7 Ich sorgte mich, dass James mich nun nicht mehr nach Hause bringen wollte, aber diese Sorge war unberechtigt. Alles ging genauso weiter wie zuvor. Alles, das heißt, soweit ich betroffen war.
Im Grunde war es sogar besser jetzt. Wir waren beim Abendessen immer zu viert, manchmal auch zu fünft, wenn Maria zu uns stieß, aber James schien jetzt noch mehr Wert darauf zu legen, mit mir allein zu sein, sodass wir uns daran gewöhnten, früher als bisher aufzubrechen, und manchmal verweilten wir am Uferweg des Serpentine in dem eisigen Park ein wenig, bevor wir zum Marble Arch gingen und über die Edgware Road bis zu meinem Haus. Jetzt wünschte ich nur, ich hätte James gebeten, bei uns zu wohnen. Nancy würde sehr gut für ihn gesorgt haben. Ich hatte mir nicht klargemacht, wie schwierig es für ihn war, dass er bei seiner Mutter wohnte, und ich fühlte mich nun irgendwie schuldig, irgendwie im Unrecht, weil ich nicht in diesem fürsorglichen Sinne an ihn gedacht hatte wie Alix. Ihr Gästezimmer war sehr klein, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie all seine großen seriösen Anzüge in diesem winzigen Schrank Platz finden sollten, aber ich nahm an, dass er zum Wäschewaschen oder zum Wechseln der Anzüge immer noch in die Markham Street gehen konnte. Ich vermutete auch, dass es ihm einfach mehr Spaß machte, bei den Frasers zu wohnen. Ich erinnerte mich, wie ich es mir selbst einmal so schön ausgemalt hatte, bei ihnen zu wohnen, und dass nicht viel gefehlt hatte, und ich wäre tatsächlich dort eingezogen. Nur meine Arbeit, das Schreiben, hatte mich davon abgehalten. Und dann, selbstverständlich, James.
Ich glaube, damals begann er, mich richtig zu lieben. Er lächelte nicht mehr so oft, sah mich fast zornig an und wollte nie aufbrechen. Einmal bestand ich darauf, dass er bliebe, etwas, was ich nie getan hätte, wenn ich nicht gespürt hätte, dass sich ein Wandel anbahnte. »Lieber nicht«, antwortete er. »Sie bleiben wach, bis ich nach Hause komme. Die Wohnung ist ja so klein, dass sie es sowieso hören müssten. Es stört sie.« Ich fand das so dumm, dass ich ihm sagte, dann hätte er genausogut bei seiner Mutter bleiben können. »Meine Mutter«, erklärte er, »verschob es immer bis zum Morgen. Dann sagte sie mir die Meinung. Alix dagegen macht ihrem Herzen auf der Stelle Luft.« Ich wunderte mich, warum ein so starker, ernster Mann sich derartig von den Frauen herumkommandieren ließ. Von Frauen zudem, die, bei Lichte besehen, nicht so viel Recht auf ihn hatten wie ich. In dem Bewusstsein, dass ich dieses Recht hatte, missbrauchte ich es nie. Ich wollte nicht zu diesen albernen Frauen gehören, die in Gegenwart von anderen ihrem Mann wegen irgendwelcher Nichtigkeiten Vorwürfe machen. Er sollte sich frei fühlen. Darum sagte ich nichts, wenn seine Pünktlichkeit ein wenig nachließ, wenn er manchmal nicht mehr so früh am Morgen in die Bibliothek kam, wie es seine Gewohnheit gewesen war, und wenn ich ihn manchmal überhaupt nicht dort zu sehen bekam. Ich begrüßte ihn mit einem Lächeln, wenn ich ihn das nächste Mal sah, und sagte nichts. Ich sehe keinen Sinn darin, in einem Mann Schuldgefühle zu wecken. Wenn es auch manchmal, wie ich glaube, zum Erfolg führt.
Ich begann, ihn am Morgen zu vermissen. In meine einst so überschwängliche Stimmung auf dem Weg in die Bibliothek drängte sich nun die ängstliche Frage, ob ich ihn sehen würde oder nicht. Ich malte mir aus, wie die drei zusammen frühstückten, halb angezogen, in einer Atmosphäre charmanter Verwahrlosung, die ich noch nie um mich zu schaffen vermocht habe. Ich konnte gut verstehen, dass er keine Lust hatte, sich aus dieser für ihn so neuen und erregend intimen Atmosphäre herauszureißen, nur um Kaffee aus einem Mickymausbecher zu trinken, und das in Gesellschaft von jemandem, den er wahrscheinlich ohnehin am Abend sehen würde. Mein Gefühl, dass James sein Leben mit Nick und Alix genoss, war so stark, dass ich ein Bild von ihnen vor mir sah, das mich in zweifacher Hinsicht beunruhigte. Zum Ersten hatte ich geglaubt, diese Sache mit den inneren Bildern, die mir noch nie gut getan hatten, hinter mir zu haben. Ich hatte in der Gegenwart gelebt und mich dort wohlgefühlt. Zweitens erwies sich dieses Bild, das aus einer tiefen Schicht meiner Persönlichkeit und meiner Vorstellungskraft aufgetaucht war, als überaus quälend. Es deutete etwas wie eine heimliche Verschwörung an. Ich sah die drei, wie sie zusammen plauderten und lachten. Besonders das Lachen erschreckte mich. Ich fand dafür keine Erklärung.
