ich gab mir Mühe, das alles noch am selben Abend, als ich im Bett lag, auszuarbeiten. Ich hatte ein Gefühl, als sei ich plötzlich aus der fürchterlichen Leere meines bisherigen Lebens befreit worden. Ich hatte mich so angestrengt, vernünftig und ohne übertriebene Erwartungen zu leben – denn meine Erwartungen haben mich leider oft zu Irrtümern verleitet –, und als nun etwas eintrat, was so in mein Leben eingriff und es erst lebendig machte, da fand ich es nicht ganz leicht, an mein Glück zu glauben. Nur Gutes konnte sich daraus ergeben. Lange lag ich wach, und nach einigem Nachdenken entschloss ich mich, alle Irrtümer und Missverständnisse von früher der Vergessenheit anheim zu geben. Ich hatte mir immer gewünscht, mit mir selber ins Reine zu kommen, und nun sah es so aus, als sollte ich genau die Hilfe bekommen, die ich dazu brauchte. Freunde können dein Leben verändern, und wenn du auch weißt, dass sie irgendwo existieren, triffst du sie nicht immer im rechten Augenblick. Doch jetzt schien der Weg vor mir leichter zu bewältigen zu sein. Ich war aus meiner Einsamkeit erlöst; man hatte mir eine neue Chance gegeben, und ich hatte große Hoffnungen auf eine Zukunft, welche die Vergangenheit auslöschen würde.