4 Allmählich wurde es mir zur Gewohnheit, mit den Frasers zu essen, ich vermochte kaum an mein Glück zu glauben. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass Alix offenbar Gefallen an mir fand und dass Nick jedenfalls meine Anwesenheit in ihrer Wohnung ohne Kommentar hinnahm. Ja, er pflegte sogar abends gegen sechs den Kopf durch die Tür zu stecken und mir zuzunicken, worauf ich nach meiner Handtasche griff und ihm nach draußen folgte, die forschenden Blicke Mrs. Hallorans im Rücken. Ich glaube nicht, dass ich ihnen meine Gesellschaft aufdrängte, so begierig ich auch auf die ihrige war. In der Anfangszeit unserer Beziehung rief ich sie nie an, außer um ihnen zu danken; aber diese Gespräche führten zu einer neuen Einladung oder, besser gesagt, zu der von Alix geäußerten Vermutung, dass ich nichts Besonderes zu tun hätte. Ich wollte Alix gegenüber nicht von meinen unausgefüllten Abenden sprechen, und so behauptete ich immer, dass ich schreiben wolle, worauf die regelmäßige Antwort kam: »Ach, wenn Sie weiter nichts vorhaben, können Sie doch ebenso gut zu uns herüberkommen.« Und das tat ich dann natürlich immer. Ich beschwichtigte mein Gewissen, indem ich ihr ein paar Einkäufe abnahm, und selbstverständlich bestand ich darauf, selbst für mich zu zahlen, wenn wir ins Restaurant gingen.

Ich glaube, sie sahen es beide gern, dass ich mich so sehr für die Arbeit von Nick interessierte. Bei ihm lagen die Gründe auf der Hand, bei Alix war es so, dass sie in Wahrheit von seiner Arbeit genug hatte. Sie betrachtete sie zwar voller Stolz, aber auch mit einem gewissen Groll, und zuweilen benahm sie sich so, als würde er sie betrügen, während er nur mit seiner Arbeit beschäftigt war. Die gleiche Einstellung hatte sie auch, wie ich bald feststellen konnte, meinem Schreiben gegenüber, obwohl ich nicht begriff, wieso meine literarischen Versuche ihren Seelenfrieden bedrohen konnten. Ich war viel zu froh, von der Last meiner Einsamkeit befreit zu sein – die sich hinter meinem Schreiben verbarg –, um weiter darauf zu bestehen. Freilich war es eine alte Gewohnheit, zu der ich immer dann Zuflucht nahm, wenn mich die Einsamkeit wieder bedrängte, gewöhnlich spät in der Nacht, wenn ich keinen Schlaf fand. Wenn ich mich dann an mein Tagebuch setzte, fand ich weit mehr einzutragen als früher, immer im Hinblick auf meinen noch einigermaßen konturlosen Roman. Nun sah ich aber, dass dieser Roman, der von der Bibliothek und ihren Besuchern handeln sollte – diesen kuriosen Leuten, die ich einst meiner Mutter so amüsant zu schildern pflegte –, dass dieser Roman durch die ungeheuere Menge an neuen Informationen, die ich unablässig aufnahm, aus seinem ursprünglichen Gleise gedrängt worden war. Ich notierte alles, wusste aber noch nicht, wie ich es verwenden sollte, denn es hatte alles mit den Frasers zu tun, und was konnte ich damit wohl anfangen? Aber in den stillen Stunden um Mitternacht, wenn im Hause längst alles schlief, eilte mein Stift über das Papier und gewann an Schnelligkeit und Kraft in dem Maße, in dem mich das Leben der Frasers absorbierte.