Wie um auf diese Weise das immer wiederkehrende Bild zu vertreiben, schritt ich bei meinen Spaziergängen kräftiger aus und erledigte meinen Dienst in der Bibliothek mit mehr Energie als je zuvor. Meine Weihnachtsvorbereitungen traf ich mit einem Optimismus, von dem ich mir nur wünschen konnte, ihn tatsächlich zu empfinden. Wenn ich James am Morgen nicht sah, tat ich meine Enttäuschung als etwas Unwichtiges ab, was es ja auch war, da ich ihn gewiss noch am selben Abend sehen würde. Ein bisschen traurig war nur, dass sich am Ablauf unserer Zusammenkünfte etwas geändert hatte. Zwar wanderte ich noch immer in der kalten Abenddämmerung durch den Park nach Chelsea, traf jetzt aber dort James bereits mit Nick und Alix in der behaglichen Wärme ihrer Wohnung an, wie sie in ein angeregtes Gespräch verwickelt waren. Manchmal konnte ich erst, wenn der Abend halb vorbei war, die Bedeutung all ihrer Anspielungen erfassen. Völlige Entspannung aber fand ich erst, wenn ich mit James allein war; nur war das zuweilen so spät, dass meine Lebensgeister bereits von der Müdigkeit ein wenig gedämpft waren. Aber auch dann war es für mich nicht immer möglich, meine Stimmung der seinen anzupassen. Er schien mir irgendwie voraus zu sein, er war heiterer und lächelte bei einer bestimmten Erinnerung, aber wenn ich ihn danach fragte, sagte er nur: »Ach, es ist nichts weiter.« Ich zwang mich dazu, mich nicht ausgeschlossen zu fühlen, doch manchmal sah ich auf seinem Gesicht ein verstohlenes, fast brutales Lächeln, das mich erschreckte. Es erschreckte mich deshalb, weil es offenbar nichts mit mir zu tun hatte. Und weil ich mir nicht denken konnte, was dieses Lächeln veranlasst haben konnte.
Glücklicherweise bin ich sehr stark, und mein Aussehen bleibt immer das gleiche, sodass James nichts merkte. Aber gelegentlich war ich doch des Spiels überdrüssig und sehnte mich nach unserer früheren natürlichen Unkompliziertheit zurück. Aber ich sehnte mich auch nach etwas anderem: nach einem gewissen Komfort für uns, denn all diese Arrangements erschienen mir auf einmal als Provisorien und Notbehelfe. Ich begann zu verstehen, warum sich Nick und Alix über unsere langen Spaziergänge lustig machten und warum sie uns für kindisch hielten. Das Ganze schien mittlerweile zu einem Scherz geworden zu sein, über den sich alle außer mir amüsierten. Alix konnte es natürlich nur als einen Witz betrachten, und Nick, den es nicht besonders interessierte, pflegte ab und zu die Augen voller Entsetzen zum Himmel zu heben. Ich glaube, dass es in gewisser Hinsicht lächerlich war, aber ich musste feststellen, dass ich die Dinge nicht mehr im richtigen Verhältnis sehen konnte. Was mir am meisten zu schaffen machte, war der Umstand, dass ich das alles nicht mehr beschreiben konnte. Nachdem ich aufgehört hatte, die Leute erbarmungslos auszufragen und mir Notizen zu machen, hatte ich mich anscheinend auch der Möglichkeit beraubt, James ganz einfach zu sagen, dass ich nicht glücklich war. Ich hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, in dieser Sache nichts zu sagen. In einem solchen Augenblick sah ich dann in die lachenden Gesichter und machte alle Anstrengungen, mitzulachen. Lachend bahnte ich mir den Weg über Abgründe der Verzweiflung hinweg.
Wenn ich James ansah, erkannte ich etwas von derselben Unruhe und Sorge. Er war nicht mehr so glücklich, wie er es gewesen war, das konnte ich sehen. Wir blickten uns jetzt mit größerem Ernst an; wir ermaßen wechselseitig den Grad unseres Unbehagens. Weil wir in unserer Lebensauffassung so übereinstimmten, mit all diesen feierlich, korrekt und erwartungsvoll dreinblickenden Gespenstern im Hintergrund, fühlten wir uns hier von einer Atmosphäre schlechten Benehmens umgeben, von der wir uns nicht freimachen konnten und die sogar eine perverse Anziehung auf uns ausübte. »Du musst es doch grässlich unbequem in diesem Zimmer haben?«, fragte ich ihn einmal, worauf er mit einem Lachen erklärte, es mache ihm Spaß, für ein Weilchen einmal nicht zu Hause zu wohnen. Es sei doch eine Abwechslung von dem ganz in Weiß und Rosa gehaltenen Gästezimmer bei seiner Mutter, in dem er sich wie King Kong vorkäme. Außerdem, so fügte er hinzu, seien die Frasers so unglaublich amüsant. Noch in der Erinnerung musste er bei seinen Worten lachen. Ich verstand ihn gut, denn schließlich hatte ich selbst die gleiche Anziehung verspürt. Es gab auch nicht den geringsten Grund für mich, James dieses vergnügliche Erlebnis zu missgönnen. Ihr Lebensstil war für ihn eine ganz neue Erfahrung und wirkte wahrscheinlich ebenso befreiend auf ihn, wie er es auf mich getan hatte. Ich musste ihm einfach seine Freude daran lassen. Es war nicht einzusehen, warum das einen Einfluss auf unsere stilleren, aber tieferen Freuden haben sollte.
