1. Kapitel

Die Sonne verlässt immer als Erstes die östlichen Kasematten. Sie wird von der Westseite des White Towers verschluckt, in seinen Kerker gesperrt und im Morgengrauen durch die Rufe der Raben wieder befreit. Bewegt man sich um diese Zeit durch die Festung, stört einen niemand. Die Bewohner suchen Zuflucht an ihren Herdfeuern und geben sich keine Mühe, zwischen einem nächtlichen Wanderer und einem ruhelosen Geist zu unterscheiden, besteht doch sowieso kaum ein Unterschied zwischen beidem.

Ich gehe allein über den südlichen Rasen; die taufeuchten Grashalme schlüpfen zwischen meine nackten Zehen und streifen meine Fußknöchel, während ich mich frei im Mondlicht bewege. Im Schatten des White Towers bleibe ich stehen, lasse die im Mondlicht schimmernden Mauern auf mich wirken und verliere mich selbst in der Betrachtung der dunklen Fensterbögen, während die frühe Morgenbrise mich sanft in eine Richtung drängt.

Ein leises Lachen scheucht mich auf. Ich fahre herum, meine feuchten roten Haare legen sich für einen Moment wie ein Schleier um mein Gesicht. Aber ich sehe niemanden, spüre niemanden. Das Lachen wird lauter, regelrecht aufdringlich, und als ich beginne, mich zu regen, wird es nur noch lauter und lebhafter.

Lachen, Lecken, Lachen, Lecken.

Erschrocken reiße ich die Augen auf, nur um sie sofort wieder zu schließen, als grelles Sonnenlicht mir vom Fenster her schmerzhaft in die Augen sticht. Das feuchte Gefühl an meinen Füßen ist real, es wandert an meinen nackten Beinen hoch und landet schließlich in meinem Gesicht. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um vorsichtig und stöhnend meine Augen wieder zu öffnen, und sehe mich dem felligen Gesicht meines Katers Cromwell gegenüber, der absolut keinen Sinn für Privatsphäre hat. Die Füße, die er mir geleckt hat, versuche ich am Laken zu trocknen, während ich ihn liebevoll zwischen den Ohren kraule. Ich bringe gerade genug Zorn auf, um mein Gesicht beim Anblick des Speichels an meinen Zehen zu verziehen, denn mit dem schildpattfarbenen flauschigen Ball auf meiner Brust kann ich einfach nicht schimpfen.

Kicher, kicher, kicher.

Schlaftrunken, wie ich bin, nehme ich das fiese Lachen plötzlich als … ach, du Schreck! Ein Blick über Cromwells pelzigen Kopf hinweg aus dem Fenster zeigt mir zwei Jungen im späten Teeniealter mit ihrer hochmodernen Digitalkamera auf der östlichen Mauer, und natürlich spähen sie zu mir herüber. Mein dummerweise weit offen stehendes Fenster gibt mir keinerlei Deckung. Meine Brüste haben sich aus meinem Tanktop befreit und winken den beiden Jungen regelrecht zu, als ich in Hektik gerate. Das hinterhältige Grinsen in den Gesichtern hinter der wuchtigen Touristenkamera ist verräterisch genug, um mich dazu zu veranlassen, mich spontan aus dem Bett auf den Boden zu werfen.

Ich krieche bäuchlings über den Teppich, weiche dabei leeren Gläsern und diversen Kleidungsstücken aus, als wäre ich auf einem militärischen Hindernisparcours, um dem Gelächter zu entfliehen, das immer noch von der inneren Festungsmauer widerhallt. Als ich sicher bin, dass man mich von draußen nicht mehr sieht, drehe ich mich ächzend auf den Rücken und ärgere mich über mich selbst, weil mir jetzt all die Möglichkeiten einfallen, wie ich die Situation besser hätte meistern können. Zum Beispiel, indem ich mich einfach in meine Bettdecke gewickelt hätte, rechtzeitig daran gedacht hätte, die Vorhänge zuzuziehen, oder – wie jeder normale Mensch – einfach nur das Tanktop zurechtgerückt hätte, das mich im Stich gelassen hatte. Zu dumm, dass mir all diese Lösungen erst jetzt einfallen, nachdem ich meine Brust bereits am Teppich wund gescheuert habe.

