6 Und es sollten noch viele Abende vergehen, an denen ich nicht schrieb. Aus einem neuen Gefühl von Sicherheit heraus begann ich, alles in einem anderen Licht zu sehen. Jetzt hasste ich diese nervöse, künstliche Erregung, in der ich die Worte in mir ablaufen ließ, während ich mich daran machte, sie zu Papier zu bringen. Ich empfand Widerwillen gegen die lange Isolation, die einem das Schreiben auferlegt, gegen diese klösterliche Zurückgezogenheit und das Gefühl des Ausgeschlossenseins. Ich empfand Abscheu vor dem alternativen Leben, das das Schreiben angeblich bedeutet. Jetzt wurde mir auf einmal klar, was es für mich wirklich mit dem Schreiben auf sich hatte und hat. Es ist die Buße dafür, nicht glücklich zu sein, ein Versuch, die anderen zu erreichen und sich so ihre Liebe zu erwerben. Es ist der instinktive Protest dessen, der erfährt, dass er keine Stimme vor dem Tribunal dieser Welt hat und dass niemand für ihn sprechen will. Ich gäbe meine gesamte Produktion von Worten hin, von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, wenn ich dafür einen leichteren Zugang zur Welt bekäme und wenn ich sagen dürfte: »Das tut mir weh – das mag ich nicht – das will ich haben.« Oder auch nur: »Seht mich an!« Und dazu stehe ich. Denn sobald eine Sache erst einmal bekannt geworden ist, kann sie nicht wieder unbekannt werden. Allenfalls kann man sie vergessen. Und Schreiben ist der Feind der Vergesslichkeit und der Gedankenlosigkeit. Für den Schriftsteller gibt es kein Vergessen, nur ein unendliches Gedächtnis.
Als ich nun von dem angesehenen amerikanischen Magazin einen schmeichelhaften Brief erhielt, mit der Mitteilung, dass meine Geschichte über die griechischen Abenteuer Dr. Leventhals in Kürze erscheinen würde, da fühlte ich keineswegs den Drang, mich nun hinzusetzen und eine neue Geschichte zu schreiben. Im Gegenteil. Ich sah in meinem Erfolg nur den passenden Abschluss einer falsch gewählten Karriere und die Gefahr, dass zukünftige Anstrengungen und neuerliche Einsamkeit damit verbunden sein könnten. Jetzt aber konnte ich mit einem Fanfarenstoß enden, um nie wieder zu schreiben.
Natürlich freute ich mich, aber wie über etwas Nebensächliches. Ich fand, dass ich diese Belohnung nicht verdient hatte, weil ich mir nicht mehr Belohnungen dieser Art wünschte. Aber Olivia freute sich, wenn auch nur, weil sie alles so viel ernster nimmt als ich. Und James war entzückt. Als ich es ihm erzählte, verzog sich sein hochmütiges Pferdegesicht zu einem Lächeln, wie ich es nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sein Lächeln galt dem Magazin, das er in den Händen hielt, und ich wusste auf einmal, dass ich mir dieses Lächeln nur auf mich gerichtet wünschte. Sieh doch mich an, wollte ich sagen, sieh mich an! Damals, und auf diese Weise geschah es, dass ich mir darüber klar wurde, was das Schreiben für mich bedeutete.
Natürlich rief ich Alix an, denn solche Nachrichten hört sie gern. Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus und sagte: »Großartig! Das muss gefeiert werden.« »Aber auf meine Rechnung«, erwiderte ich. »Das will ich hoffen«, war die Antwort. »Soll ich James dazubitten?«, fragte sie. Die Frage machte mich verlegen, denn ich hatte so viel an James gedacht, dass ich an dieser kleinen Feier keine Freude gehabt hätte, wäre er nicht dabei gewesen. Also entschloss ich mich, ganz aufrichtig zu sein, und sagte: »O ja, bitte! Vier ist eine bessere Zahl als drei, findest du nicht?« Ich überlegte mir, ob ich sie vielleicht beleidigt hätte, denn es entstand eine kurze Pause, bevor sie sagte: »Ich persönlich finde, dass die Zwei die beste aller Zahlen ist«, und ich stimmte ihr so entschieden bei, dass ich mich damit überzeugte, wir hätten über dieselbe Sache gesprochen. Vielleicht hatten wir es; genau werde ich das nie wissen.