Wie gesagt, Alix mochte es nicht gern, dass ich schrieb. Sie sah darin ein Geheimnis, das ich vor ihr hatte. »Aber worüber schreiben Sie denn?«, pflegte sie mich zu fragen. Ich konnte es ihr nicht sagen, nicht weil ich befangen war, sondern weil das, was ich schrieb, noch keine bestimmte Form angenommen hatte. Ich hatte das Gefühl, es müsse unter Verschluss gehalten werden, bis es sich selbst für eine Form entschied, was früher oder später der Fall sein würde. Ich hatte eine abergläubische Furcht davor, mir etwas darüber entschlüpfen zu lassen. Ich versuchte es ihr zu erklären, aber es gelang mir offenkundig nicht, sie zu überzeugen, und so sah sie in meinem Verhalten nur einen Mangel an Loyalität. »Nick«, sagte sie dann, »unsere kleine Waise Fanny hat ein Geheimnis vor mir.« »Mein armes Baby«, antwortete darauf Nick mit halberstickter Stimme, da er sich gerade ein frisches Hemd über den Kopf zog, bevor wir alle zusammen ins Restaurant gingen. »Sag du ihr, sie soll mir alles erzählen«, forderte Alix, und beinahe meinte sie es ernst. Darauf kam Nick, mit den Armen schon im Hemd, aber mit nackter Brust, ins Wohnzimmer, trat auf Alix zu und wühlte sein Gesicht in ihr Haar. »Sie, der man Gehorsam schuldet«*, deklamierte er, um sich dann an mich zu wenden: »Geben Sie sich einen Ruck«, sagte er. »Am Ende setzt sie ja doch ihren Kopf durch.« So überwand ich mich denn, und mit einem leisen Gefühl von Verrat (aber dies war immer noch besser als meine Einsamkeit früher) erzählte ich ihr von den Personen – wobei sie erst zu Personen wurden, während ich erzählte –, die ich in meinen Roman einzuführen gedachte. Ich stellte fest, dass ich, wenn ich das Groteske im Verhalten meiner Figuren übertrieb, bei Alix ein momentanes Lachen auslösen konnte. Aber das meiste von dem, was ich ihr erzählte, ließ sie gleichgültig. »Hm«, meinte sie, »das kommt mir alles sehr seltsam vor. Ich kann mir nicht denken, dass irgendjemand über eine solche Gesellschaft von Habenichtsen und Schnorrern etwas lesen möchte.« Sie selbst las wenig, obwohl ihre Wohnung immer von teuren Magazinen überschwemmt war. Ich sehe Alix vor mir, wie sie geringschätzig die Seiten umblättert, als könne sie sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau besser angezogen oder verführerischer sein könnte als sie, wie sie solche Frauen mit ausgestrecktem Arm von sich weg hält, um sie endlich in eine Ecke zu schleudern und sich der Erneuerung ihres Nagellacks zu widmen, oder, wieder einmal, dem Versuch, die neue Frisur zu perfektionieren. Bei alledem wurde Nicks Aufmerksamkeit und abschließendes Urteil erwartet, und wenn wir drei uns dann um ihren Toilettentisch versammelten, um zuzuraten oder abzuraten, dann rückte die Frage nach dem, woran ich schrieb, selbstverständlich in den Hintergrund. Nach einer Weile verzichtete ich bei meinen Anrufen auf die Ausrede, ich wolle gerade schreiben, sondern fragte sie stattdessen, ob ich ihr etwas aus der Stadt mitbringen könne.

* Anspielung auf die Romantrilogie ›She‹ von Sir Henry Rider Haggard (18561925). A. d. Ü.

Einmal sagte sie zu mir: »Wenn Sie schon schreiben müssen, dann suchen Sie sich etwas aus, was die Leute interessiert. Sie können nicht erwarten, dass sie sich für eine Bande von Verrückten interessieren.« Sogleich war ich besorgt, mich von diesen Menschen zu distanzieren, wenn auch ihre Geister weiterhin in all ihrer Kläglichkeit meine Fantasie nicht losließen. »Ich müsste einen Roman schreiben«, fuhr Alix fort. »Wenn Sie wüssten, wie mein Leben war, bevor es mit mir bergab ging!« Und dann erzählte sie mir von ihren Schweizer Schuljahren und der Zeit in Paris, als sie das erste Mal über ihr Geld verfügen konnte, und von dem schönen Besitz auf Jamaika, auf den sie jeden Winter zurückkehrte, zu ihrem sie vergötternden Vater, einem prächtigen Mann, den sie auf seinen Reisen begleitete und dem es so viel Freude machte, eine so reizvolle und interessante Tochter an seiner Seite zu haben. »Die Leute hielten uns für ein Liebespaar«, berichtete sie. Nie war sie über den Tod ihres Vaters ganz hinweggekommen, so wenig wie über die Nachricht von seinem bevorstehenden Bankrott. »Armer Daddy«, sagte sie. »Er starb gerade noch rechtzeitig.« Aber sie ertrug nur schwer die Erinnerung an die Tage, als der Besitz zur Versteigerung kam. Sie hatte es zwar geschafft, einige Möbel zu retten und nach England zu bringen, aber sie ertrug es kaum, sie in ihrer neuen Umgebung zu sehen.

Ich betrachtete diese Möbel mit einem gewissen Respekt. Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich erwartete hatte, doch gewiss nicht diese schweren, stattlichen Stücke aus der Zeit Edwards VII., diese mit Aufsätzen versehenen Nussbaumkommoden und Tische, die olivgrünen Sessel und Sofas, deren Rückenlehnen mit Knöpfen besetzt waren – und alles zusammengepfercht in den so trostlos regelmäßigen kleinen Zimmern ihrer Wohnung in Chelsea. Ich konnte zwar Alix’ Möbel nicht bewundern, aber ich nahm zur Kenntnis, dass sie sozusagen von vornehmerer Abstammung waren als die meinigen, und ich verstand nun auch, warum die Brücken mit dem Zickzackmuster und die schmiedeeisernen Stehlampen in Maida Vale bei Alix so viel Heiterkeit ausgelöst hatten. Der Unterschied zwischen uns bestand darin, dass sie an ihren Erinnerungen hing und es zuließ, dass sie die Gegenwart überschatteten, während ich mir alle Mühe gab, mich von meinen Erinnerungen loszusagen, und nur die Zeit erwartete, wo sie mich nicht mehr beunruhigen würden. Dann wollte ich meine häusliche Umgebung abschütteln, wie ein Schmetterling aus seiner Puppe schlüpft, und einer Zukunft entgegenfliegen, die nicht voll gestopft war mit den Relikten von anderen Leuten. Alix dagegen wollte eine Vergangenheit bewahren, die nicht nur vergangen, sondern auch überholt war, da sie jetzt ihr Leben mit Nick teilte. Manchmal konnte ich spüren, wie sie beide gegeneinander abwägte, als ob … ja, als ob sie von ihnen im Stich gelassen worden wäre. Es war für mich schwierig, das zu verstehen; ich konnte nur ihre konsequente Haltung bewundern. Sie bekam schmale Augen, wenn sie Nicks Bücher auf dem Schreibtisch sah, der einst der Schreibtisch ihres Vaters gewesen war, und sie hatte die Vorhänge immer halb zugezogen, weil sie die metallenen Fensterrahmen oder auch den Blick auf die Häuser gegenüber nicht ertrug. In ihrem Wohnzimmer herrschte immer ein Halbdunkel, was irgendwie gut zu ihrer Raubtierart passte. Dies alles trug ich in meinem Tagebuch ein.

