Siebzehn Mal in den fünf Tagen seit unserer letzten Begegnung hat Bran versucht, mich anzurufen. Die Textnachrichten, die die entgangenen Anrufe begleiten, variieren von »Bitte, Baby, ich liebe dich« bis hin zu »Du kannst mich mal, du Schlampe«. Er war schon immer ein Charmeur. Glücklicherweise scheint die Drohung meines großen »neuen Freundes«, des Gardisten, ihn davon abgehalten zu haben, wieder hier aufzutauchen.
Nach meinem vertraulichen Gespräch mit Freddie wurde sein Zug noch am selben Nachmittag von Coldstream-Gardisten abgelöst, und ich hätte mir an jedem der fünf folgenden einsamen Abende in den Hintern beißen können, weil ich ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt hatte. »Wenn die Zeit günstig ist«, hatte er gesagt, aber das war beinahe genauso aussagekräftig wie die merkwürdigsten philosophischen Sprüche der Rabenmeisterin. Fast eine ganze Woche mir selbst überlassen ohne jegliche interessante Abwechslung, und das nach einer guten Unterhaltung, wird mir klar, wie sehr es mir fehlt, jemanden zum Reden zu haben. Also greife ich zu einer Maßnahme, von der ich immer geschworen habe, mich nie dazu herabzulassen: Ich melde mich bei Tinder an.
Ich betrachte das kleine rote Quadrat der Scham, das ungeöffnet auf meinem Hintergrundbild liegt, einem niedlichen Foto von Cromwell mit einer Fliege um den Hals. Im Moment sitzt er zu meinen Füßen und stößt immer wieder mit seinem Kopf gegen mein Bein, als wolle er mich davon abhalten, auch nur zu versuchen, mich durch das Minenfeld des Onlinedatings zu navigieren. Ich kraule ihn zwischen den Ohren und öffne die App. Als sie sich langsam aufbaut und das kleine Flammen-Icon mitten auf dem Bildschirm mich lockt, spiele ich mit dem Gedanken, mein Smartphone aus dem Fenster zu werfen, bevor die App vollständig geladen ist, aber ich muss zugeben, dass sich irgendwo tief in meinem Inneren etwas nach Aufmerksamkeit sehnt. Der Umstand, dass die einzige »liebevolle« Zuneigung, die mir in den letzten Wochen zuteilwurde, von meinem Exfreund kam, der mich auf WhatsApp eine Schlampe genannt hat, lässt mich den mühsamen Prozess der Registrierung durchziehen. Wie Mum immer sagte: »Tu’s einfach, Mags, was kann schon schlimmstenfalls passieren?« Natürlich meinte sie damit, ich solle meinen Träumen folgen, nicht aber, ich solle Swipes nach rechts machen bei allem, was mir die männliche Bevölkerung Londons zu bieten hat.
Da ich im Tower im Grunde meine eigene Gefangene bin, mangelt es mir eklatant an Fotos von mir selbst. Mein Fotoordner ist rappelvoll mit dreizehntausend Fotos von Cromwell, schönen Sonnenuntergängen und nur ganz seltenen grässlichen Selfies, bei denen ich (vergebens) versucht habe, ein paar der Posen nachzuahmen, wie sie ehemalige Highschool-Bekanntschaften auf Instagram veröffentlichen. Ab und zu scrolle ich an einem dieser misslungenen Versuche vorbei und muss innehalten, weil sie mich schaudern lassen. Jedes einzelne dieser Fotos sieht aus, als hätte es eine Tante mittleren Alters auf Facebook gepostet, nachdem sie einen Gin zu viel intus hatte.
Seufzend stelle ich ein Profil zusammen, das aus einem vor ein paar Jahren aufgenommenen Foto von mir und meinem Dad und einer Biografie besteht, die nur »London, 26 « enthält. Anschließend bin ich bereit, mir die infrage kommenden Junggesellen anzuschauen.