Wie schön sind die Anfänge! Ich war nicht in James verliebt, aber es gab nun etwas, um dessentwillen es sich lohnte, morgens aufzustehen, etwas anderes als diese zermürbende Alltagsroutine, die aus mir am Ende eine Art Miss Morpeth machen würde, obwohl ich keine Nichte in Australien habe, die mir meinen Lebensabend verschönen könnte. Ich wollte auch keine Mrs. Halloran werden, noch immer in Form und doch verdammt zur Hoffnungslosigkeit. Für mich keinen Gin, bitte, keine Flasche im Kleiderschrank eines Hotelzimmers in South Kensington, keine Abende, die ich auf dem Bett liegend verbringe, in einem Morgenrock, der zu jugendlich und zu rosa ist, während ich für Leute, die die Zukunft fürchten, ausgetüftelte Horoskope stelle. Wie dankbar empfand ich die Erlösung von diesem Albtraum, der mich, solange ich denken konnte, heimgesucht hatte. Von dieser Last befreit, atmete ich freier, schlief ich fester und aß mit mehr Appetit. An Nancy störte mich nicht länger ihr Hin- und Hergeschlürfe oder ihr Gemurmel, denn es war nicht mehr gleichbedeutend mit der Düsternis eines Gefängnisses. Ja, ich begann sie wieder gern zu mögen, wie ich sie vor langer Zeit geliebt hatte, als ich noch, ein kleines Kind, auf sie zugelaufen war, um von ihr geküsst zu werden, und ich dachte mir kleine Überraschungen für sie aus. Ich begriff, dass auch sie sich sehr einsam fühlen musste, zumal sie schüchtern war und nicht leicht Bekanntschaften machte. Eines Morgens sprach ich, als ich das Haus verließ, ein paar Worte mit Mr. Reardon, dem Portier, und verabredete, dass er, wenn er abends frei sei, in meine Wohnung kommen und Nancy auf eine Tasse Tee besuchen sollte. Er könne eine halbe Stunde bei Nancy bleiben und ihr seine Abendzeitung dalassen, die er der Pferderennen wegen jeden Mittag kaufte. Damit auch Nancy ein bisschen froher war.
Ich fühlte mich stark und energiegeladen, ich fühlte mich – jung. Ein Gefühl, das ich noch nie zuvor gehabt hatte. Ich hatte es immer für selbstverständlich gehalten, Pflichten zu übernehmen, die den andern unangenehm waren. Ich hatte die Schecks ausgeschrieben, Rechnungen und Steuern bezahlt, als ich noch nicht einmal zwanzig war, und ich war es immer, die den Doktor kommen ließ. Und mich bat Nancy, ihr ein neues Kleid oder eine neue Strickjacke zu kaufen. »Wieder die blaue, Miss Fan. Die, die Ihre Mutter so gern hat.« Immer wenn ich Nancy ansah, entdeckte ich irgendein Kleidungsstück an ihr, das ich entweder für sie oder für meine Mutter gekauft hatte, und ich fühlte wieder die Traurigkeit dieser Nachmittage im Warenhaus, wenn ich allein in bescheidenen Nachthemden, dunklen Strümpfen und Kleidungsstücken von gediegenem, zurückhaltendem Geschmack kramte, um dann alles zur Begutachtung nach Hause zu bringen, in die klösterliche Stille unserer Wohnung. Sie sahen es so gern, meine Mutter und Nancy, wenn ich für sie einkaufte. Aber ich selbst fand es abscheulich. Für mich war es die Parodie alles Einkaufens, so wie ich es mir vorstellte. Es widersprach meinem Trieb, mir selbst eine Freude zu machen, wodurch es mir möglich gewesen wäre, anderen eine Freude zu bereiten.
Ich hatte mich nie für einen interessanten Anblick gehalten, aber jetzt konnte ich nicht umhin festzustellen, dass meine Augen größer geworden waren und mein Ausdruck von freudiger Erwartung belebt war. Ich begann, meine Erscheinung im Spiegel zu studieren. Ich musterte meine Kleider und legte die langweiligen praktischen beiseite. Ich rangierte meine schweren Wanderschuhe aus und schenkte Nancy meine Marinejacke. Ich kaufte mir ein paar Pullover und eine wollene Hemdbluse, alles in hellen, frischen Farben, Himmelblau und Weiß. Ich grub ein hellgraues Kleid wieder aus, mit sehr artigem weißen Krägelchen und einer schwarzen Schleife am Hals. Ich hatte es seit ein paar Jahren nicht mehr getragen, sondern es ordentlich zusammengelegt beiseite getan, weil ich meinte, dass es bei dem Leben, das ich führte, zu stilisiert wirken könnte. Aber als ich es jetzt mit aufgeschlosseneren Sinnen ansah, fand ich, dass ich außergewöhnlich interessant darin aussah. Ich begann, mich auf das Anziehen am nächsten Tag zu freuen.
Mein Verhalten schien ganz allgemein einen Wandel zum Besseren durchgemacht zu haben; es war weniger Schärfe in mir und mehr Aufnahmebereitschaft. Ich fühlte, wie ich genussvoll in ein Miasma der Freundlichkeit hinabglitt. Ich fand Vergnügen an meiner täglichen Arbeit in der Bibliothek, nicht das künstlich konstruierte Vergnügen, wie ich es für meine Geschichten zu sammeln suchte, sondern die ursprünglichen menschlichen Eigenarten faszinierten mich. Ich sprach mit niemandem über diesen Wandel in mir, über das Gefühl, das ich hatte, das Leben habe sich mir geöffnet, und zwar nicht nur zur Besichtigung, sondern, was mehr bedeutete, damit ich aktiv daran teilnahm. Mrs. Halloran hatte es schon seit längerem aufgegeben, auf ein Wort von mir zu warten, das das häufige Erscheinen Nicks kommentierte, der abends den Kopf durch die Tür steckte, um mich abzuholen. Ich wusste, dass ich sie enttäuscht hatte, aber ich hatte keine Lust, mich ihr mitzuteilen. Denn für mich war es ganz neu, irgendetwas für mich allein zu haben, obwohl ich, von ihrem Standpunkt aus gesehen, zu den ohnehin Bevorzugten gehörte, mit meiner Wohnung, meiner Anstellung und meinem festen Einkommen. Ich konnte ihr nicht gut sagen, dass ich gerade dabei war, mein Leben wirklich zu beginnen. Sie würde mich, wenn es je zu einem solchen Gespräch käme, nur anstarren und mich fragen, was mich denn bisher daran gehindert hätte. Und dann könnte ich ihr nicht erklären, dass man auch auf der Schattenseite des Lebens – und dort hatte ich ja bis zu diesem Zeitpunkt zu stehen gemeint – gewisser menschlicher Verpflichtungen nicht ledig war. Ich war überzeugt, sie hätte dafür auch nicht das mindeste Verständnis aufgebracht.