Auch die kleinen Einzelheiten, die dazugehören. Zum Beispiel, wie einst Melanie, ihr schwarzes Mädchen, allmorgendlich ihr Nachthemd zu waschen und zu bügeln pflegte. Wie die Houseboys immer erst heißes Wasser in die dünnen Teetassen gossen, sie dann leerten und abtrockneten, bevor sie darin den Tee servierten. Und die prächtigen tropischen Früchte zum Frühstück auf der Veranda. »Mangofrüchte kann man auch bei Harrods kaufen«, versuchte ich sie zu trösten. Aber sie schüttelte nur den Kopf. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie die kalten grauen Straßen hasste und wie sie Nicks depressive Patienten verachtete, und wie sie, die Tochter des reichen Zuckerrohrpflanzers, unzufrieden war mit dieser endlosen Folge von langweiligen, grauen Tagen mit langweiligen Besuchern wie zum Beispiel mir. Sie schien auf eine undefinierbare Weise auch von ihren Freunden enttäuscht zu sein. Und ich, die ich ein absoluter Neuling in diesem Kreis war, fühlte mich immer noch wie nur zur Probe angenommen.

Aber auf meine Weise war ich ihr durchaus notwendig. Ich war Zuhörer und Bewunderer; ich nahm ihr etwas von ihren Frustrationen, und ich teilte ihre Hochachtung vor ihrer Überlegenheit. Ich war loyal, wohlerzogen und vollkommen unkritisch. Aber sie fand mich langweilig, von Grund auf langweilig, gerade weil ich loyal, wohlerzogen und vollkommen unkritisch war. Und ich wusste genau, dass sie mir immer Menschen wie ihre Freundin Maria vorziehen würde, Menschen, die sie beleidigen und schockieren konnte, verleumden und vor den Kopf stoßen, nur um dann das gleiche von ihnen zu erfahren. Dies verschaffte ihr eine bestimmte Erregung, während ich es eher ermüdend und langweilig fand. Sie begrüßte dann Nick und mich mit einem wütenden Bericht all dessen, was Maria über sie einer gemeinsamen Freundin gesagt hatte. Es war eine der Freundinnen, mit denen sie täglich telefonierte. »Ich will dieses Biest nie wieder sehen«, verkündete sie, und zwar meistens an den Abenden, an denen ich sie ins Restaurant eingeladen hatte. Dann pflegte Nick zum Hörer zu greifen und eindringlich mit Maria zu reden, um dann den Hörer an Alix weiterzureichen, die »Alberne Kuh!« hineinrief und, nach einer langen, mit Beschuldigungen gespickten Erwiderung Marias, die Augen schloss und sich ihrem heimlichen, lustvollen Lachen überließ. Dann konnten wir endlich, mit etwa anderthalbstündiger Verspätung, ins Restaurant gehen, und ich durfte, wie es meine Absicht gewesen war, die Rechnung bezahlen.

Was mich weit mehr interessierte, obwohl ich es gleichzeitig auch abstoßend fand, waren ihre ehelichen Intimitäten. Ich erriet, dass hier der Grund lag, warum sie mich brauchten: Sie führten mir ihre Ehe vor, ohne mich in sie einzubeziehen. Ich lernte bald, ein ebenso freundliches wie unverbindliches Lächeln beizubehalten, wenn sie sich in die Augen sahen oder auch Zärtlichkeiten austauschten. Ich fühlte mich sehr allein und erregt. Ich war da, weil in dieser so vollkommenen Ehe etwas fehlte, weil die beiden einer rituellen Zurschaustellung bedurften, um einen bestimmten Grad von Spannung zu erhalten, den sie mit ihrer eigenen Fantasie nicht erreichten, weil sie zu sehr von sich selbst eingenommen, vielleicht auch zu verwöhnt, ja einfach zu träge waren. Ich war der Bettler bei ihrem Festmahl, der ihnen allein durch seine Gegenwart bestätigte, dass sie reicher waren als ich. Oder als ich auch nur hoffen konnte, es je zu werden.