Ich hatte es mir zur Pflicht gemacht, James nicht zu fragen, worüber sie sich unterhielten, wenn ich nicht dabei war. Ich konnte überhaupt nicht in Erwägung ziehen, ihn zu fragen, was sie taten, denn mit dem merkwürdigen Bild in meinem Kopf konnte ich nicht glauben, dass meine Frage harmlos wäre. Ich lernte es, gewisse Dinge zu übersehen: ein unterdrücktes Gähnen, oder wie er mit Nick und Alix noch ein wenig zurückblieb, nachdem ich mich verabschiedet hatte und schon bis zur Tür des Restaurants gegangen war, dass er seine Haare jetzt länger trug als früher, dass seine Taschentücher nicht mehr so makellos waren wie zu der Zeit, als er noch zu Hause wohnte, und dass ihm all diese Veränderungen offensichtlich nichts ausmachten. Ich gewöhnte mich daran, seine gelegentliche Barschheit zu übergehen, wenn wir uns gute Nacht sagten, oder seine undurchdringliche Miene, wenn ich seine Hände nahm und sagte: »Versuch doch, morgen früh zeitig zu kommen!« Ich gewöhnte mich daran, nicht auf seine schlechte Laune zu achten, die ich nie zuvor an ihm bemerkt hatte, und ich dachte, dass er vielleicht nicht genug Schlaf bekam und dass er einmal ausspannen müsste, und ich auch. Das sagte ich ihm, und er blickte mich mit einem Ausdruck von Erwartung an, von Freude und, wie mir schien, von Hoffnung, und da entschloss ich mich, dafür zu sorgen, dass wir beide, und nur wir beide, irgendwohin verreisten. Und die Pläne für das Weihnachtsfest verloren ihre Bedeutung, da ich nun begann, unsere Reise unmittelbar nach dem Fest zu planen.
Mit diesem Vorhaben im Kopf wurde ich wieder ruhiger, und das gleiche traf auf ihn zu. Und wenn auch noch alles reichlich nebelhaft blieb, so hatte es doch die Kraft des Symbols, und es verband uns wieder. »Sag noch nichts davon«, bat ich ihn, und er gab seine Zustimmung mit einem Kopfnicken zu erkennen. Dieser komische Zwang zur Geheimhaltung war für uns ein weiteres Band, aber er änderte auch unsere Pläne. Wir konnten nichts Definitives unternehmen, keine Tickets, keine Visa besorgen oder Hotelzimmer buchen, denn das alles konnte leicht bekannt werden – Telefongespräche konnten mitgehört werden, bei denen es um das Studium von Fahrplänen ging und um die Frage, wie und wann wir uns treffen sollten –, und es war für uns beide von Bedeutung, so zu tun, als ob nichts Ungewöhnliches im Gange sei, und uns ganz unbemerkt davonzustehlen, während die anderen nur gähnten und sich über Langeweile beklagten, falls sie sich nicht eine Diät verordneten und was die Leute sonst nach dem Weihnachtsfest machen. Wir wollten an einen Ort gehen, an dem uns keine spöttischen Bemerkungen erreichten und wo wir fern jener hektischen, überhitzten Atmosphäre waren, in der man unsere Unschuld so kritisch betrachtete.
Ich fragte deshalb Olivia, ob ihre Familie während der Feiertage von ihrem Haus in Kent Gebrauch machen wollte. Sie hatte mir angeboten, dort zu wohnen, wann immer ich Lust dazu hätte. Tatsächlich kenne ich das Haus gut, weil ich für gewöhnlich im Sommer das Wochenende mit den Benedicts dort verbringe. Ich hatte ein komisches Gefühl, als ich Olivia fragte, ob ich mit James in ihr Haus kommen dürfe. So erfuhr Olivia von uns, aber ich hätte sie nicht belügen können.
Sie sah mich an und fragte: »Willst du das wirklich?«
Ich erwiderte ihren Blick, und weil ich Olivia nie belügen könnte, antwortete ich: »Ich weiß es nicht.«
Es war etwas Merkwürdiges um meine Zweifel und Bedenken. Ich wusste, dass James mich liebte, aber ich spürte, dass er in Gefahr war. Oder dass ich in Gefahr war. Die Situation war mir nicht ganz klar. Ich hatte das Gefühl, dass ich auf einen Weg getrieben wurde, den ich ursprünglich nicht hatte wählen wollen oder zumindest nicht mit dieser Eile und mit so viel Heimlichkeit. Ich hatte mir die Gesellschaft meiner Freunde gewünscht, um durch sie mein Glück zu vertiefen und meine neue Zukunft zu sichern; aber aus den Freunden waren Zuschauer geworden, die für ihr Geld etwas zu sehen verlangten, die auf ihrem Recht bestanden, unterhalten zu werden. Und für diese Aufgabe wollte ich nicht länger zur Verfügung stehen.