Olivia freute sich mit mir, obwohl ich ihr nichts erzählt hatte. Sie freute sich über mich, weil ich glücklich war, auch wenn sie vielleicht die Entwicklung der Dinge für sich bedauerte. Sie musste nicht nur ihre Liebe zu Nick vergessen, sondern auch die im Stillen von unseren beiden Müttern genährte Hoffnung, dass ich ihren Bruder David heiratete. Ich glaube, meine Mutter hatte, als sich ihre Krankheit verschlimmerte, etwas in diesem Sinne zu Olivia gesagt. Allerdings hat es Olivia, die eine Frau von ungewöhnlichem Takt ist, mir gegenüber nie erwähnt. Aber sie weiß, dass meine Mutter sie sehr gern hatte. Sie erinnert sich noch an die zarte Hand meiner Mutter auf ihrem wundervollen Haar; auch sie empfindet die Verpflichtungen der Vergangenheit. Und doch freut sie sich für mich.
Ich sah James jeden Tag. Er pflegte morgens in der Bibliothek zu warten, bis ich kam. Dann machte ich uns Kaffee, den wir aus den Mickymaustassen tranken. Und wenn wir abends nicht zu den Frasers gingen oder ins Restaurant, begleitete er mich zu Fuß nach Hause. Es tat mir leid, dass ich ihn nicht zum Essen einladen konnte. Ich erklärte ihm, ich müsste zuerst Nancy an diese Vorstellung gewöhnen, aber er sagte nur: »Wir haben doch Zeit«, und so gab es deswegen keine Peinlichkeiten. Die Tage vergingen schnell zwischen dem Treffen am frühen Morgen und dem langen Heimweg am Abend. Ich glaube nicht, dass irgendjemand etwas gemerkt hat. James war noch viel zurückhaltender als ich; er war ungemein vorsichtig. Ich war nur vorsichtig, weil ich an mein Glück nicht glauben konnte. Sobald ich es aber können würde, wusste ich, würde ich es geradezu demonstrativ zeigen. Er dagegen besaß sehr viel Selbstbeherrschung, was vermutlich mit der in seinem Beruf erforderten Haltung zusammenhing. Sie passte jedenfalls gut zu seiner rauen, ungeübten Stimme und dem hochmütigen unbewegten Gesicht. Ich fand diese Zurückhaltung sehr aufregend. Denn ich wusste, dass er mich gern hatte.
Wir waren sehr schüchtern im Umgang miteinander. Ich fragte ihn nie nach seiner Scheidung, denn ich spürte, dass auch er einen Neubeginn suchte. Weil wir so schüchtern waren – uns zwar nach dem Zusammensein sehnten, aber zuweilen im Gespräch stockten –, richteten wir es so ein, dass wir meistens mit den Frasers zusammen ausgingen. Diese Abende im Restaurant, mit James’ Arm auf der Rückenlehne meines Stuhls, mit Maria an unserem Tisch, sodass wir zu fünft waren, bedeuteten mir sehr viel. Alix und Nick machten sich zwar ein bisschen lustig über uns, aber wir lernten, damit fertig zu werden, wenn wir nur zusammen waren. »Maria«, sagte zum Beispiel Alix, »bitte, sieh dir das an. Sind sie nicht süß?«
»Ich bin nicht …«, antworteten wir dann gleichzeitig, fuhren aber nicht fort. James hasste diese Anspielungen, und ich fand sie einfach lästig. Wir waren offenbar von gleich gesinnten Eltern erzogen worden. Meine Mutter hatte mir immer geraten, eine Bemerkung, die mir anstößig erschien, zu ignorieren, es sei denn, jemandes Ehre sei davon betroffen. So sah ich denn bei solchen Gelegenheiten James an und lachte; und, um die Wahrheit zu sagen, genoss ich diese Momente der Komplizenschaft genau so wie alles andere.