Alix pflegte sich mit einem Lachen aus Nicks Umarmung zu befreien, ihn mit seiner Erregung allein zu lassen und mit einem Blick auf mich zu bemerken: »Sie ist ganz rot geworden! Wir haben sie schockiert.« Darauf lächelte ich freundlich und unverbindlich, während sie sich in einen Sessel warf, eine Zigarette anzündete und zu Nick sagte: »Wir müssen etwas für sie tun. Nick, du musst doch ein paar Männer kennen. Kannst du niemanden für Fanny finden? Sie wird Spinnweben bekommen, wenn sie andauernd nur hier mit uns herumsitzt. Es wird ihr allmählich langweilig werden.« Und Nick pflegte zu antworten: »Ich weiß, ich weiß«, mit dieser komischen schuldbewussten Miene, die er auch immer aufsetzte, wenn ihm Dr. Simek auflauerte. Ich lächelte ihnen zu und hoffte, ungeachtet meiner Abneigung gegen ihre Zurschaustellung, dass ihr Wunsch aufrichtig war, mich glücklich wie sie zu sehen, und dass sie irgendwie aus unserer Dreiergruppe eine Vierergruppe machen würden, dass es zwei Paare gab und wir endlich einander gleichgestellt waren. Ihre Grausamkeit machte mir nichts aus, ich sah darin nichts anderes als eine Nebenwirkung ihrer Exaltation. Ich kannte diese Euphorie, diese Besessenheit, die eine unbekümmert sich auslebende Liebe hervorruft. Und weil ich mich danach sehnte, sie noch einmal am eigenen Leibe zu erfahren, statt sie nur bei anderen zu beobachten, musste ich mich denn auf Alix und Nick verlassen.

»Aber zuerst müssen wir etwas für ihr Äußeres tun«, sagte Alix jetzt, und das bedeutete, dass ich mich vor ihren Frisiertisch setzen musste und sie mit Rouge und Lidschatten an mir herumtupfte, um mich dann umzudrehen und Nick zu zeigen. Er belohnte mich mit seinem kühlen, forschenden Blick, der mir erst recht die Röte in die Wangen trieb; wenn ich aber zurückgedreht wurde, damit ich mein Bild im Spiegel begutachtete, so war ich allerdings entsetzt, mein klares dunkles Gesicht so verschmiert zu sehen. Und während ich beobachtete, wie sich meine jetzt ein wenig anders geschwungenen dunkelroten Lippen beim Sprechen bewegten, war ich nur noch erstaunt, dass ich mit meinen ebenfalls neuen, so viel größer gewordenen Augen all diese Qual aufnehmen konnte. Jedenfalls bildete ich mir eine entschiedene Meinung über mein Aussehen, was bedeutete, dass ich alle Farbe aus meinem Gesicht rieb und schrubbte; und als ich im Badezimmer das tropfende Gesicht hob und mich aufrichtete, erblickte ich Nick, der neugierig am Türpfosten lehnte. Ich eilte an ihm vorbei ins Schlafzimmer, um mich zu frisieren, fand dort aber Alix vor ihrem Frisiertisch, wie sie den Kopf hin- und herwandte, um ihren Nacken zu studieren. Sie befestigte ihren Haarknoten mit Nadeln und Kämmen, steckte sich die Perlen ans Ohr und drückte ihre Zigarette aus. Mich hatte sie ganz vergessen.

Die beiden waren, zuerst und vor allem, Verliebte. Verliebte, die sich neckten und provozierten, um sich wieder zurückzuziehen. Es war ihnen zur zweiten Natur geworden, genauso wie der Wechsel von Befriedigung und gelegentlich auftretender Langeweile. Da ich seit langem in die Rolle eines Beobachters geschlüpft war, immer im Gedanken an meine literarische Arbeit, beschränkte ich mich aufs Zuschauen, was allerdings nicht ohne kleine Schocks abging, Schocks des Vergnügens wie auch der Enttäuschung. Ich beobachtete, wo sie tolerant waren und wo nicht, beobachtete ihre Freundschaftsangebote, die ebenso unvermittelt, wie sie gemacht wurden, auch wieder zurückgezogen wurden. Ich war sehr bemüht, ihre Aufmerksamkeit und ihr Wohlwollen zu gewinnen. Denn ich wusste, dass ich das alles leicht wieder verlieren konnte, aus dem einfachen Grunde, weil meine Reaktionen so leicht vorauszusehen, kurz, weil ich so beständig war. So bürgerlich, wie Alix es nannte, wobei sie sich keine Mühe gab zu verhehlen, dass dies für sie das schärfste Verdammungsurteil war. Ich selbst finde an einer bürgerlichen Lebensführung nichts Schlechtes. Ich bin für normales Benehmen, für gute Manieren und die gebührende Rücksicht auf andere Menschen. Ich bin für Ordnung, Diskretion und Zuverlässigkeit. Auch für Ehrlichkeit. Und Ehrgefühl. Aber ich bin mir darüber klar, dass dies alles nicht viel zu sagen hat, sobald Liebe und Freundschaft im Spiel sind, und auch darüber, dass charmante Unverschämtheit ein Schlüssel zum gesellschaftlichen Erfolg ist. Dass sie jedenfalls sehr viel mehr geschätzt wird, wie mir Alix beipflichtete, als ich ihr einmal etwas von diesen Gedankengängen mitteilte.

Und trotzdem hatten sie beide eine gewisse Achtung vor mir, vielleicht war es auch nur Toleranz oder ein anerzogener Geschmack, jedenfalls etwas ganz Neues. Sie wiesen mir die Rolle ihrer Schülerin zu, und in diesem Sinne sorgten sie für mich. So ließen sie es zum Beispiel nie zu, dass ich ein Taxi nahm, wenn wir aus dem Restaurant kamen, sondern bestanden darauf, mich in ihrem Auto nach Hause zu bringen. Alix fragte mich ständig über meine Liebesaffären, über mein Einkommen und über meine Wünsche aus, worauf ich in schlichter Ehrlichkeit antwortete. Und doch sah ich, mit welcher Erleichterung sie sich dann wieder dem Ritual der stürmischen Beleidigungen zuwandte, die sie mit Maria austauschte. Maria war auf ihre Weise eine Kritikerin. Maria schärfte ihre Sinne. Und wenn Alix einen Streit zu führen hatte, eine Intrige zu spinnen, ein Geheimnis zu erforschen, dann war sie wie erlöst von der kalten, grauen Langeweile, in der mein Leben sich ganz offensichtlich abspielte.