Vielleicht war es eine Anmaßung, aber ich meinte, dass wir allen möglichen Schwierigkeiten entgegengingen, wenn wir nicht genau zwischen Liebe und Freundschaft unterschieden. Es ärgerte mich, dass man von mir erwartete, über mein Tun und Lassen Alix und Nick volle Rechenschaft zu geben. Ihr in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft mir so willkommenes Interesse erschien mir jetzt als eine Verpflichtung, der ich nicht mehr nachkommen mochte. Mit Freundschaften dieser Art fehlte mir die Erfahrung, wenn ich auch beobachtet hatte, dass sie für Alix gewöhnlich so verliefen. Nick war stets weniger beteiligt und überließ die emotionalen Verwicklungen lieber seiner Frau, die sich auf eine größere Erfahrung auf diesem Gebiet berief. Aber gerade dieser Anspruch und diese Erfahrung machten sie so besitzergreifend. Ich wusste nicht, wie ich ihr zu verstehen geben konnte, dass einige ihrer Bemerkungen über das Ziel hinausschossen und dass ihre Fragen zu provozierend waren, oder ich jedenfalls keine Lust verspürte, sie zu beantworten. Ich wusste nicht, wie ich mich aus dieser Vertraulichkeit lösen konnte, die ich einst so freudig begrüßt hatte, als sie mir vorschlugen, mein Schicksal in die Hand zu nehmen. Und nun, so glaubte ich – vielleicht irrtümlich –, wollte Alix das fertige Produkt, als das ich mich da plötzlich präsentierte, in Augenschein nehmen und demgemäß behandeln.
Ich sah natürlich, dass James auch für sie anziehend sein konnte, aber ich wies den Gedanken von mir, dass dies ein ernstes Problem werden könnte. Wie uns Alix ständig versicherte, fand sie in ihrer Ehe die absolute Erfüllung, und ich hielt es für vollkommen ausgeschlossen, dass sie von mir erwarten könnte, ihr in diesem Punkt je nachzugeben. Wahrscheinlich zog sie auch James’ Unschuld an, ich meine, der Reiz einer Männlichkeit, die sich nicht verschwendet hatte. Aber da ich die Tiefe dieser Unschuld kannte und auch ihre Kraft, wenn sie geteilt wurde, bezweifelte ich, dass Alix eine Bindung zu zerstören vermochte, die sie im Grunde gar nicht verstand. Denn gerade ihre Ratlosigkeit gegenüber unserer Unschuld veranlasste sie, so viele Fragen zu stellen. Und als die Antworten ausblieben, zog sie logischerweise daraus die Konsequenz, uns noch genauer zu beobachten. Doch ich wusste, dass sie die Einfachheit, das Unverstellte unseres Verhältnisses nie begreifen würde. Ich wusste, dass wir beide, James und ich, diese Eigenschaft aneinander erkannt hatten und dass dies unser gemeinsames Wissen war. Solange es so blieb, waren wir sicher.
Ich war also ein wenig verwirrt und überrascht, aber keineswegs verzweifelt. Und wenn ich eines weiteren Beweises für James’ Liebe zu mir bedurft hätte, so lieferte ihn mir Alix selbst.
Es war um diese Zeit, als Alix damit anfing, mich in der Bibliothek anzurufen. Für mich eine sehr unbequeme Neuerung, weil ich keinen eigenen Apparat hatte und deshalb gezwungen war, in Dr. Leventhals Büro zu gehen und dort wie eine arme Sünderin vor seinem Schreibtisch zu stehen, während er mit betonter Höflichkeit darauf wartete, dass ich wieder verschwand. Anfangs waren ihre Anrufe recht belanglos. Wie es mir ginge? Sie fühle sich ausgesprochen mies und deprimiert. Der Winter nehme ja kein Ende, und sie hielte es in der Wohnung nicht mehr aus. Sie habe eigentlich keine Lust, heute Abend auszugehen. Ob ich etwas dagegen hätte, wenn wir unser gemeinsames Essen auf Freitag verschöben? Da ich bereits beschlossen hatte, nichts von meinem eigenen Kummer verlauten zu lassen, antwortete ich ruhig, dass das selbstverständlich sehr gut ginge und wir uns also am Freitag sehen würden. Was mich in meinem Verhalten bestärkte, war der Klang ihrer Stimme: ungewöhnlich matt und tonlos. Mir wurde klar, dass Alix nicht glücklich war.