Geheimnisse, das Recht, Geheimnisse zu haben. Wir hatten nur wenige, denn wenn mir James auch sagte, dass ich ihn besser kenne als jeder andere, glaubte ich niemals im Ernst, ihn überhaupt zu kennen. Was uns gemeinsam war, das war unsere Scheu, und diese Scheu hielt Alix irrtümlich für Mangel an Erfahrung. Das Band, das diese Scheu um uns schlang und das durch die abendliche Geselligkeit noch verstärkt wurde, gab dann dem Heimweg vom Restaurant eine tiefere Bedeutung, als ein gewöhnlicher Heimweg von der Arbeit am Ende eines Tages sie gehabt hätte. Bei einer dieser Gelegenheiten gab ich entschlossen meine Vorsicht auf und bat ihn in die Wohnung, obwohl ich wusste, dass Nancy in ihrem flauschigen Schlafrock, den ich ihr gekauft hatte, einem Maulwurf gleich, unvermeidlich aus der Küche herbeischlurfen würde, sobald sie zweierlei Schritte auf dem Korridor vernahm (sie hat ein ungewöhnlich feines Gehör), worauf ich sie vorstellen müsste. Doch auch das ging gut vonstatten, denn Nancy erinnerte James an sein altes Kindermädchen, und so hatte er einen netten kleinen Plausch mit ihr. Von nun an ließ es sich Nancy nicht nehmen, auf kleinen Tabletts Kekse und Kaffee in der Thermoskanne für uns bereitzustellen, wie sie es früher für meine Eltern getan hatte, als die noch jünger gewesen waren und am Abend ausgingen. Es wurde mir zu einer lieben Gewohnheit: der lange Heimweg in der trockenen Kälte, durch die menschenleeren Straßen, und dann das leise Hineingehen in die Wohnung, um Nancy nicht zu wecken (denn manchmal wurde es sehr spät), das Ablegen von Mänteln und Handschuhen und die rasche Umarmung. Ich lief schnell in die Küche, um das Tablett zu holen, während James in den Salon ging, die Lampen anzündete und auch den fürchterlichen elektrischen Kamin mit den vorgetäuschten Holzscheiten einschaltete, der von rosa Kacheln mit daraufgemalten blauen Eisvögeln umrahmt war. Wir schleppten zwei der hellfarbenen Lederschemel vor den Kamin und nahmen dort unser Kindergetränk zu uns. Dann setzte ich mich ihm zu Füßen auf den Boden. Er legte seine Arme um meine Schultern und strich mir mit seiner großen, mächtigen Hand über Gesicht und Haar. Manchmal unterhielten wir uns, manchmal saßen wir nur still beieinander. Ich glaube, wir waren so glücklich, dass uns dies genügte.
Auch wenn wir nicht zusammen waren, fühlte ich mich nicht allein. Sonntags machte ich nach dem Mittagessen bei den Benedicts einen Spaziergang zur National Gallery oder zur Tate Gallery und dachte an James, der um diese Zeit immer bei seiner Mutter war. Ich empfand kein Verlangen, keine Sehnsucht, nur eine heitere, wohltuende Energie in mir. Ich betrachtete die Schaufenster der teuren Läden und überlegte mir, ob die vielen exotischen Dinge, die ich dort sah, für meine Wohnung geeignet seien. Das waren reine Gedankenspiele, da ich gar nicht die Absicht hatte, etwas davon zu kaufen. Aber es war doch eine bezeichnende Übung, denn sie bedeutete, dass ich mir das Recht auf einen gewissen Luxus zuerkannte, was ich nie zuvor getan hatte. Diese Veränderung meines Bewusstseins war so verwirrend, dass ich auf mein bisheriges Leben mit einer Art überraschten Mitleids zurückblickte. Diese Enge, diese Skrupel, diese verlängerte Kindheit. Ich begann sogar – und das ist ein wichtiges Kriterium – Reisen zu erwägen, die ich zu meinem Vergnügen, auch ohne ihn, unternehmen könnte. Ich war noch nie in Griechenland gewesen, und ich dachte, es wäre vielleicht jetzt an der Zeit, es zu besuchen. Und ich wusste, dass ich, wenn ich diese Reise machte, sie genießen würde, wie ich noch nie zuvor eine Reise genossen hatte. Weil bei meiner Rückkehr James da wäre. Allein durch die bloße Tatsache seiner Existenz hatte er meiner ganzen Zukunft einen Sinn gegeben.
Er hatte mir erzählt – und all diese Dinge wiederholte ich mir voller Liebe, wenn ich die Mall entlangging, die jetzt grau war, der Rinnstein voll von welkem, im Wind treibendem Laub –, dass er in Indien geboren war. Sein Vater hatte im diplomatischen Dienst gestanden, sodass die Familie mehrere Jahre im Ausland, in verschiedenen Ländern, gelebt hatte. Er war anfangs in Brasilien und später in Ägypten aufgewachsen, bevor er nach England in die Schule geschickt wurde. Ich fand das aufregend und wünschte mir, auch meinen Horizont zu erweitern. Ich wollte es ihm gleichtun in der Vertrautheit mit anderen Kontinenten und exotischen Orten. Sein Leben verlieh ihm eine Weltläufigkeit, vor der ich mich beugte. Manchmal meinte ich, er müsse mich langweilig finden, und einmal sagte ich es ihm. Er aber antwortete mit einem Lachen: »Meine liebe Frances, Sie könnten gar nicht langweilig sein, nicht einmal wenn Sie es versuchten«, und gab mir einen Kuss. Aber ich fühlte in ihm eine Überlegenheit, eine männliche Erfahrung, die um so stärker wirkte, als er nichts unternahm, sie auszunutzen. Andererseits fand ich mich, der so viel durch den Kopf ging, selbst nicht gar so langweilig.