Mein Verhältnis zu Nick und Alix glich bald einer Art Sucht, der ich mich hingab in dem Bewusstsein, wie gefährlich sie war, aber auch wohlwissend, dass ich durch sie mehr bekam als durch meine gewohnte geordnete Lebensweise, mehr Geselligkeit, mehr Spaß und Aufregung, als ich je hätte hoffen können, allein zu finden. Manchmal überfiel mich Traurigkeit. Dann tauchten die Bilder wieder an die Oberfläche des Bewusstseins, Bilder der Resignation und jener Geduld, mit der ich nie viel Geduld gehabt hatte. Ich wollte die Last meiner Erinnerungen samt Nancy, Dr. Constantine, Dr. Simek und überhaupt sämtlichen Doktoren, die ich täglich sah (und ich musste an Goyas Dr. Arrieta denken) – ich wollte diese Last eintauschen gegen die unberechenbare, sich in Improvisationen gefallende, aufregende Gesellschaft der Frasers, gegen ihre Unrast, ihre Grausamkeit und ihre Freundlichkeit. Ich nahm sie, wie sie nun einmal waren, mit allen guten und schlechten Eigenschaften. Ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.

Was Maria betrifft – ich fand sie von merkwürdig friedlicher Wesensart. Sie war mir gegenüber freundlich auf eine lässige, aber durchaus höfliche Weise, und sie begrüßte mich stets mit einem förmlichen Händedruck, bevor sie sich Nick und Alix zuwandte, mit denen sie den Spaß an beißenden und frechen Scherzen teilte. Ich sah in ihr ein Zubehör von Alix’ und Nicks Leben, gegen das ich nichts einzuwenden hatte, das mich nicht einmal besonders interessierte. Ich beschäftigte mich mit meinem Dinner und überließ die beiden dem Witz Marias. Ihre Streitereien und Neckereien gingen wie ein Sturmwind über meinen Kopf hinweg, während ich Kräfte sammelte für das weitere Studium ihres Verhaltens. Und selbstverständlich schrieb ich alles auf.

Das Restaurant war immer überfüllt, immer voll von Rauch und Lärm. Stimmen schwollen plötzlich an; über die Tische hinweg flogen die Scherzworte; Neuankömmlinge wurden mit Spottrufen oder lautem Hallo begrüßt. Jeder kannte jeden oder wusste über ihn Bescheid. Es herrschte eine Art obszöner Aufrichtigkeit, und ich kannte bald die Geheimnisse jedes Paares oder Trios; aber diese Geheimnisse interessierten mich kaum, da sie für meine Untersuchungen ohne Bedeutung waren, und so überhörte ich die bissigen Kommentare. Freilich überraschte mich ein wenig der allgemeine Mangel an Zurückhaltung wie auch die Hartnäckigkeit, mit der Alix die anderen ausfragte. Aber sie schienen das alles normal zu finden, und vielleicht war es normal. In jedem Fall schienen sie Spaß daran zu haben. Es hatte für sie die befreiende, aufrüttelnde Wirkung, wie man sie aus der Gruppentherapie kennt, wo die Teilnehmer aufgefordert werden, sich gegenseitig zu kritisieren oder voreinander zu beichten, worauf ihnen dann angeblich die Kraft zuwächst, ein mehr realitätsbezogenes Leben zu führen. Gewiss, eine Tendenz zur Brutalität war nicht zu verkennen, aber, merkwürdigerweise, nicht zur Feindseligkeit. Man nahm die Menschen, wie sie waren. Ihre Sünden oder Verbrechen verzieh man ihnen oder betrachtete sie doch mit Nachsicht, und sogar für Untreue und Verrat hatte man Verständnis. Manchmal gab es einen ruhigen Abend, wenn nicht besonders viel Leute aufkreuzten, und mit Erstaunen bemerkte ich, wie zäh sich die Unterhaltung dahinschleppte. An unserem Tisch saß Maria, und sie und Alix wechselten nur gelegentlich eine Bemerkung. Ab und zu gähnten sie. Nick war nie sehr gesprächig, jedenfalls nicht mehr, nachdem er Maria begrüßt hatte. Sie, ihrerseits, erwies ihm enormen Respekt, wie übrigens jedermann, und sprach voller Ehrerbietung von seiner Arbeit. Aber weit häufiger als die stillen waren die lauten Abende, wenn Gelächter losbrach, die Gesichter sich röteten und das wunderbare Gefühl herrschte, die Maske abgeworfen und alle Höflichkeit aufgegeben zu haben. Es war etwas wie ein geheimes Einverständnis und Komplizentum, etwas wie das Ehrgefühl, das Diebe unter sich entwickeln sollen: das alles war es, was mich von meiner Steifheit und Ängstlichkeit befreite, denn meine Hoffnung war, so zu werden wie diese Freunde, die meine neuen Vorbilder waren.