Ohne Vorwarnung höre ich im Geiste die Stimme meiner Mutter, und ich zucke zusammen, so klar und deutlich ist sie. Beinahe könnte ich glauben – ja, hoffen –, sie wäre im Zimmer: »Weißt du, Maggie, für ein intelligentes Mädchen hast du bemerkenswert wenig gesunden Menschenverstand.« Ach ja, dieser Satz verfolgte mich in jedem Augenblick der Torheit meiner Teenagerzeit. Heute, mit Mitte zwanzig, empfinde ich ihn als noch ein wenig tragischer.

»Mags, bist du das? Gehst du heute nicht zur Arbeit?«, ruft mein Vater von unten, während ich noch immer nur in babyrosa Nachtwäsche rücklings auf dem Teppich liege. Die Sache ist mir so peinlich, dass ich mich noch nicht weiterbewegt habe.

Moment mal – wie spät ist es? Hastig greife ich nach der burgunderroten Arbeitsbluse, die seit dem gestrigen Feierabend zusammengeknüllt auf dem Fußboden liegt. Das zerknitterte Kleidungsstück schützt mich vor den Blicken von Zuschauern, sodass ich es wage, mir mein Handy zu holen und auf die Zeitanzeige zu schauen: 9 :53  Uhr. Schon vor einer Stunde hätte ich meine Arbeit antreten sollen. Laut stöhnend lasse ich das Gesicht auf den Teppich sinken, was meinen Vater, der inzwischen in der Tür meines Zimmers steht, zum Lachen bringt. Genau wie ich ist er noch nicht vollständig bekleidet für die Arbeit. Das grässliche T-Shirt mit dem Spruch, der nur zu einem dicklichen Dad mittleren Alters passt, schreit mir in großen Buchstaben entgegen: »Wer braucht schon Haare, wenn er solch einen Körper hat?« Die marineblaue Hose sitzt gerade eben über seinem Bauch, mühsam an Ort und Stelle gehalten von roten Hosenträgern. Sein roter Bart, durchzogen von Weiß, hängt noch teilweise im Halsausschnitt seines T-Shirts, das er anscheinend einfach übergeworfen hat, ohne darüber nachzudenken. Das Tudor-Barett und der blaue Uniformrock fehlen noch. Im Augenblick sieht er eher wie der aufmüpfige jüngere Bruder des Weihnachtsmannes aus, ganz und gar nicht wie der durchtrainierte, immer adrette Soldat der Britischen Streitkräfte, als der er zweiundzwanzig Jahre gedient hatte.

Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater noch exzentrischer werden könnte als damals, als er sein Haus verkaufte, um auf einem engen Boot zu leben. Aber da sind wir: Wir wohnen im Tower von London, wo er den obskursten Job ergattert hat, den er finden konnte – als Beefeater oder, um es vornehmer auszudrücken, als königlicher Leibgardist. Was das bedeutet? Er verbringt die meisten Tage damit, Touristen im Tower von London herumzuführen, damit zu prahlen, dass er zur Leibwache des Monarchen gehört, und dabei geflissentlich das »Zeremonien-« in seinem Titel zu unterschlagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich für diesen Job entschieden hat, weil es keinen anderen gibt, bei dem er eine so bizarre Uniform tragen kann. Er hatte sich mehr darauf gefreut, als er jemals zugeben würde, die Halskrause und die Strumpfhosen seiner Zeremonienuniform anziehen zu dürfen, die mit feinstem Goldgarn zusammengenäht wurde. Folgerichtig präsentierte er stolz seinen roten Bart und seinen runden Bauch, sowie er seinen Dienst antrat, und eignete sich seine neue Rolle methodisch an. Es dauerte nur wenige Wochen, bis er so aussah wie das Motiv auf einem der Geschirrtücher, die man in den Andenkenläden überall in London kaufen kann. Und er liebt das.