In der Bibliothek gab es damals viel zu tun, sodass mir kaum Zeit zum Nachdenken blieb. Alle Welt hatte die Grippe oder war erkältet. Olivia und ich blieben zwar eisern an unseren Schreibtischen, aber unsere Aufgabe wurde uns nicht eben erleichtert durch Dr. Leventhals Entschlossenheit, zum Dienst zu erscheinen, obwohl ihn sein Fieber hinderte, viel zu tun, sodass uns nur noch mehr Arbeit blieb. Mrs. Halloran, deren Gesicht aufgrund eines trockenen Hustens periodisch purpurrot anlief, nahm in der Mittagspause mehr flüssige Nahrung zu sich, als ihr oder, offen gesagt, der Bibliothek guttat. Wenn sie um drei Uhr zurückkam, war sie völlig unfähig zu weiterer Arbeit, obwohl sie weiterhin Bogen um Bogen mit ihrer kühnen königsblauen Handschrift bedeckte. Diese Bogen wurden immer wieder durch die energischen Bewegungen mit ihren Keulenärmeln vom Tisch gefegt. Sie beugte sich dann bis zum Boden herab, um ihrer wieder habhaft zu werden. Einmal hatte sie dabei Schwierigkeiten, sich wieder aufzurichten. Glücklicherweise war Dr. Simek nicht da, und so half ich ihr auf die Füße und machte ihr überdies, auf einen Wink von Olivia, einen sehr starken Kaffee in einem unserer Mickymausbecher. »Danke, meine Liebe«, sagte sie laut. »Ich bin heute nicht ganz auf dem Damm. Diese Grippeviren, Sie wissen schon, man schnappt sie überall auf.«
»Vielleicht sollten Sie etwas früher nach Hause gehen«, schlug Olivia vor. »Sie sehen ein bisschen müde aus.«
»Schon gut, Miss Benedict. Ich weiß selbst, wann ich müde bin, verbindlichsten Dank! Unverschämtheit! Niemand braucht mir zu sagen, ob ich müde bin oder nicht! Aber ich weiß, Sie wollen mich nur loswerden«, schrie sie. »Ich habe ja Augen im Kopf.«
»Mrs. Halloran, niemand möchte Sie loswerden«, sagte ich. »Aber Sie müssen etwas leiser sprechen.«
»Allmächtiger Gott!«, sagte sie, aber schon etwas ruhiger. »Wie satt ich das habe! Haben Sie es auch so satt, Miss Benedict? Und Sie, Miss Hinton? Nein, Sie wohl nicht, vermute ich. Sie hält ja wohl genug auf Trab, nicht wahr?«
Ich antwortete nicht, aber ich sah das Funkeln der Verzweiflung in ihren Augen. Und vielleicht hätte sie weitergesprochen, wäre nicht Dr. Leventhal mit erschöpfter Miene im Türrahmen erschienen: »Miss Hinton, Telefon!«
Ich ging in sein Büro und nahm den Hörer in die Hand. Es war Alix.
»Nur mal hören, wie es dir geht«, sagte sie. »Mir ist, als hätte ich dich seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Was ist mit dir los?«
»Ich kann im Augenblick schlecht sprechen«, antwortete ich. »Kann ich dich von zu Hause aus anrufen? Wir haben schrecklich viel zu tun, und ich kann jetzt nicht sprechen.«
Es entstand eine Pause, und ich hörte, wie sie an der Zigarette zog.
»Du hast dich verändert, weißt du«, sagte sie. »Was ist mit dir los? Früher warst du lustiger. Und offener. Heute habe ich das Gefühl, als sei eine Barriere zwischen uns. Du sagst etwas und meinst dabei etwas ganz anderes.« Sie wartete einen Augenblick, bis sie entschieden erklärte: »Du bist falsch.«
»Alix«, sagte ich ruhig, »das stimmt nicht. Es gibt einfach nichts zu erzählen.«
Sie sprach wieder in vernünftigem Ton. »Also gut, wenn du es so willst. Aber ein bisschen enttäuschend ist es schon. Fanny, ich hatte solche Hoffnungen auf dich gesetzt. Ich hatte geglaubt, dass aus dir wirklich etwas werden könnte. Und diese Geschichte mit James … Also ich finde, dass du ihm gegenüber nicht fair bist. Du hast, weißt du, eine etwas zu hohe Meinung von dir.«
Es gab ein kurzes Schweigen, ein langsames Ausatmen des Rauchs, und dann hörte ich sie leise sagen: »… ihn so lange hinzuhalten.«
Ich gab keine Antwort, überlegte mir aber, ob sie vielleicht recht habe. Indes wartete Dr. Leventhal nur darauf, dass ich sein Büro verließ und wieder an die Arbeit ging, aber alles, was mir zu sagen einfiel, war: »Ich rufe dich von zu Hause aus an.«
»Liebst du ihn?«, fragte sie auf einmal.
Mein Instinkt, meine Vorsicht, eine innere Stimme oder einfach alle drei diktierten mir die Antwort.
»Nein.«
Das war, wie ich glaube, die Wahrheit. Meine Zuversicht, dass meine freudige Erregung sich allmählich zur Liebe steigern würde, war gedämpft worden. Das Bild von der unbeschwerten Zukunft, das ich mir gemacht hatte, war verschwunden, verdrängt durch die Notwendigkeit, sich kompliziert und ein bisschen geheimnistuerisch zu verhalten, dabei aber so zu tun, als sei alles in bester Ordnung, und zwar vor James ebenso wie, in leicht veränderter Version, vor Alix. Ich hätte, wie ich meinte, nie in diese Position gedrängt werden dürfen. Man hätte mich davor bewahren müssen. James hätte das tun müssen. Mir kam der Gedanke, dass Alix vielleicht doch recht hatte und ich James bei alledem nicht genügend berücksichtigt hatte. Es war mir nicht ganz klar, was er eigentlich wollte. Um es zu erraten, fehlte mir ein wenig Erfahrung. Vielleicht hatte ich mich in meinen Erwartungen verkalkuliert. Ich würde die Situation nach unserem gemeinsamen Urlaub überdenken, und dann würde ich auch Alix etwas zu erzählen haben. Von dem Urlaub durfte sie freilich nichts erfahren, bevor wir nicht sicher in Kent angekommen waren.