Ich sah in ihm allmählich einen der Menschen, deren Schicksal zu verfolgen ich mir immer gewünscht hatte. Wenn ich mit ihm zusammen war, seine Hand hielt und spürte, wie seine kräftigen Finger die meinen fest umschlossen, dann fühlte ich mich sehr demütig, vom Glück hochbegünstigt und auserwählt. Ich warf dann einen verstohlenen Blick auf sein straff anliegendes blondes Haar und fragte mich, was er wohl an mir finden mochte. Ich glaubte, dass es Scharen von Frauen, von schönen Frauen geben musste, die auf ihn warteten. Bei diesem Gedanken begann mein Herz zu flattern, und meine ursprüngliche Euphorie verwandelte sich in ein Erstaunen, das mit ein wenig Angst verbunden war. Ich ahnte, dass gerade in seinen glänzenden Eigenschaften eine Gefahr für mich lag. Und doch schien er mit mir vollkommen zufrieden zu sein. Ich glaube wahrhaftig, dass auch er glücklich war.
Alix, die natürlich an dem Fortgang der Geschichte ungeheuer interessiert war, konnte nicht glauben, dass das schon alles war. Ich konnte es selbst kaum glauben. Es war mit nichts zu vergleichen, was ich bisher erlebt hatte. Aber ich war offenbar nicht fähig, dies Alix zu erklären. Oder, besser gesagt, sie war unfähig, es zu akzeptieren. Aber vielleicht hatte es mir einfach die Rede verschlagen, denn mit einem Mal versagten sich mir alle sonst verfügbaren Worte, das Szenario, der Handlungsaufbau, die rhetorische Übertreibung. Das war das ganz und gar Ungewöhnliche: dass ich sprachlos geworden war. Und doch konnte Alix nicht begreifen, dass eben dies das Allerungewöhnlichste war. Ich konnte es, sie nicht. Sie glaubte, dass ich nur geheimnistuerisch war. »Nick, sie verheimlicht mir wieder etwas«, beklagte sie sich. Ich pflegte darüber zu lachen, wie ich es immer getan hatte, aber mein Selbstbewusstsein entwickelte sich so rapide, dass ich fand, sie könnte nun die Sache mit James und mir als selbstverständlich hinnehmen. Aber da sie uns miteinander bekannt gemacht hatte, meinte sie, gewisse Eigentumsrechte an uns zu haben, die sie denn auch häufig geltend machte. Ich sah in ihrer Einstellung etwas Feudalistisches. Nicht nur, dass sie eine Art von droit de seigneur, wenigstens in Hinblick auf die Gefühle, beanspruchte. Sie dehnte diesen Anspruch aus auf eine immer währende Oberhoheit. Ich beobachtete das mit einem Teil meines Ichs, aber ich wusste nichts dagegen zu tun. Ich hatte nicht mehr die Worte, mit denen ich einst diesen Fall untersucht hätte.
Stattdessen wandte ich mich von Alix ab, wobei mir bewusst war, dass da etwas Unerledigtes zurückblieb und unsere Freundschaft bedrohte, aber ich hatte keine Lust, meine Zeit daran zu verschwenden. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Ich musste mich meiner Lebensaufgabe widmen, dem Studium James’. Ich musste herausbekommen, was ihm Freude bereitete, worüber er lachen konnte und was er gerne aß. Und dazu musste ich mir Zeit nehmen. Denn das alles erforderte intensives Nachdenken. Zuerst musste ich die alten Informationen löschen, musste vergessen, was ich gewusst hatte … alles, was traurig und kaputt war. Vorsicht war geboten. Das war mir klar. In meiner Erinnerung sah ich mich, wie ich unbarmherzig die Leute ausfragte, und ich schauderte. Diesmal wollte ich ohne Arg und List sein, und wenn es mich umbrachte. Und ich würde mir keine Notizen machen. Zumindest nicht viele. So wenig wie irgend möglich.
Ich stellte keine Fragen, und es änderte sich nichts. Ich war nicht eben sehr mitteilsam, aber ich blieb angenehm. Ich bemühte mich, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Wir aßen weiterhin zusammen, in demselben Restaurant, weil Alix es kannte und gern hatte, aber Alix wurde, vielleicht wegen der zunehmenden Kälte, distanzierter und ein wenig gereizt. Ich erinnere mich, wie sie eines Abends mich ins Schlafzimmer zog und ganz im Ernst fragte: »Nicht wahr, du verheimlichst mir etwas?« Ich antwortete ihr ebenso ernsthaft: »Nein, Alix, das tue ich nicht.« »Willst du wirklich behaupten«, fuhr sie fort, während sie den Kopf von einer Seite zur anderen wandte, um ihn im Spiegel des Toilettentischs zu mustern, sich die Perlohrringe ansteckte und ihr Haar im Nacken glättete, »dass du keine stürmische Affäre mit James hast? Du glaubst wohl, ich bin von gestern.« Ich sagte ihr, wenn auch ungern, dass ich ihr nichts vorenthielte. »Ach«, schnaubte sie ärgerlich, aber da stand Nick in der Tür und wollte wissen, warum es so lange dauerte. Seine Miene zeigte Spott, aber auch etwas wie eine Bitte; sein Blick schweifte zu Alix, die sich mit großer Sorgfalt die Lippen malte. Sie, der man Gehorsam schuldet. Dann gingen wir ins Wohnzimmer zurück, wo mich der Anblick von James in seinem langen, streng geschnittenen Mantel vor Entzücken erschaudern ließ und ich den ganzen Zwischenfall vergaß.