Das Gesicht von Joshua, 29 , füllt als Erstes meinen Bildschirm. All seine Fotos sind Varianten von ihm auf einem Paddelbrett an verschiedenen exotischen Plätzen. Er schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe, prahlt mit seinen straffen Bauchmuskeln und mit seinem Geld. Mir fällt dazu nur ein, wie sehr er eine Frau wie mich verabscheuen würde, die ihre Wochenenden mit Essen und Lesen im gemütlichen Heim ihres Vaters verbringt. Seine Bio allerdings gibt den Ausschlag dafür, dass ich ihn wegwische: »Einfach ein netter Kerl, der ein nettes Mädchen sucht, schätze ich. Scheint heutzutage viel verlangt zu sein.« Ich weiß zwar möglicherweise recht wenig über Dating, aber man muss kein Genie sein, um zu begreifen, dass die Unterstellung, die meisten Frauen seien nicht nett, vermutlich nicht die beste Methode ist, sich ein Date zu angeln. Vielleicht hofft er ja, dass die Mädchen sich von seinem Body blenden lassen und seinen Zynismus ignorieren. Swipe nach links.
Der Nächste ist Ryan, 28 . Genau wie meine eigene enthält seine Bio kaum mehr als den Namen der Stadt, in der er lebt. Damit kann man nicht viel anfangen, und ich nehme mir vor, meine Bio zu ändern, sobald mir einfällt, wie ich mich am besten anpreisen kann, als wäre ich ein Streuner im Tierheim. Seine Fotos bringen mich zum Kichern, als mir auffällt, dass jedes Einzelne seinen tätowierten Bizeps in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Darauf verschmelzen eine schwarz-weiße Rose und ein hyperrealistischer Löwe mit verschiedenen Uhren-Zahnrädchen. Die Krönung des Ganzen bildet jedoch die unglückliche Formulierung »Ich bin nicht wie die anderen«, die unauslöschlich auf seiner Brust prangt. Swipe nach links.
Sam, 27 . Swipe nach links. Jordan, 32 . Swipe nach links. Azeem, 28 . Swipe nach links. Richard, 45 . Swipe nach links …
Andrew, 35 – das einzige Profil, an dem ich eine Weile hängen bleibe. Er hat eine gute Auswahl an Fotos online gestellt, und auf jedem steht er im Mittelpunkt und mit ihm ein echtes, fröhliches, breites Lächeln, das ihn pausbäckig und seine blauen Augen ganz klein erscheinen lässt. Seine Miene lässt ihn vertrauenswürdig wirken, und sein Gesicht ist das erste, bei dem ich mich nicht unwillkürlich frage, ob ein Date mit ihm darin enden könnte, dass meine Leiche am nächsten Morgen von jemandem gefunden wird, der seinen Hund ausführt.
Sein weiches Kinn zeigt Anflüge von Bartstoppeln, seine dunklen Haare sind kurz und ordentlich geschnitten. Auch seine Bio kann nicht ansatzweise als Beleidigung oder Selbstmitleid betrachtet werden, nein, sie ist tatsächlich ein wenig lustig – jedenfalls lustig genug, um mir ein anerkennendes Schnauben zu entlocken: »Brauchst du Hilfe, um auf den Mindestbestellwert bei Deliveroo zu kommen?« Die Sache hat doch bestimmt einen Haken. Irgendwas muss doch mit ihm nicht stimmen. Ich nehme sein Profil ganz genau unter die Lupe, sabotiere mich selbst, versuche, seinen Fehler zu finden. Und da ist er auch schon: 317 km. Natürlich, der einzige Mann, der mir halbwegs anständig erscheint, lebt rund dreihundert Kilometer von mir entfernt.
Ich gebe auf. Ohne mir auch nur die Mühe zu machen zu swipen, werfe ich mein Smartphone aufs Bett und setze mich neben Cromwell, der sich auf der Bettkante zusammengerollt und friedlich geschlafen hat, während ich enttäuschende Tinderprofile analysiert habe. Als er spürt, wie ich mich neben ihn setze, hebt er den Kopf und starrt mich mit riesigen schwarzen Augen an.
»Was würdest du davon halten, ungefähr fünfzehn Brüder und Schwestern für dich zu adoptieren und das Haus nie mehr zu verlassen?« Er steht auf, als er meine Stimme hört, und tappt langsam und ein wenig schlaftrunken zu mir, klettert mir auf den Schoß und fängt an, eifrig zu treteln.