Und diese Abende befreiten mich von den Abenden, wie ich sie früher verbracht hatte, mit Nancy, die mir stumm das Essen auf einem Tablett brachte, und mit der ich manchmal in der Küche zusammen fernsah. Diese früheren, einsamen Abende, an denen ich für gewöhnlich zu früh zu Bett ging und viel mehr Schlaf bekam, als ich brauchte. Und wo der einzige Laut das Geräusch war, das weit unten die sich schließende Fahrstuhltür machte, dem aber kein Schritt auf dem Flur folgte, niemand, der sich unserer Tür näherte. Wir bekamen keinen Besuch, denn an den alten Gewohnheiten änderte sich nichts. Und von eben diesen alten Gewohnheiten war ich befreit worden, und dankbar saß ich in dem verrauchten, lauten Restaurant und bekam weit weniger Schlaf, als ich brauchte, und das alles dankte ich Nick und Alix.

Auch von meinen Sonntagen erlösten sie mich, wenn sie es wünschten. Solange ich denken kann, habe ich mich vor dem Sonntag gefürchtet, diesem Tag, gewidmet der Stille, dem Ausruhen, oder auch langen Spaziergängen und dem Besuch der National Gallery. Als meine Mutter noch lebte, war dieser Tag nicht ganz ohne Annehmlichkeiten. Nancy zog ihr Dunkelblaues an, und zu dritt aßen wir im Speisezimmer am großen Prunktisch. Nach dem Lunch zogen sich die beiden zurück, und nun wurde es noch stiller, als ob alle Uhren angehalten worden wären. Ich unternahm einen Spaziergang von zwei bis drei Stunden, bis es Zeit für den Tee war, den Nancy auf einem ihrer Tabletts servierte. Meine Mutter war nach ihrer Mittagsruhe ein wenig gekräftigt, und nun kam der Moment, wo ich ihr das, woran ich gerade arbeitete, vorlas.

Aber in der letzten Zeit waren die Sonntage eine Qual gewesen. Ich könnte Nancy kaum bitten, sich mit mir an jenen Tisch zu setzen; sie würde es für ungehörig halten, wenn ich die Rolle meiner Mutter übernehmen wollte, denn sie sieht in mir immer noch ein Kind. Deshalb gehe ich für gewöhnlich aus. Nancy verlässt nie das Haus, außer wenn es sein muss, und ich finde, dass sie sonntags die Wohnung für sich haben sollte. Manchmal gehe ich zu meiner Tante Julia, der Schwester meines Vaters, aber ich bin nicht darauf erpicht, es besonders oft zu tun, denn sie will mit mir immer nur über Börsenkurse sprechen, und ich kann mich wirklich nicht in dem Maß für Geld interessieren, dass ich finanzielle Transaktionen vornähme, wie es Julia tut. Zuweilen besuche ich Freunde auf dem Land; es sind sehr alte Freunde, ein Ehepaar, das ich allmählich ziemlich langweilig finde. Ich vermute, dass es ihnen mit mir nicht viel besser geht. Übrigens besuche ich auch die Benedicts, die Eltern von Olivia. Sie sind immer unendlich freundlich, und ich fühle mich bei ihnen wie zu Hause, wenn auch ihr Zuhause durchaus verschieden ist von dem meinen. Olivias Mutter ist von Harold Wilson in den Stand eines Pairs auf Lebenszeit erhoben worden, und sie spricht von nichts anderem als der Labour Party. Der Vater von Olivia ist ein gemütlicher, aber doch zurückhaltender Typ, von Beruf Justitiar bei irgendeiner Firma. David, Olivias Bruder, ist Arzt, und er hat uns beiden die Stellung in der Bibliothek verschafft. Man hatte immer vermutet (und, soweit es meine Mutter betrifft, innig gehofft), dass ich einmal David heiraten würde. Beim Lunch im Hause der Benedicts geht es munter und gesprächig zu, und den Abschluss bildet regelmäßig ein allgemeines Nüsseknacken. Das Essen ist eher mäßig, was mich bei einer jüdischen Familie überrascht. Aber ich bin gern bei ihnen und ich mag sie alle sehr. Nur weiß ich, dass ich früh genug gehen muss, damit sie den Nachmittag allein miteinander verbringen können, denn sie hängen alle sehr aneinander und haben in der Woche kaum Gelegenheit, sich zu sehen. Ich gehe dann in die National Gallery oder ins British Museum oder auch in die Tate Gallery. Wenn ich nach Hause gehe, finde ich immer, dass die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr die traurigste Stunde der ganzen Woche ist.