Nichts konnte mir meine Freude verderben. Auch als ich die Zeitschrift, in der meine Geschichte stand, bei ihr sah, mit der aufgeschlagenen Titelseite – ›Professor Rosenbaum und das Orakel von Delphi‹ und sich auf eben dieser Seite, die offenbar ungelesen geblieben war, ein brauner, ringförmiger Abdruck wie von einer Kaffeetasse befand, sagte ich nur mit einem Lachen: »Du hast meine Geschichte nicht gelesen.« Alix drehte sich nach mir um, und ihre grauen Augen blickten verschleiert und wie von weit her. »Ach so. Nein, ich habe sie nicht gelesen.« Und dann, mit noch immer verschleiertem Blick: »Bist du mir sehr böse?« Ich lachte wieder und erklärte ihr, zwar nicht böse zu sein, aber dass sie diese Geschichte doch lieber lesen sollte, weil ich keine andere mehr schreiben würde. »Dann verstehe ich nicht, warum du nicht unser Gästezimmer nehmen willst«, sagte sie.
Die Situation war ein bisschen peinlich. Alix hielt sich daran, dass ich ihr gesagt hatte, nicht zu ihr ziehen zu können, weil ich meine Wohnung für meine literarische Arbeit brauchte. Aber nun, da ich ihr ankündigte, ich wolle nicht mehr schreiben, sah sie nicht ein, warum ich nicht das Zimmer bei ihr nahm. Mir war aber meine Wohnung inzwischen sehr lieb geworden, und unsere späten stillen Abende, von Nancy gleichsam sanktioniert mit Kaffee und Kuchen, hatten dazu beigetragen. Ich wusste auch, dass diese Abende für Nancy viel bedeuteten. Sie hatte aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen, ob die Wohnungstür auch ordentlich abgeschlossen sei, und damit war die Wohnung auf, wenn man so will, symbolische Weise eine andere Wohnung, sie war mein Heim geworden, wie sie es noch nie zuvor gewesen war. Nancy erkannte mich jetzt als die Herrin des Hauses an, und auch das war mir eine neue, unschuldige Freude, denn unter diesem Aspekt hatte ich mich selbst noch nie gesehen. Da die Wohnung sehr geräumig war und James es satt hatte, bei seiner Mutter in der Markham Street zu wohnen – sie sah es nicht gern, wenn er so spät nach Hause kam –, überlegte ich schon, wann ich ihm vorschlagen sollte … Aber ich stellte diesen Plan noch zurück, denn ich wusste, er würde ihn für überstürzt halten. Der liebe James! Ich fand, er war geradezu lächerlich gut erzogen, so ehrenhaft, und ich schätzte solche Eigenschaften sehr, denn nach dem klösterlichen Leben, das ich so lange geführt hatte, brauchte ich nun etwas, das mir Halt gab. Übrigens wäre diese Änderung wohl zu dramatisch gewesen. Ich glaube, ich brauchte die Fortdauer meines gutbürgerlichen, zurückhaltenden Lebensstils. Ich brauchte das Lächeln Nancys, das ich so lange Zeit nicht mehr gesehen hatte und mit dem sie mich jetzt am Morgen begrüßte, wenn wir uns begegneten. Ich brauchte die kleinen Beweise ihrer Zuneigung, die frischen Brötchen, die sie mir sonntags brachte, wenn sie von der Messe kam, oder die Kinderpuddings, die sie mir neuerdings wieder bereitete. Ich brauchte es, mir diese Dinge zu verdienen. Und zugleich wollte ich auf eine Art verwöhnt werden, auf die, wie ich mir einbildete, glückliche junge Frauen verwöhnt werden. Oder Frauen, die Glück hatten. Ich wollte behandelt werden wie … natürlich, wie eine Braut.
Und doch, ich liebte James nicht, nicht in dem schicksalhaften, verhängnisvollen Sinn. Was ich für ihn empfand, war mehr. Ich hatte Freude an ihm. Über die Liebe und ihre Fallen wusste ich Bescheid. Wie schön sie beginnt, wie es dann zu Missverständnissen kommt und wie man in einem Augenblick der Vertraulichkeit oder auch eines unerträglichen Schmerzes Dinge sagt, die nicht wieder ungesagt gemacht werden können. Wie man dann vorsichtig wird und sich wie ein höflicher Freund benimmt, der nur darauf brennt, die Vorsicht fahren zu lassen, und sei es nur, um wieder unmögliche Dinge zu sagen. Und wie diese unmöglichen Dinge dann als die Essenz des Wissens voneinander, des Innersten erscheinen! Wie Grausamkeit ins Spiel kommt. Terror. Misstrauen. Und wie einen dann wiederum die selbstauferlegten Regeln der Höflichkeit verpflichten, nie die entscheidende Wahrheit zu suchen. Wie das Nichtwissen schwerer zu ertragen ist als das Wissen. Wie man sein Leben nur noch der Aufgabe widmet, die Wahrheit herauszubekommen. Und wie man sie herausbekommt. Das alles kannte ich. Aber ich spreche nie davon.