Seufzend streichele ich ihm über den Kopf. »Danke, Crom.«
Nachdem ich es aufgegeben habe, ein Date zu finden, und da ich an diesem Samstagabend nichts Besseres vorhabe, lasse ich mein Smartphone zu Hause liegen und gehe das kurze Stück hinunter zum Well Tower.
An der Mauer neben der östlichen Zugbrücke ächzt ein altes Pubschild im Wind, bemalt mit den Schlüsseln von König Charles in der lederbehandschuhten Hand eines Beefeaters. Der Name des Pubs – Keys – geht auf die Schlüsselzeremonie, die Ceremony of the Keys, zurück, mit der die Beefeaters und die königliche Garde seit Jahrhunderten jeden Abend den Tower abschließen. Dieses wahre Schauspiel militärischer Disziplin spielt sich jeden Abend auf die Minute genau zu exakt derselben Zeit ab. Während dieser Zeremonie sind wir alle verpflichtet, im Haus zu bleiben – obwohl Cromwell einmal versucht hat, daran teilzunehmen, und um die Füße des Soldaten herumgeschlichen ist, der mit einer Laterne dem mit den Schlüsseln bewaffneten Beefeater das Schlüsselloch beleuchtete. Seitdem hat mein Kater jeden Abend zwischen halb neun und zehn Hausarrest.
Nur ein einziges Mal fand die Zeremonie verspätet statt, nämlich während eines Bombenangriffs im Zweiten Weltkrieg. Eine Bombe traf den Tower, und die Druckwelle warf die Gardisten und den Beefeater um, die an der Zeremonie beteiligt waren. Es gelang ihnen jedoch, wieder aufzustehen und ihre Pflicht zu erfüllen. Und als ob es nicht schon Angst einflößend genug gewesen wäre, beim Dienst beinahe einer Bombe zum Opfer zu fallen, mussten sie anschließend sofort Meldung machen und ihren König schriftlich informieren, dass die Zeremonie ganze sieben Minuten zu spät durchgeführt worden war. Der König dankte ihnen ausgesprochen sparsam, und nicht ohne unter seine Unterschrift ein »Das darf nie wieder passieren« zu setzen. Und tatsächlich tat es das auch nicht – das hatte aber vermutlich weniger mit den Beefeaters zu tun als mit mangelnder Zielgenauigkeit der Bomberpiloten.
Es überrascht also nicht, dass sie den Ort, an den sie sich nach der Zeremonie zurückzogen, nach ihr benannten. Früher gab es Pubs an so ziemlich jeder Ecke des Towers, aber heute existiert nur noch dieser eine, und er ist die exklusivste Bar von ganz London; betreten kann ihn nur, wer die persönliche Einladung eines königlichen Gardisten vorweisen kann. Es stört aber niemanden, dass auch ich dort einkehre, solange ich ihnen hin und wieder ein Pint »Treason« (ihr nur für sie gebrautes Ale) ausgebe.
Ich stoße die schwere Holztür auf und durchquere den kleinen Windfang, in dem mich der vertraute Anblick an der Wand aufgereihter beziehungsweise hängender Beefeater-Memorabilien, – Gemälde und –Zierelemente begrüßt. Auf dem Boden prangt das Bild der gekreuzten Schlüssel, als sei es das Symbol eines Geheimbundes. In gewisser Weise ist es das wohl auch. Hier haben sie ihre Basis. Den Gastraum betrete ich durch die verglaste Doppeltür. Drinnen, links und rechts neben der Tür, bewachen zwei Uniformen mit Partisanen, alten Stoßwaffen, von ihren Schaukästen aus den Schankraum, aber was hier wirklich Aufmerksamkeit erregt, ist die Farbe: rotes Leder überall, auf jedem Stuhl, jeder Bank, ja, sogar auf der Bar.