»Verdammter Mist!« Ich flitze in meinem Zimmer herum, auf der verzweifelten Suche nach meiner Hose, die ich irgendwo im Dunkeln ausgezogen und liegen gelassen hatte, nachdem ich um drei Uhr morgens von meinem »zehn Minuten die Augen schließen« aufgewacht war. Nachdem ich sie endlich auf dem Fußboden hinter meinem Bett gefunden habe, bleibt mir nur gerade genug Zeit, mir die Zahnbürste zu schnappen und mich beim Zähneputzen sehr kurz und kaum verständlich von Dad zu verabschieden, bevor ich die fünf Treppen zur Haustür hinunterrenne. Trotz meiner Eile bringe ich es nicht übers Herz, meiner Mutter nicht wie üblich »Ich liebe dich« zuzuflüstern, und ich bleibe auf dem Weg nach draußen im Flur stehen und verbringe wertvolle Sekunden damit, ihr Foto anzusehen. Sie sieht genau so aus, wie ich sie in Erinnerung habe: die Haare vom Wind zerzaust, so breit lächelnd, dass ihre Augen über den Wangen kaum noch auszumachen sind. Seufzend wende ich mich widerwillig ab, lächle ihr dabei traurig zu und werde wieder hektisch. Ich bin bereits viel zu spät dran, um mir eine Jacke überzuwerfen. Deshalb renne ich weiter und hoffe, dass die Märzbrise meine Haare wenigstens ein bisschen zu bändigen hilft.

»Morgen!«, rufe ich jedem der Beefeaters zu, an denen ich vorbeilaufe. Richie, unser unmittelbarer Nachbar, gießt die wild wuchernden Blumen in seinem kleinen Vorgarten. Noch nicht vollständig angezogen, wirkt er wie ein Spiegelbild meines Vaters mit seinem T-Shirt, den Hosenträgern und dem grau gesprenkelten Bart. Mit der freien Hand winkt er mir zu und schüttet sich dabei mit der anderen Wasser über die Stiefel, ohne es zu wollen und zu bemerken. Ich renne an Linda vorbei, die gerade aus der breiten offenen Tür des Brass Mount in der östlichen Ecke der Kasematten tritt. Sie dürfte ziemlich sicher der einzige Mensch auf der Welt sein, der von sich behaupten kann, in einem alten Artillerieturm zu wohnen, von dem aus früher Kanonen abgefeuert wurden. Während sie sich ihr Tudor-Barett auf den perfekten Haarknoten drückt, ruft sie mir einen Gruß zu, wohl wissend, dass es keinen Sinn hat, mich auf meinem täglichen Rennen zur Arbeit in ein Gespräch verwickeln zu wollen.

Nachdem ich das Kopfsteinpflaster hinter mir habe, erreiche ich den Pfad über die Zugbrücke. Es kostet mich all meine Willenskraft, nicht stehen zu bleiben, um Timmy, den Neufundländer des Beefeaters Charlie, zu streicheln. Die beiden kommen gerade aus dem Festungsgraben, wo Timmy jeden Morgen mit Begeisterung die Seemöwen scheucht.

»Morgen, Schätzchen!«

»Morgen, Charlie. Keine Zeit, Kev reißt mir sonst den Kopf ab!« Er lacht und salutiert scherzhaft, als ich an ihm vorbeirenne.

Timmy will unbedingt mitlaufen. Da er etwa so groß ist wie ein Schwarzbär, trommeln seine Pfoten hörbar auf den Boden, und sein Körper bewegt sich dabei wie eine Welle. Mit seinem wild wedelnden Schwanz könnte er mich glatt umwerfen, und ich muss darüber hinwegspringen. Seine mächtige Zunge hängt ihm seitlich aus dem Maul und hinterlässt einen Speichelfleck auf dem Saum meiner Hose.

Mein Arbeitsplatz ist bereits in Sichtweite, und ich muss nur noch den Gärtner Ben grüßen.

»Guten Morgen, Ben! Der Rasen heute Morgen …« Ich küsse mir die Fingerspitzen in einer übertriebenen Geste absoluten Entzückens.

Er lacht nur und spornt mich an, weiterzulaufen.

Außer Atem betrete ich das Gebäude mit den Ticketschaltern, viel zu spät, als dass es verzeihlich gewesen wäre, und so verschwitzt, als wäre ich in einer Sauna eingeschlafen. Während ich mich an meinen Platz zu schleichen versuche, schaue ich mich verstohlen um. Vielleicht habe ich ja Glück und komme trotz heftiger Verspätung ungeschoren davon? Hoffen darf man ja.