Doch James war mein Freund, und ich hielt seine Hand so zutraulich wie ein Kind die Hand der Eltern hält. Ich erzählte ihm alles, denn er hörte mir sehr gern zu, und da er selbst so zurückhaltend war, bedeutete es für ihn eine amüsante Zerstreuung, mich so drauflos reden zu hören. Bald wusste ich, womit ich ihn zum Lachen brachte. Und all die komischen Sachen, die ich für mein Tagebuch und meine Geschichten gesammelt hatte, verschwendete ich nun an ihn, und indem ich sie ihm erzählte, gewannen sie an menschlicher Wärme und Güte. Auch er kannte sich in den Menschen aus. Er schien von Olivia so viel zu halten wie ich; das machte mich sehr glücklich. Er erzählte mir, dass Dr. Simek in Prag ein bedeutender Spezialist gewesen sei, außerdem Universitätsprofessor, dass seine Tochter Schauspielerin sei, die aber in die Partei eingetreten war und ihm nicht mehr schriebe. Das war für Dr. Simek schlimmer als das Exil. Mrs. Halloran, so berichtete er mir, habe ebenfalls auf der Bühne gestanden, wenn auch in einem weit derberen Fach (das hätte ich eigentlich erraten können, und ich spürte einen Stich, dass ich es nicht hatte); und dass Dr. Leventhal die einzige Stütze seiner verwitweten Schwester sei, mit der er zusammenwohnte. Ich fragte ihn nach Nicks wissenschaftlicher Arbeit, aber er wollte nicht mit mir fachsimpeln, und deshalb fragte ich nicht wieder danach. Ich dachte – und ich weiß, dass ich recht hatte –, dass wir so miteinander umgingen, wie wir es uns beide voneinander wünschten. Er tat alles, um mir Freude zu machen.
So wusste ich immer, wann ich ihn sehen würde. Er ließ mich nicht warten. Und er ließ mich auch nicht raten und grübeln. Es war so ganz anders, als es das letzte Mal gewesen war, zu der Zeit, von der ich nicht spreche. Ich kann nur sagen, dass alles, was damals geschah, sich jetzt wie durch ein Wunder genau umgekehrt verhielt und dass ich mich voller Zuversicht auf dieses Abenteuer einließ. Das Schlimmste, was ein Mann einer Frau antun kann, ist, ihr das Gefühl zu geben, unwichtig zu sein. James tat das nie. Dieser ganze Spätherbst, der ausnehmend kalt und trocken war und damit unsere Spaziergänge begünstigte, war für mich eine Zeit des Selbstvertrauens, des Behagens und der freudigen Erwartung. In meinem Kopf spukten keine Bilder. Ich schrieb nicht. Ich war glücklich.
Merkwürdigerweise, oder, wenn man es genau betrachtet, ist es vielleicht gar nicht so merkwürdig, wollte ich nichts weiter. Ich dachte nicht daran, zur nächsten Etappe voranzuschreiten, weil mir die, in der ich mich befand, so gut gefiel. Ich wusste, es würde lange dauern, bis ich meine Erlebnisse vergaß, meine Abwehrhaltung aufgab und ausprobierte, was es hieß, sorglos und voller Zutrauen zu leben. Ich blieb noch immer meinen alten Gewohnheiten treu, lunchte sonntags mit Julia oder den Benedicts oder unternahm einen Ausflug zu Harrods, um eine Bluse zu kaufen, die Nancy in meinem Sonntagsblatt angezeigt gesehen hatte und die sie ihrer Schwester in Cork schenken wollte. Ich konnte nicht so schnell eine Lebensweise aufgeben, an die ich seit vielen Jahren gewohnt war. Ich wusste wohl, dass es, wenn es so weit war, zu einem gewissen Übergang kommen würde; aber auch diese Übergangszeit musste behutsam durchschritten werden. Ich wollte niemanden verletzen – der alte Reflex. Niemand durfte benachteiligt werden. Wenn ich bei allem umsichtig vorging, dann würde ich all mein Glück auch verdient haben. Was aber dieses noch nebelhafte und doch schon entschieden in den Brennpunkt rückende Glück betraf, so wollte ich dessen Herbeiführung James überlassen.
Plötzlich wurde es viel kälter, und es bestand kein Zweifel daran, in weicher Jahreszeit wir lebten. Die Frasers sprachen wieder vom Weihnachtsfest. Ich nahm wenig Anteil an ihren Plänen für unsere gemeinsame Feier – ich mochte gar nicht daran denken, denn es hieße, dass Nancy allein bleiben würde –, sondern konzentrierte meine Gedanken darauf, mir die schönsten Geschenke für jeden von ihnen auszudenken. Ich ging in dieselben Warenhäuser wie früher, nur dass ich diesmal nach den teuersten und extravagantesten Dingen Ausschau hielt: französischer Seife, Stilton-Töpfen, Kaschmirpullovern oder Karlsbader Pflaumen. Ich kaufte allerdings noch nichts, weil ich die Vorfreude noch ausdehnen wollte. In der Mittagspause ließ ich Olivia jetzt immer allein und machte Schaufensterbummel. Ursprünglich sehr bescheiden und sparsam, war ich jetzt darauf aus, so viel Geld wie möglich auszugeben. Ich befand mich in einem Zustand der Euphorie, der jeden Gedanken an Maßhalten ausschloss.