Als ich langsam in den Saal zurückging, sah ich, wie Olivias Blick auf mir ruhte, ein wenig traurig, aber ich lächelte ihr beruhigend zu und machte mich wieder an meine Arbeit.
An diesem Nachmittag rief Alix noch einmal an, und diesmal klang sie sehr viel fröhlicher.
»Es handelt sich um Folgendes«, begann sie ohne Umschweife, »Jack und Barbara haben uns für den Sonntag zum Lunch eingeladen, und da dachte ich, dass wir doch alle vier im Wagen hinausfahren könnten. Es ist irgendwo in der Nähe von Bray. Das sollten wir wirklich tun. Es erspart uns das Kochen, außerdem kann ich gut eine Abwechslung gebrauchen.«
»Ich wollte eigentlich zu den Benedicts gehen«, sagte ich leise und war mir dabei peinlich bewusst, dass Olivia mich hören konnte.
»Hör mal, Fanny, du kannst doch wohl einmal ausnahmsweise da wegbleiben. Sei nicht langweilig! Es wäre schrecklich unfreundlich von dir.« Sie war plötzlich böse geworden; es machte mir Angst, und ich fand es unumgänglich, sie zu besänftigen.
»Natürlich komme ich mit«, sagte ich.
»Das klingt schon besser«, erwiderte sie. »Warum kommst du nicht so um elf herum zu uns? Dann könnte James sich ein bisschen zu Hause ausruhen. Seine armen Füße müssen schon ganz zerschunden sein.«
»Das können wir am Freitag besprechen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was James …«
»Am Freitag? Ach ja, Freitag. Ob das klappt, ist noch nicht sicher. Nick wird vielleicht bis in den Abend hinein arbeiten. Ich rufe dich noch an.«
An diesem Abend führte mich James zum Essen aus, mich allein. Und all meine Befürchtungen waren beschwichtigt, als er mich danach zu Fuß nach Hause brachte, wenn es auch nicht der übliche Weg war. Es gab auch keinen Kaffee zu Hause, weil Nancy uns nicht so früh erwartet hatte und noch in der Küche vor dem Fernseher saß. Wir sagten ihr – vielmehr James sagte es –, sie solle keine Umstände machen, da er ohnehin sofort wieder gehen müsse. »Gehst du zu Fuß zurück?«, fragte ich, aber er antwortete lachend: »Heute nicht.« Es gab mir einen Stich ins Herz, dass er die alte Gewohnheit so leicht ablegen konnte. Aber sogleich warf ich mir vor, den äußeren Formen so viel Gewicht beizumessen. Er nahm mein Gesicht in seine Hände, vielleicht weil er bemerkt hatte, wie es den Ausdruck wechselte, und sagte: »Sei nicht traurig, Frances. Liebe Frances mit dem lieben ernsten Gesicht. Mein liebes, gutes Mädchen!« Das machte mich ein wenig glücklicher, weil ich nun wusste, dass er mir keine Vorwürfe wegen irgendwelcher Dinge machte. Aber ich ging nicht gern zu so ungewohnt früher Stunde zu Bett, und ich schlief auch nicht gut.
Als am nächsten Tag in der Bibliothek das Telefon läutete, erstarrte ich vor Schreck, beruhigte mich dann aber, als Dr. Leventhal nicht in der Tür erschien. Es war jedoch nur eine kurze Gnadenfrist, denn nach ein paar Minuten guckte er zu uns herein und sagte: »Bitte, Frances, auf einen Augenblick!«
Ich folgte ihm und erinnerte mich voller Grauen daran, wie mich Nancy einmal angerufen hatte, ich solle nach Hause kommen und sie glaube, ich müsste sogleich den Doktor kommen lassen. Das Herz schlug mir bis zum Halse, sodass ich, als Dr. Leventhal sagte: »Ich hatte gerade einen Anruf von Dr. Simek«, vor Dankbarkeit beinahe einen Kollaps bekam, als hätte ich erwartet, dass die Zeit rückwärts liefe und ich meine ganze, schwer erworbene innere Sicherheit wieder verlieren sollte. Ich konnte kaum verstehen, was Dr. Leventhal sagte. Er sah mich aufmerksam an.
»Fehlt Ihnen etwas, Frances? Sie wissen, die Grippe grassiert wieder einmal.«
Obwohl ich ein bisschen aus dem Gleichgewicht war, beteuerte ich, dass es mir gut ginge.