»Margaret Moore …« Ich zucke zusammen – nein, leider Pech gehabt. »Wie kann jemand, der buchstäblich an dem Ort wohnt, an dem er arbeitet, dennoch zu spät kommen? Du magst vielleicht in einer Burg leben, aber erwarte ja nicht, dass ich dich wie die Prinzessin behandle, für die du dich offenbar hältst.« Ich kann meinen Boss hören, bevor ich ihn sehe.

»Es tut mir leid, Kevin, wirklich sehr, sehr leid. Ich habe nicht bemerkt, wie spät –« Er unterbricht mich und fuchtelt mit seiner Hand so dicht vor meinem Gesicht herum, dass ich es riechen kann: Er war bereits im Café, um sich ein Schinkenspecksandwich zu gönnen, und hat anschließend hinter dem Lagerhaus heimlich eine geraucht.

Ich kapituliere. Wenn Kevin in dieser Stimmung ist, hat es keinen Zweck, mit ihm zu reden, und ich weiß bereits, welche Strafe mich erwartet: ein Abstecher in den Keller des White Towers, um die Tageseinnahmen dort in den Safe einzuschließen. Bei dem Gedanken schaudert es mich. Es wäre nur halb so schlimm, wenn dieser Keller nicht schon fast tausend Jahre alt und die Beleuchtung darin nicht wesentlich neuer wäre. Nicht, dass eine modernere Beleuchtung einen großen Unterschied machen würde: Niemand wagt sich die knarzende Treppe hinab, ohne erst die Augen zu schließen und wie ein kleines Kind vor den Ungeheuern davonzurennen, die nach seinen Füßen greifen, wenn es zu Bett geht, und niemand wagt sich tiefer in diesen Keller hinein als unbedingt nötig. Jahrhundertealte Weine, die von längst toten und begrabenen Adligen dort eingelagert wurden, bleiben deshalb unangetastet liegen, weil die instinktive Furcht des Menschen vor der Dunkelheit sie schützt.

Mit einem knappen Schlenker seiner Hand scheucht Kevin mich zu meinem Ticketschalter. Sein unechter Goldreif klappert dabei gegen seine ebenso unechte Rolex. Glücklicherweise sind die einzelnen Schalter durch Wände getrennt und nur von der Straßenseite aus durch die Schalterfenster einzusehen. Man kann mich also nur von draußen dabei beobachten, wie ich seine Gesten spöttisch nachahme. Ich lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen und versuche beim Anblick meines Spiegelbildes in der Glasscheibe vergebens, meine wild gekräuselten Haare zu bändigen. Feuchte Strähnen kleben mir im Gesicht, rote Locken kitzeln meine Nase. Also stecke ich mir meine Mähne, so gut es geht, hinten in den Halsausschnitt, damit sie mir bei der Arbeit nicht in die Quere kommt – und schon beginnt es, am Rücken bis hinab zum Hosenbund zu jucken.

Ich setze ein unechtes Lächeln auf und begrüße meinen ersten Kunden des Tages: »Guten Morgen und willkommen im Königlichen Festungspalast Seiner Majestät, dem Tower von London. Wie viele Tickets darf ich Ihnen ausstellen?«

Der Tag vergeht wie jeder andere: Ich wiederhole immer wieder denselben Satz, so oft, dass ich den Sinn kaum mehr heraushöre, drücke Tasten auf dem Computer, drucke Dinge aus, weiche meinen Kollegen aus und gebe alles, um mir die letzten Reste meiner Seele zu bewahren, bevor dieser Job sie frisst. Heute jedoch wird die Routine unterbrochen durch ein wenig Aufregung, weil ich meinen Slip in der morgendlichen Eile verkehrt herum angezogen habe und diesen immer unbequemer werdenden Fehler bei einer kurzen Toilettenpause beheben muss.