Und das ist noch nicht alles. Es ist schier unmöglich festzustellen, ob der Teppich nach zu vielen feuchtfröhlichen Abenden fleckig ist, denn auch er ist leuchtend rot und verziert mit den Pflanzensymbolen der einzelnen Länder, die zusammen das Vereinigte Königreich bilden. Gebinde aus Rosen, Disteln und Dreiblättrigem Klee um eine schöne goldene Krone in der Mitte. Es riecht nach Schnupftabak, eine Erinnerung an Partys, die der friedlichen Szene vor meinen Augen erst kürzlich vorausgingen und zweifellos demnächst wieder folgen werden.
Zu Charlie – meinem Nachbarn mit dem Neufundländer – und Dad hat sich Godders gesellt. Alle drei hocken sie an der Bar. Godders, der etwas kleinere (und dickere) der drei Beefeaters, beugt sich über die Zapfanlage und füllt sein fast leeres Glas an einem der nahen Zapfhähne. Als er sich streckt, rutscht der Ärmel seines Hemdes hoch und gibt die glänzende Armbanduhr an seinem Handgelenk preis, die so protzig ist, dass sie nur an James Bond gut aussehen würde. Godders trägt immer irgendetwas Auffälliges und Teures und hat immer etwas zu erzählen – und das tut er auch, des Langen und Breiten, über Stunden hinweg.
Ich setze mich ans andere Ende der L-förmigen Bar und schaue hinüber zu den drei Beefeatern, die irgendwie an das amerikanische Komikertrio The Three Stooges erinnern, mit seiner wilden Bandbreite an Frisuren und Bärten sowie dem kindischen Benehmen.
Godders blickt nervös und überrascht auf – wahrscheinlich fürchtet er, dass sich einer der knurrigeren Beefeaters an die Bar gesetzt hat, um ihn dafür zu schelten, dass er sich gratis bedient –, aber seine Miene hellt sich auf, als er mich sieht. »Hallo, Mags, wie geht es dir, Kind?«, fragt er in dem für Bewohner von Tyneside typischen breiten Dialekt.
»Aah, Maggie, geht’s dir gut, Mädchen?«, setzt Charlie freundlich lächelnd hinzu. Charlie ist so was wie der Großvater des Pubs. Man trifft ihn immer hier an, Geschichten aus der Zeit erzählend, in der er Dudelsackspieler im Königlichen Regiment von Schottland war. Seine Geschichten sind fesselnd, und ich könnte ihm stundenlang zuhören, wobei ich offen gesagt nicht sicher bin, ob das nicht nur daran liegt, dass sie in seinem Highland-Dialekt einfach spektakulärer klingen.
»Bist du gekommen, um deinen Samstagabend mit den alten Männern zu verbringen, Schatz?« Mein Dad lächelt.
»Ich dachte, ich komme, um euch drei im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass ihr keinen Ärger macht«, erwidere ich und werfe Godders spielerisch einen strengen Blick zu. Zum Zeichen der Kapitulation hebt er beide Hände, die Wangen gebläht vom gestohlenen Bier, sein eigener drahtiger Schnurrbart überlagert von einem aus Schaum, der auf seine Lippen und sein bärtiges Kinn tropft. Wir alle müssen aus vollem Herzen lachen. »Die nächste Runde auf mich?«, biete ich an, und die drei alten Männer nicken begeistert.
Da der Schankkellner immer noch nicht da ist, gehe ich hinter die Bar und zapfe die Pints selbst. »Wo steckt eigentlich Baz?« Baz ist zwar auch ein Beefeater, aber immer derjenige, der freiwillig an der Bar bedient. Mit seiner Tweedkappe, seinen ausgebleichten Hosenträgern und seinem Liverpool-Fußballhemd, das er ständig trägt, gehört er genauso zum Inventar wie die Theke selbst.
»Gestern Abend hatten ein paar Jungs aus seinem alten Regiment hier eine Party, und als sie erfuhren, dass er einer von ihnen ist, haben sie ihm für jedes Pint, das sie für sich bestellt haben, auch eines gekauft. Er schläft hinten seinen Rausch aus.« Im Geiste sehe ich Baz vor mir, wie er Gin durch die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen durch den Schankraum schießt, ein Partytrick, den er gern zeigt, wenn er ordentlich einen getrunken hat.