»Wie gesagt, Dr. Simek hat mich angerufen. Es geht ihm leider ziemlich schlecht. Die Grippe, Sie verstehen, und jetzt hat ihm der Arzt eine Ruhepause verordnet. Aber er hat einige Notizen hier gelassen und fragt nun, ob Sie sie ihm heute Abend bringen könnten. Er meint wohl, dass Sie wüssten, worum es sich handelt. Sie nehmen natürlich ein Taxi. Ich bezahle Ihnen Ihre Auslagen aus der Portokasse.«
Ich ärgerte mich über Dr. Simek, und ich ärgerte mich darüber, dass immer mich diese grässlichen Aufträge trafen. Im Taxi gingen mir alle möglichen Annehmlichkeiten durch den Kopf, von denen ich ausgeschlossen war: Wärme und Behagen, die Gesellschaft vertrauter Freunde, eine gemeinsame Mahlzeit. Ich hatte an diesem Abend überhaupt nichts vorgehabt, sodass die Angelegenheit eigentlich keine Störung bedeutete. Aber ich befand mich in einem Zustand nervöser Spannung, von dem ich mich anscheinend nicht befreien konnte.
Dr. Simek wohnte in einem großen, unschönen Haus, das sozusagen am Ende der Welt lag. Man ging ein paar ausgetretene Stufen hinauf. Durch die geöffnete Tür drangen ein vom Dunst gedämpfter Lichtschein und Küchengerüche. Am Herd stand eine Frau mit Schürze; ihr Gesicht konnte ich nicht sehen. Ich nannte meinen Namen und sagte, warum ich gekommen war. »Ach ja«, sagte sie mit einem überraschend kultivierten ausländischen Akzent. »Er macht sich solche Sorgen um seine Arbeit. Ich bringe Sie nach oben.« Sie wies mit der Hand zum Treppenaufgang, der mit einem verblichenen roten Läufer bedeckt war. »Wenn Sie so freundlich wären …« Ich bat sie, vorauszugehen. Im zweiten Stockwerk klopfte sie an eine Tür.
»Dr. Simek«, sagte sie leise und dann, lauter, noch einmal: »Dr. Simek, eine Dame wünscht Sie zu sprechen.«
Die Tür ging auf, und eine heisere Stimme ließ sich vernehmen: »Danke, Mrs. Lazowska, sehr liebenswürdig.« Die Hauswirtin – oder wer sie sonst sein mochte – lächelte mir mit einem Kopfnicken zu. Ich nickte mechanisch zurück und betrat das Zimmer.
Mit einem Blick wurde mir klar, dass Dr. Simek ziemlich krank war. Er saß neben einem alten Gasofen, vor dem eine Untertasse mit Wasser stand, auf dem sich eine Staubschicht gebildet hatte. Er war bekleidet mit einem abgetragenen seidenen Morgenrock und hatte um den Hals einen seidenen Schal geschlungen, dessen Enden im Ausschnitt des Morgenrocks steckten. Das Zimmer wurde von einer Deckenlampe erhellt. Es war ausgestattet mit einer schmalen Bettcouch, einer Kommode mit Porzellangriffen von der Art, wie man sie in der Dachstube eines Dienstmädchens finden kann, einem Bücherschrank, der an der Seite, wo ihm ein Bein fehlte, von einem Ziegelstein gestützt wurde, und schließlich einem kleinen Tisch mit einem Radioapparat, in dem ein ausländischer Sender eingestellt war. An der Tür hing einer dieser fürchterlichen Plastiksäcke, in dem Dr. Simeks Mantel und Anzug aufbewahrt wurden. Er selbst saß in einem Sessel, dessen Samt abgeschabt und verblichen war. Er machte Anstalten aufzustehen, aber ich trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter, worauf er sie ergriff und lächelnd streichelte.
Ich hatte geglaubt, ihn in niedergedrückter Stimmung anzutreffen. Stattdessen hatte er, wie mir schien, eine gewisse Gewandtheit und Weltläufigkeit wieder gefunden. Als ich ihm die Mappe mit seinen Notizen übergeben wollte, neigte er den Kopf, murmelte ein »Sehr liebenswürdig« und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, die Papiere auf den Tisch zu legen. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe, und er antwortete mit einer kleinen Grimasse: »Sie sehen es ja selbst, Miss Frances, Sie sehen es ja selbst.« Aber weil er vielleicht glaubte, er habe zu sehr mein Mitleid herausgefordert, steckte er sich eine gelbe Zigarette in seine altmodische Spitze und bat mich, Platz zu nehmen. Da es keine andere Sitzgelegenheit gab, setzte ich mich aufs Bett. Es klopfte wieder an der Tür. Als sie aufging, erschien Mrs. Lazowska mit einem Tablett, auf dem zwei große Gläser Tee mit Zitrone standen. »Ihr Tee, Dr. Simek«, sagte sie. »Und für Ihren Besuch.« Sie stellte einen kleinen Teller mit merkwürdigen Keksen auf den Tisch. »Bitte, essen Sie etwas!«, mahnte sie Dr. Simek. Er dankte ihr stumm mit einem Neigen des Kopfes, als wolle er sie verabschieden, und sie nahm es denn auch als einen Wink zu gehen.