Und als die Zeiger der Uhr endlich langsam dem Ende des Arbeitstages entgegenkriechen, genauer gesagt fünf Minuten vor Schluss, drückt natürlich noch jemand sein Gesicht gegen die Scheibe meines Schalters. Völlig vertieft in das Facebook-Profil einer Frau, die in der Grundschule meine Mitschülerin gewesen war und mit ein paar kryptischen Bemerkungen über den Vater ihrer Kinder meine Neugier geweckt hatte, leiere ich meinen üblichen Text herunter, ohne aufzublicken: »Es tut mir leid, aber der Tower schließt heute um fünf Uhr. Er wird morgen früh um neun wieder geöffnet. Dann können Sie ihn besuchen.«

»Margo, ich bin es …«

Ich erstarre. Nur ein Mensch nennt mich Margo, und genau dem möchte ich jetzt am allerwenigsten begegnen – zumal in meinem derangierten Zustand. Nein, so hatte ich mir das absolut nicht vorgestellt. Noch viel weiter von dem entfernt, was ich mir in den letzten Wochen in meinen Tagträumen als erstes Gespräch nach der Trennung ausgemalt hatte, von meinem »Es-geht-mir-wirklich-großartig-ohne-dich-und-ja-ich-habe-schon-einen-anderen-siehst-du-nicht-wie-ich-Strahle«, könnte diese Situation nicht sein. Dabei hatte ich mich für dieses Zusammentreffen gewappnet. Ich blicke auf in die Augen meines Exfreundes.

Er beugt sich dicht Richtung Glasscheibe. Das Drachen-Tattoo an seinem Handgelenk, das wir zusammen entworfen haben, ist teilweise von mehreren Flechtbändern, ein paar alten Festivalbändern und dem Ärmelbund seines zerknitterten rosa Hemdes verdeckt. Die Ringe, die er an Daumen und Zeigefinger trägt – und die ich ihm nach und nach in den sieben Jahren unserer Beziehung zu Geburts- und Jahrestagen geschenkt habe –, schlagen aufeinander, als er sich die dunklen Haare hinters Ohr streicht.

»Wenn dich irgendwer hier sieht, Bran, endest du verscharrt von zweiunddreißig Beefeaters in dem Festungsgraben hinter dir. Siehst du die Kamera über mir? Ich kann dir garantieren, dass Lesley und Simon vom Sicherheitsdienst dich bereits gesehen und erkannt haben und die Grenadier-Garde in Alarmbereitschaft versetzen, während wir miteinander reden.« Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Lesley und Simon schütten sich vermutlich eher vor Lachen aus, während ihre eigene kleine Realityshow ein ganz klein bisschen interessanter wird. Spätestens morgen früh wissen alle, wirklich alle, dass Bran hier war.

»Margo –«

»Nenn mich nicht so.«

»Maggie, ich möchte doch nur mit dir reden. Die Wohnung fühlt sich so fremd an ohne dich. Es tut mir leid, dass du so empfindest, aber ich habe dir einen Monat Zeit gelassen, genau wie versprochen.«

Eine Zeit lang nach unserer Trennung, nachdem er alle anderen Optionen ausgeschöpft und erkannt hatte, dass sie nicht so verlockend waren, wie sie ihm vorgekommen waren, als sie noch mit dem Adrenalinkick einhergegangen waren, sie hinter dem Rücken seiner Freundin auszukosten, tauchte er mit absoluter Regelmäßigkeit unangemeldet hier auf.

Zu meinem Pech hat Bran einen Job in einem langweiligen Büro im Finanzdistrikt gleich auf der anderen Seite des Flusses gefunden, ist also nur eine Brücke davon entfernt, mir den Tag zu versauen. Ich weiß wirklich nicht, worin seine Arbeit besteht, irgendwas mit Zahlen und Steuern, aber er scheint genug freie Zeit zu haben, um mich zu belästigen. So wichtig kann es also nicht sein. Auf den Tag genau vor einem Monat hatte er mir angekündigt, dreißig Tage lang nicht kommen zu wollen, vermutlich ein Versuch, mich umzustimmen, heißt es doch: »Die Liebe wächst mit der Entfernung.« Und jetzt geht das Theater von vorn los.

Wirklich schlimm aber ist, dass es beinahe funktioniert. Nachdem ich sein Gesicht sieben Jahre lang fast täglich gesehen habe und plötzlich allein gelassen bin mit meinen Grübeleien über alte Erinnerungen, die durch die rosa Brille der Nostalgie strahlender und glücklicher erscheinen, hat er mir tatsächlich gefehlt.