Da ist es dann schon eine entschiedene Verbesserung, in Nicks Wagen die Autobahn entlangzurasen, mit Alix im Fond, die vulgäre Lieder singt. Die Absicht ist stets, einen der Gesundheit förderlichen Spaziergang zu machen oder Freunde zu besuchen oder eine Gelegenheit zum Teetrinken zu finden, aber irgendwie kommen wir nie aus dem Wagen heraus. Oder wenn doch, dann findet es Alix zu kalt, und so wird nie etwas aus dem Spaziergang. Aber unsere Tee-Safari ist immer sehr amüsant. Wir treten als Mitarbeiter irgendeines Hotel- oder Restaurantführers auf, und wenn wir gegessen haben, besteht Alix darauf, den Geschäftsführer beziehungsweise die Geschäftsführerin zu interviewen. Sie hat das Talent, die Leute zum Reden zu bringen, und auf der Heimfahrt kommentiert sie die erhaltenen Informationen und bringt uns mit ihren Bemerkungen zum Lachen. Aber manchmal überkommt sie plötzlich Langeweile, und sie verstummt und denkt zweifellos an die Sonntage auf Jamaika, indes sich vor uns die grauen, uninteressanten Vororte ausbreiten und wir nach London zurückfahren. Ich spüre dann, dass sie allein sein wollen, und verabschiede mich. Am Sonntag geht niemand ins Restaurant, und so verbringe ich den Abend allein. Aber jetzt habe ich schon wieder mehr Stoff zum Schreiben, und da macht es im Grunde nichts aus, wenn ich allein bin.

Ein fürchterlicher Sonntag kommt jeden Monat, wenn ich Miss Morpeth, meiner Vorgängerin in der Bibliothek, einen Besuch mache. Miss Morpeth befindet sich im Ruhestand und bewohnt eine leicht überheizte Wohnung in Kensington. Die Aufgabe, sie einmal im Monat zu besuchen und nach ihr zu sehen, war auf mich gefallen. Irgendwie hat mich die wissenschaftliche Leitung des Instituts dazu bestimmt. Man glaubte wohl, dass ich mit alten Leuten gut umgehen könnte. Ober die Angelegenheit wurde rätselhafterweise an einem Nachmittag entschieden, als ich beim Zahnarzt war, und als es mir Dr. Leventhal mitteilte, war ich noch so froh, wieder zurück zu sein und an meinem Schreibtisch zu sitzen, dass ich zustimmte. Das Traurige dabei ist nur, dass diese Besuche weder mir noch Miss Morpeth Freude machen, die ihrerseits einen Besuch von Dr. Leventhal mehr zu schätzen wüsste, ganz zu schweigen von der bestmöglichen Wahl, Nick, von dem sie geradezu schwärmt.

Miss Morpeth hat die ganze Reizlosigkeit einer unansehnlichen älteren Frau, die nicht besonders gesund ist. Ich höre, wie sie sich humpelnd der Tür nähert und all die Schlösser öffnet und Riegel zurückschiebt, die sie zu ihrem Schutz für unerlässlich erachtet. Ich folge ihr über den Korridor, bemerke ihren Stützstrumpf, ihr sich lichtendes Haar und ihren gelblichen Nacken. Sie trägt gern dunkelgrüne Röcke mit dazu passenden Strickjacken und einer Kette aus Bernsteinperlen. An der rechten Hand hat sie den Trauring ihrer Mutter. Sie lebt wie ausgesperrt von allem, was für ihre Mitmenschen lebenswichtig ist, und ich glaube, sie kann mich nicht leiden, nicht nur, weil ich ihre Nachfolgerin bin, sondern auch, weil ich jung bin, weil ich mich ohne Schmerzen bewegen kann, weil mich mein Körper nicht demütigt. Miss Morpeth ist sehr gewissenhaft und versucht, ihrer Feindseligkeit, deren sie sich schämt, Herr zu werden. Bei jedem meiner Besuche bereitet sie mir eine richtige Kinderteemahlzeit mit hauchdünnen gebutterten Brotscheiben und Marmelade und einem Battenbergkuchen* zum Schluss. Es steht alles in der Küche auf einem Teewagen bereit, und ich habe weiter nichts zu tun, als diesen Teewagen ins Wohnzimmer zu rollen, während Miss Morpeth behutsam nach dem Kessel greift – ihre Hand ist rot, mit blauen Venen, die die dünne Haut fast sprengen – und das Wasser in die noch von ihrer Mutter stammende Teekanne gießt, Wasser, das schon ein- oder zweimal gekocht hat, so eilig ist es ihr damit, meinen Besuch hinter sich zu haben.

* Eine Art gefüllter Sandkuchen, mit Marzipanguss überzogen. A. d. Ü.

Wenn sie sich dann in ihrem Sessel niedergelassen hat und die schon rituelle Frage an mich richtet, ob ich lieber mit dem Kuchen oder mit dem Butterbrot anfangen wolle, und wenn Teller und Tassen an ihrem Platz stehen und wenn sie ein wenig später ihre Zigarette mit dem goldenen Feuerzeug angezündet hat, das wir ihr zum Abschied geschenkt haben, dann kommen wir endlich zu den aktuellen Themen. Auch hier ist ein Ritual zu beachten. Zunächst fragt sie mich nach der gegenwärtigen Zahl der Benutzer der Bibliothek, darauf nach dem Eingang neuen Materials in den verschiedenen Abteilungen, schließlich nach Dr. Leventhal, wobei sie sich genau nach meiner Meinung über seine Fähigkeiten erkundigt, denn Dr. Leventhal gehörte nicht zu ihren Lieblingen, um endlich zu der Frage zu kommen, die ihr besonders am Herzen hegt: nach Nicks beruflicher Laufbahn. Daran ist sie leidenschaftlich interessiert, und seine Besuche in der Bibliothek waren die Höhepunkte in ihrem Dasein als Bibliothekarin. Sie wäre bereit gewesen, alles aufzugeben, wenn sie ihm damit hätte helfen können; sie quälte sich ab mit Mappen voller Fotografien, bis er sie fest an den Schultern packte, sie herumdrehte und sie an den Schreibtisch zurückführte. Er war ganz reizend zu ihr, und er brachte Alix mit zu der kleinen Abschiedsparty für sie. Ich erinnere mich noch dunkel, wie er sie beide miteinander bekannt machte, obwohl das noch zu einer Zeit war, als ich Alix eigentlich noch nicht kannte. Ich erinnere mich, wie Nick sagte: »Jetzt können Sie alles tun, wozu Sie Lust haben«, und wie er sich dann umwandte, um Alix ein Glas Sherry zu geben. Sie versprachen, Miss Morpeth zu besuchen, und sie sagten, sie hofften, sie so oft zu sehen, wie sie es mit ihnen aushalten würde. Aber ich glaube nicht, dass sie sie je besucht haben. Und offen gesagt, wenn ich in ihrem stickigen Zimmer sitze und »das Brot mit Sorgen« esse, ein Brot, das wir in Wahrheit mit niemandem brechen wollen, verstehe ich ihr Widerstreben, dieses Schattenreich zu betreten, und ich vergebe es ihnen.