»Eine noble Gesellschaft aus der kanadischen Botschaft hat sich für später am Abend angemeldet. Also haben wir ihm gesagt, dass wir für ihn die Bar im Auge behalten, während er sich auspennt.« Dad kichert schelmisch bei diesen Worten. Ich stelle fest, dass alle drei bereits leicht schwanken.
»Klar doch.« Ich verdrehe die Augen und stecke eine Zehn-Pfund-Note in die Kasse, bevor ich auf meinen Platz zurückkehre.
Eine Weile höre ich den dreien zu, während sie beschwipst Klagen über den Governor of the Tower, ihren Boss, und ein paar der anderen Beefeaters austauschen. Keine Ahnung, wer das Stereotyp erfunden hat, dass Ladys mittleren Alters besonders gern tratschen, aber derjenige hat definitiv noch nie einen Beefeater Ende fünfzig kennengelernt.
»Habt ihr gesehen, wie Lunchbox heute Morgen seine Tour absolviert hat? Tauchte ohne Socken und Stiefel auf, stand einfach da mit seinen nackten Hobbitfüßen, als wäre das völlig normal! Mir taten die kleinen Kinder leid, die so dicht bei ihm stehen mussten.« Charlie tut so, als müsste er sich übergeben. Die anderen beiden schauen sich angewidert an.
»Du machst doch Witze?« Lächelnd streicht Dad sich mit seiner Pranke seinen roten Bart glatt. »War er besoffen?«
»Nein, völlig nüchtern. Behauptete, er habe Hitzewallungen wie seine Frau.«
»Ah, ein weitverbreitetes Leiden: Ein Exmarine Ende sechzig, fast hundertdreißig Kilo schwer, macht die verdammten Wechseljahre durch. Was für ein Idiot.« Godders schüttelt seinen Kopf. Sein Lachen klingt eher wie Husten, und er nimmt einen weiteren Schluck aus seinem Glas, das sich rasch leert.
Ich beobachte die drei und ihre angeregte Interaktion lediglich voller Ehrfurcht und steuere nur hier und da ein leises Lachen zu ihrer Unterhaltung bei. Sie sind geborene Entertainer, ihre Gesellschaft ist komischer und aufregender als jede noch so aufwendige Samstagabendshow im Fernsehen.
»Wie ist das Leben im Ticketverkauf denn so, Maggie?«, wendet Godders sich fragend an mich.
Charlie nickt. »Genau, ist dieser Kevin immer noch solch ein Arschloch?«
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Ich halte es einfach nicht aus. Wisst ihr, er hat diese Woche einem Besucher erzählt, der Tower sei von Heinrich VIII . erbaut worden. Beinahe wäre ich aufgestanden und hätte hingeschmissen.« Die drei Beefeaters grummeln und schütteln missbilligend den Kopf.
»Wer stellt solche Clowns ein? Und meinem Mädchen geben sie nicht mal einen Job als Wächterin im White Tower, obwohl sie mehr weiß als all diese Idioten zusammen.« Dad schaut mich mitleidig an. Ich verziehe verlegen mein Gesicht, weil ich nicht so recht weiß, was ich auf diesen Ausbruch väterlicher Zuneigung sagen soll.
Zum Glück redet er rasch weiter. »Dabei ist das noch gar nichts gegen die Frage, die mir eine Touristin am Montag gestellt hat …« Er wackelt vielsagend mit den Augenbrauen, und Godders und Charlie verdrehen beide die Augen.
»Will ich das wirklich wissen?«, stöhnt Charlie, eindeutig in der Erwartung, dass das, was mein Dad erzählen wird, ihm Schmerzen bereiten wird.
»Zuallererst fragte sie: ›Wie nennt man die Brücke mit den großen Türmen darauf?‹ Ich antwortete: ›Man nennt sie, wenig überraschend, die Tower Bridge.‹ Daraufhin fragte sie zurück – kein Scherz: ›Und führt sie ganz bis auf die andere Seite des Flusses?‹«
»Jesus Christus«, stöhnt Godders und lacht prustend.