»Komm bitte einfach nach Hause. Dorthin, wohin du gehörst.«

Beinahe muss ich darüber lachen. Ich muss den Versuch meines Exfreundes bewundern, mich davon zu überzeugen, dass unsere Wohnung am Stadtrand von London mit ihren schimmeligen Wänden und heimgesucht von den Gespenstern seiner Untreue mir ein besseres Zuhause ist als mein jetziges in einer königlichen Festung. Es gab einmal eine Zeit, in der eine einzige Sekunde von Feingefühl ausgereicht hätte, um mich zu allem zu überreden – und er weiß das. Das ist sein Trojanisches Pferd, eine Fassade von Intimität, hinter der sich der Schmerz verbirgt, den er mir erst dann zufügen wird, wenn er mich dazu verführt hat, ihm Einlass durch die Mauer zu gewähren, die nur zu einem einzigen Zweck errichtet wurde: ihn draußen zu halten. Während er das Gesicht verzieht wie ein gebrochener Mann, muss ich mich mit aller Gewalt daran erinnern, dass ich lieber bis ans Ende meiner Tage in der steinernen Zelle im Bell Tower verbringen würde, in der Rudolf Heß 1941 vier Tage lang gefangen gehalten wurde, als in dem Bett zu schlafen, das Nacht für Nacht meinen Kummer schlucken musste. Ich will das glauben, will an meine Stärke glauben.

»Ich brauche dich«, haucht er zur Krönung seiner emotionalen Sturmattacke auf mich.

Eine Träne löst sich von seinen dunklen Wimpern und rinnt über sein sonnengebräuntes Gesicht. Er wischt sie nicht weg, lässt sie dort trocknen, um die Mauern zu belagern, die ich seinetwegen errichtet habe. In dieser Träne sehe ich uns, sehe sieben Jahre meines Lebens, sieben Jahre voller Erinnerungen. Er ist alles, was ich kenne, seitdem ich erwachsen bin. Er ist mein Kummer und mein innerer Friede zugleich.

Mein Herz handelt, bevor mein Verstand es aufhalten und an die Reste von Würde und Vernunft ketten kann, die mir geblieben sind. Ich öffne die Tür des Kartenverkaufs, und bevor ich zur Besinnung komme, berührt meine Hand schon sein Gesicht und fängt seine Tränen auf. Das verdammte Trojanische Pferd.

Irgendwo in meinem Hinterkopf schrillen die Alarmglocken, aber es ist bereits zu spät. Es macht mich wütend, wie selbstverständlich sich das anfühlt. Dass ich mich so wohlfühle wie seit Wochen nicht mehr, nur weil ich ihn berühre. Früher konnten wir tagelang im Haus bleiben, in engster Gemeinschaft, zufrieden damit, einfach nur zusammen zu sein. Wenn einem von uns beiden nicht danach war, sich der Welt zu stellen, dann taten wir es eben nicht. Dazu bedurfte es keines einzigen Wortes, wir wussten ganz einfach, wie dem anderen zumute war. Also kuschelten wir uns gemeinsam unter die Bettdecke, sammelten neue Kraft und schafften es so, das nötige Gleichgewicht zu erlangen, um den nächsten Tag zu bewältigen. Als ich Mum verlor, wechselten wir drei Tage lang kein Wort miteinander. Er nahm sich arbeitsfrei und hielt mich einfach fest, bis …

Als er mich in die Arme nimmt, fällt mein Blick auf eine der Kameras, und endlich finde ich in die Wirklichkeit zurück. Die Paranoia gewinnt die Oberhand, und ich muss daran denken, dass jeder, der im Moment am Monitor sitzt und mir dabei zusieht, wie ich meine Würde und meine Kraft verliere, wieder ein wenig mehr die Achtung vor mir verliert. Auch wenn ich glaube, dass sie nicht noch schlechter über mich denken können, als ich das selbst schon tue. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, die widerlichen Beleidigungen, mit denen ich mein eigenes Verhalten verdamme, aber sie schwimmen einfach nur in seinen Tränen herum und werden von der Themse davongetragen.