Die Kälte gab unseren Spaziergängen Heiterkeit. In der Stille der sternklaren Nacht schmiegten wir uns aneinander; James hielt meine Hand in seiner Manteltasche fest umklammert. Wir gingen durch den Park, in dem sich niemand mehr herumtrieb, niemand, der Liebe suchte oder Geld für einen Drink. Wenn wir in die Wohnung kamen, genossen wir die Wärme und das gedämpfte Licht. Manchmal tat mir der Gedanke weh, dass James wieder den ganzen Weg allein zurückgehen musste, und ein paarmal fragte ich ihn versuchsweise, ob er nicht bleiben wolle. Ein paarmal zögerte er, als warte er darauf, überredet zu werden. Aber es wurde nie etwas daraus, und in gewisser Weise war ich darüber froh. Ich fand, dass es nicht auf diese Weise geschehen durfte, auch wenn ich mir bewusst war, dass es möglich wäre. Aber ich hatte mir den kindischen Gedanken in den Kopf gesetzt, dass wir beide Weihnachten in diesem besonderen Zustand der Unschuld erreichen mussten, der unverdorbenen Erwartung, der glücklichen Hoffnung. Ich wollte, dass alles ordentlich vor sich ginge, auf die rechte Art. Und in dieser Wohnung … Ich wollte, dass er mich von hier fortholte. Ich stellte mir ein Hotel vor, in der Nähe eines Sees, im Gebirge, wo niemand uns kannte. Ich wünschte mir, mit ihm allein zu sein. Und ich wollte sogar warten, bis er selbst es vorschlug.
Aber bis es so weit war, nahm ich jede Annehmlichkeit wahr, die diese ungeklärte Situation bot. Ich pflegte meine Freundschaft mit den Frasers umso lieber, als ich nun nicht mehr offiziell als eine ein wenig bedauernswerte Person galt, auch wenn Alix immer noch gelegentlich von mir als der armen kleinen Waise Fanny sprach. Es machte mir Freude, mit James bei den Frasers zu sein. Und natürlich machte mich die Gegenwart von James glücklich. Ich glaubte, all diese Freuden könnten nur noch intensiver werden, wenn alles noch ein Weilchen blieb, wie es war. Danach wollte ich gern alles tun, was man von mir erwartete.
Eines Abends – wir schickten uns gerade an, das Restaurant zu verlassen – sagte Alix: »Das ist doch lächerlich!« Nick stimmte ihr bei: »Nein, im Ernst, niemand, der seinen Verstand beisammen hat, bleibt draußen in der Kälte, wie ihr es tut. Ihr müsst verrückt sein.« Darauf Alix: »Wie kommst du darauf, dass sie draußen bleiben? Das habe ich nicht eine Sekunde geglaubt!« Es entstand eine kleine Verlegenheitspause. Man schien von mir zu erwarten, dass ich etwas tat oder sagte, aber irgendwie konnte ich mich zu nichts entschließen. Zudem sah ich nicht ein, warum die Entscheidung in diesem Zusammenhang und gerade jetzt getroffen werden musste. So sagte ich nur mit einem Lachen: »Du musst uns nicht immer aufziehen, Alix«, was freilich nur eine matte Wirkung hatte. Alix sah mich an und sagte: »Ich glaube wirklich, du bist übergeschnappt«, und dann, zu James gewandt: »Um Ihretwillen würde ich mir mittlerweile ein bisschen Sorgen machen, wenn ich an Frances Stelle wäre.« Er starrte sie an, und ich dachte schon, jetzt würde er die Geduld verlieren. Aber er verliert sie nie, und so geschah nichts. Es ging irgendwie vorüber. Wir hatten beide, James und ich, merkwürdigerweise das Gefühl, uns entschuldigen zu müssen. Wir hatten das Gefühl, dass wir sie enttäuscht, ja verärgert hatten, dass wir sie gelangweilt oder, besser gesagt, in einer bestimmten wesentlichen Hinsicht nicht unterhalten hatten. Als sie nun an diesem Abend darauf bestanden, uns nach Hause zu fahren, sahen wir uns beide an und antworteten dann, dass wir ihnen unendlich dankbar wären. Es war tatsächlich recht kalt. Alix beharrte darauf, mich als Erste heimzubringen. Sie saß auf dem Rücksitz, den Pelzmantel eng um sich gerafft, und ich dachte daran, wie schlecht sie den Winter vertrug. Wieder spürte ich Gewissensbisse ihr gegenüber und übersah es, wenn sie sich an James schmiegte, der ebenfalls auf dem Rücksitz saß. Ich saß vorn neben Nick, bereit, als Erste auszusteigen. Ich bat sie nicht herein, weil ich wusste, dass der Lärm von vier Personen Nancy beunruhigen würde. Ich gab James einen flüchtigen Kuss und beobachtete, wie er wieder in den Wagen kletterte und sich neben Alix setzte. Dann sah ich zu, wie sie weiterfuhren. Es kam mir merkwürdig vor, allein zu sein. Es war das erste Mal seit fast drei Wochen.
Am nächsten Morgen rief mich Alix an. Ihre Stimme klang sehr viel unbeschwerter als sonst letzthin, und sie beklagte sich nicht einmal über die Kälte. »Wann werde ich dich sehen?«, fragte ich, in dem Bewusstsein, dass Dr. Leventhal hereingekommen war und hinter mir stand. »So bald wie möglich«, antwortete sie. »Jetzt wird alles viel leichter sein.« »Leichter?«, fragte ich. »Wieso das?« »Nun, jedenfalls bequemer«, erklärte sie. »Ich habe James dazu überreden können, dass er in das Gästezimmer zieht. Dadurch können wir alle viel öfter zusammen sein.«