Das Ritual wird in gewohnter Weise fortgeführt. Nachdem ich ihr gesagt habe, dass Nick und Alix wohlauf seien (und dabei ein schlechtes Gefühl hatte, denn wenn ich auch mein Interesse an den beiden für berechtigt halte, ist mir ihr Interesse an ihnen ziemlich gleichgültig), frage ich sie nach ihrer bevorstehenden Reise nach Australien. Miss Morpeth hatte für die Zeit ihres Ruhestands den vernünftigen Plan gefasst, die weite Reise bis nach Melbourne zu unternehmen, um ihre dort wohnende Nichte zu besuchen. Wir waren alle der Meinung gewesen, dass dies das Allerbeste für sie sei, da sie den Winter in England immer schwerer ertrug und es Zeiten gab, wo sie nicht ohne Stock ausgehen konnte. Nach einigem Verzug war der Plan nun bis zur Unwiderruflichkeit gediehen, und so erörtere ich jetzt mit Miss Morpeth, wo man am besten Leichtgepäck kauft, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie sie überhaupt etwas zu tragen vermag. »Ich habe die Absicht«, erklärt Miss Morpeth und macht ein Gesicht, als gebe sie hier einem etwas gewagten Einfall nach, »Nick beim Wort zu nehmen und auf sein freundliches Angebot zurückzukommen, mich zum Flughafen zu fahren.« »Selbstverständlich«, stimme ich ihr bei, »er wird es mit dem größten Vergnügen tun.«

Nach diesem Gedankenaustausch ist der Besuch praktisch zu Ende. Ich rolle den Teewagen in die Küche zurück und bestehe darauf, das Geschirr zu spülen. Das nimmt viel weniger Zeit in Anspruch als die empfindlichen Tassen abzutrocknen, was Miss Morpeth besorgt, um sie alsdann im Küchenschrank, jede an ihrem Haken, aufzuhängen. Wie es mir geht, fragt sie nie. Damals, als meine Mutter krank war, war sie sehr freundlich, aber vielleicht meint sie, dass ich jetzt keine Freundlichkeit mehr brauche. Vielleicht hat sie sogar mehr gegen mich, als ich ahne. Ich vergesse es immer wieder, dass sie es nicht leiden kann, beim Abschied geküsst zu werden, bis es zu spät ist und sie mir beleidigt ihr Gesicht entzogen hat. Wie ein Kind küsse ich immer jeden oder halte mein Gesicht zum Kuss hin, und es versetzt mir einen kleinen Schock, wenn sich ein Gesicht von mir abwendet. Ich gehe. Irgendetwas veranlasst mich, draußen vor der Tür zu warten, während all die Ketten, Riegel und Schlösser für den Abend betätigt werden. Doch dann springe ich die Treppe hinunter, wobei meine Energie gesteigert wird von der Vorstellung, wie Miss Morpeth sich zu ihrer sonntäglichen Hausaufgabe niedersetzt, dem Brief an ihre Nichte. Bis zu dem Augenblick, wo sie, wie ich vermute, gerade das Komma hinter die Anrede »Meine liebe Angela« gesetzt hat, bin ich bereits die vier Treppen hinuntergelaufen und schon halbwegs an der Bushaltestelle.

Denn inzwischen bin ich es satt, gefällig und vernünftig zu sein, und ich fange an, mich über diese Beanspruchung meiner Zeit zu ärgern. Ich habe es eilig, Miss Morpeth zu verlassen, sogar eilig, nach Hause zu kommen. Um diese Jahreszeit, wenn die Blätter von den Bäumen fallen und die Tage kürzer werden, überkommt mich immer Melancholie. Sehnsüchtig denke ich an die Frasers, aber ich weiß, dass sie um diese Zeit gern allein sind, und deshalb rufe ich sie nicht an. Irgendwie vergeht der Abend; ich sehe mit Nancy fern, oder ich schreibe. Das Leben ist schwierig, wenn man keine Familie hat, aber es ist auch schwierig zu erklären. Ich gehe immer früh zu Bett. Und freue mich immer auf den – von den anderen so gefürchteten – Montagmorgen.