Er löst sich von mir, mustert mich, beobachtet mich genau. Innerlich fluche ich darüber, wie sehr das Ganze nicht nach Plan verläuft: Es war mir gelungen, mich in der Pause in der Behindertentoilette zu waschen, aber keine Mühe der Welt konnte meine Haare bändigen, und auch die Lavendel-Handseife schaffte es nicht, nach dem morgendlichen Sprint zur Arbeit den Schweißgeruch meiner Bluse zu übertünchen. Mein Spiegelbild in der Scheibe meines Ticketschalters, das ich den ganzen Tag vor Augen hatte, trägt sein Übriges dazu bei, dass mir klar ist: Ich sehe fix und fertig aus.

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass unsere Trennung dich so schwer getroffen hat, Margo«, erklärt er nach kurzem Schweigen.

»Ähm … wie bitte?« Sein Griff ist schwach. Es kostet mich also nicht allzu viel Kraft, mich von ihm zu lösen.

»Du weißt schon: So schwer, dass du dich gehen lässt und so; dass du dir keine Mühe gibst, weil dein Herz gebrochen ist. Du brauchst nicht einmal etwas zu sagen, ich weiß auch so, dass ich dir gefehlt habe.«

Ich starre ihn an. Als ich nicht weiter reagiere, legt er mir die Handflächen auf die glühend roten Wangen und spricht eifrig weiter. »Hast du etwa auch den Appetit verloren? Du wirkst, als hättest du Gewicht verloren … Sieht irgendwie sexy aus.«

Jetzt muss ich mich nicht einmal mehr selbst aus meinem schwachen Moment reißen; er hat es geschafft, das für mich zu tun – einfach, indem er so ist, wie er nun mal ist. Inzwischen muss mein Gesicht puterrot sein. Das ist der Nachteil, wenn man rothaarig ist; ganz gleich, wie gut mir ein Pokerface gelingt, meine sommersprossige Haut lässt sich durch nichts daran hindern, die Farbe zu wechseln wie ein Chamäleon und damit unweigerlich jedes Mal zu offenbaren, was wirklich in mir vorgeht.

»Margo? Ich würde aber doch wenigstens Parfüm verwenden. Du hast doch noch das teure, das ich dir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt habe, nicht wahr?« Er plappert weiter. Das One-Direction-Parfüm, das er mir vor sechs Jahren gekauft hat, steht im Badezimmer meines Vaters und dient dort als Lufterfrischer … »Das mit dem natürlichen Duft ist nicht ganz so sexy.«

Ich gerate ins Schwanken. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschrien, hätte ihm jedes Schimpfwort entgegengeschleudert, das ich dank meiner Kindheit auf den verschiedensten Militärstützpunkten aufgeschnappt habe. Aber Bran scheint es immer zu gelingen, mich sprachlos zu machen. Ich traue meinen eigenen Gefühlen nicht, und die Worte bleiben mir im Halse stecken.

Bevor ich meine Sprache wiederfinde, lenkt mich ein rappelndes Geräusch ab. Kevin klopft ungeduldig an das Fenster meines Ticketschalters. Statt das Mikrofon einzuschalten, schreit er unhörbar durch die Sicherheitsverglasung, um mich ohne jeden Zweifel an die Bestrafung zu erinnern, die wegen meiner Verspätung am Morgen auf mich wartet. Und diese Verspätung ist natürlich der wahre Grund, warum ich so aussehe, als ließe ich mich gehen.

Bran streicht mir die Haare zurück, einer seiner Ringe bleibt an einem Knoten hängen. Ich zucke zusammen, weil es ziept, aber – wenig überraschend – er scheint das gar nicht zu bemerken. Er küsst mich auf die Stirn, murmelt etwas wie, er wolle mich nicht länger von der Arbeit abhalten und werde mich bald wiedersehen. Da meine Zunge mich immer noch im Stich lässt, antworte ich mit einem schwachen Lächeln. Und damit dreht er sich auf dem Absatz seines schwarzen Chelsea-Boots um, stolziert davon und ist kurz darauf über den Tower Hill verschwunden. Endlich wieder in der Lage, klar zu denken, und frustriert über meine Schwäche, rufe ich ihm nach beziehungsweise vage in die Richtung seines Abgangs, denn dank seiner verdammt langen Beine ist er inzwischen bestimmt schon an der Tube-Station.

»Ich habe verdammt noch mal kein Gewicht verloren, das sind einfach nur weite Hosen!«