Es war, bis auf das Brausen des Gasofens, sehr still und sehr warm. Der Tee war kochend heiß, und doch trank ich ihn so schnell ich konnte. Ich wollte so bald wie möglich dieses Zimmer wieder verlassen, und doch zwang mich eine überkommene Höflichkeit, so als wäre ich wieder zum Kind geworden, gutes Benehmen an den Tag zu legen. Dr. Simek nahm mit zittriger Hand ein Stück Zucker und steckte es sich zwischen seine alten, großen Zähne. Dann nahm er einen Schluck Tee. Diese mehrmals wiederholte Prozedur ließ ihn unglaublich fremdländisch erscheinen und erinnerte mich daran, vielleicht durch die Art, wie er die Oberlippe nach oben zog, dass er einmal ein tatkräftiger, vitaler Mann gewesen sein musste, und, nach der Art zu urteilen, wie ihn seine Wirtin behandelte, auch ein bedeutender. Weder die Einrichtung des Zimmers noch sein Schlafrock schienen ihn in irgendwelcher Weise verlegen zu machen und ich kam mir sehr jung und ein wenig unbeholfen vor. Auf der Suche nach Gesprächsstoff sah ich mich im Zimmer um, und mein Blick fiel auf die Fotografie einer sehr schönen Frau, die auf der Kommode stand.
»Ist das Ihre Frau?«, fragte ich, durchaus im Bewusstsein, dass dies eine ungehörige Frage war.
»Meine Tochter Zdenka«, erwiderte er.
»Sie ist sehr schön«, sagte ich.
»Ja«, sagte er, »sie war schön.« Seine Hände zitterten etwas stärker. Er führte das Teeglas zum Mund, leerte es und stellte es wieder auf den Tisch. Darauf steckte er sich wieder eine gelbe Zigarette in die Spitze, und es war mir klar, dass er darauf wartete, dass ich ging.
»Ich hoffe, dass es Ihnen bald wieder besser geht«, sagte ich zaghaft. »Wir vermissen Sie in der Bibliothek.« Er zeigte ein feines ironisches Lächeln, als wüsste er, wie wenig es uns ausmachte, ob er da war oder nicht. Ich erhob mich, denn die Situation war mit einem Mal unerträglich geworden, und streckte ihm die Hand entgegen. Er legte die Zigarettenspitze beiseite und versuchte aufzustehen, fand dann aber, dass es eine zu große Anstrengung für ihn sei. Seine Züge erschlafften, als er zurückfiel, und ich schickte mich an, ihm zu helfen, aber mit großer und unvermuteter Energie stemmte er sich mit den Armen ab und erhob sich. Mit der einen Hand stützte er sich auf die Rückenlehne des Sessels, mit der anderen ergriff er die Zigarettenspitze. Er brachte in seine Züge einen Ausdruck höflicher Gelassenheit, wie sie sich bei einem Abschied schickt, und neigte den Kopf zum Gruß. Er gab mir nicht die Hand, konnte es vielleicht nicht, sondern blieb, mit einer Hand auf die Sessellehne gestützt, stehen, während er mit der anderen die Bernsteinspitze umklammerte.
Es war ein so eindrucksvolles und so verstörendes Bild, dass ich es, sobald ich zu Hause war, in Worte fasste und niederschrieb.
Doch es verfolgte und irritierte mich so sehr, dass ich mich nach meinen Freunden sehnte und mich auf den Ausflug am Sonntag freute. Ich gab mir einen Ruck und drängte alle Zweifel und alles Misstrauen zurück, und es wurde ein wunderbarer Tag. Wir rasten mit dem Auto nach Bray. Ich saß mit James auf dem Rücksitz, und wenn James meine Hand nahm, sah ich ihn an, und er gab den Blick zurück, und ich wusste, dass alles wieder gut war. Es war ein schöner, sonniger Tag, zu schade, um in einem geschlossenen Raum zu bleiben, wie Alix sagte, und darum beschlossen wir, auf die Einladung zum Mittagessen zu verzichten und einfach weiterzufahren.
»Barbara geht einem sowieso immer ein bisschen auf die Nerven«, erklärte Alix und wies unsere Einwände zurück. »Ich kann ihr ja sagen, dass wir uns verfahren haben. Und wenn wir einmal gar nichts Besseres zu tun haben, können wir den Besuch immer noch nachholen.«
Wir aßen in einem Pub am Fluss, und Alix und Nick bestimmten, dass wir einen Spaziergang machten. Arm in Arm brachen sie auf, nicht ohne sich dabei tief in die Augen zu sehen, und auch James und ich wechselten einen Blick und lächelten uns zu. Dann brachen auch wir auf, aber wir gingen nur im Garten herum. Es war wärmer geworden, als ob es bald Frühling werden wollte. Wir konnten auf einer Bank sitzen und auf den Fluss schauen.
Später an diesem Nachmittag wollte Nick eine Aufnahme von uns machen. Ich nahm ihn und Alix auf, aber ich weiß nicht, ob etwas daraus geworden ist. Dann machte Nick eine Aufnahme von mir. Ich fand den Abzug zwei Tage danach auf meinem Schreibtisch. Ich sitze in einem Gartenstuhl, im blauen Wollhemd, mit dem blauen Pullover darüber. Ich sehe auf dem Bild sehr jung, sehr vertrauensvoll und ganz sorgenfrei aus. Sehr glücklich. Ich habe es noch. Es ist die einzige Fotografie von mir, die ich besitze.