Der Schluck Bier, den ich gerade genommen habe, sprüht aus meinem Mund über die Bar, als ich ebenfalls lachen muss. »Was antwortet man auf solch eine Frage? Ich frage mich, wie die Brücken in ihrem Land aussehen.«
»Was hast du gesagt?«, will Godders wissen.
»Nun, zuerst dachte ich, sie macht Scherze, aber dann bemerkte ich, dass sie auf eine Antwort wartete. Mir fiel nichts Besseres ein als: ›Man nennt sie schließlich nicht Tower Pier, nicht wahr?‹ Ehrlich gesagt, wirkte sie immer noch verwirrt, aber ich schaffte gerade noch, sie zu fragen, woher sie kommt, und außer Hörweite zu fliehen, bevor ich vor Lachen umfiel.«
Im Byward Tower führen sie ein kleines Büchlein voll mit dummen Fragen, die den Beefeaters im Laufe der Jahre von Touristen gestellt wurden, immer mit dem Vermerk, woher der Fragesteller kommt. Immer am Ende des Jahres werden die besten ausgewählt und ausgedruckt, um bei einer der vornehmen Partys zur Unterhaltung der Gäste verteilt zu werden. Einer meiner persönlichen Favoriten ist eine Frage, die viel zu oft gestellt wird: »Haben sie den Tower absichtlich so nah an der U-Bahn-Station gebaut?« Diese Frage erntet fast immer dieselbe Reaktion: Man schlägt die Hand vors Gesicht oder lacht aus vollem Hals. Wenn man bedenkt, dass der Tower von William dem Eroberer um 1080 an einer römischen Stadtmauer errichtet wurde, bezweifle ich doch sehr, dass Willy bis zu den Sechzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorausgeplant hat und dabei einen leichten Zugang für Touristen im Auge hatte …
»Dreimal dürft ihr raten, woher sie kam …« Die drei Beefeaters werfen mir ein wissendes Grinsen zu, ihre Augen bereits glasig vom Alkohol und leuchtend vor Belustigung. Röte überzieht ihre Wangen, und ihre Nasenspitzen glühen. So, wie sie da zusammen an der Bar sitzen, ähneln sie einer Weihnachts-Lichterkette.
Die Standuhr in der Ecke schlägt acht, und wie der winzige Vogel in einer Kuckucksuhr taucht Baz aus dem Hinterzimmer auf, die spärlichen Haare stehen ihm zu Berge und hängen in einer dünnen Welle auf der linken Seite herab. Er streicht sie flach über seine Glatze und zieht seine Kappe darüber. Verschlafen reibt er sich die Augen, watschelt hinter die Bar, wobei die Hosenträger hinter ihm her auf dem Boden schleifen, gießt sich ein Glas Gin und Wasser ein und lässt eine Vitamin-C-Tablette hineinfallen.
»Fühlst du dich so mitgenommen, wie du aussiehst?«, fragt Dad mit schwerer Zunge. Als Antwort zeigt Baz ihm nur seinen gestreckten Mittelfinger über die Schulter.
»Brauchst du heute Abend jemanden, der dir hilft, Baz?«, frage ich, während ich zusehe, wie er mit seinen Hosenträgern kämpft, und mitfühlend zusammenzucke, als sie an seiner Schulter hängen bleiben und ihm ins Gesicht schnellen. »Es macht mir nichts aus, heute Abend die Bardame zu spielen. Ich habe nichts Besseres zu tun, und ich habe auch keine Lust, den da ins Bett zu schaffen.« Mit dem Daumen deute ich auf Dad, dessen Kopf auf eine Packung Pork Scratchings, knusprig frittierte Schweineschwarte mit Speck, gesunken ist, die er hinterm Tresen stibitzt hat, ohne dass Baz es bemerkt hat.
Baz schafft es endlich, seine Hosenträger zu befestigen, auch wenn der eine auf dem Rücken komplett verdreht ist. Er kommt zu meinem Platz herüber und wuschelt mir dankbar durchs Haar. »Du bist eine geniale junge Dame. Cheers, Maggie.«
Breit lächelnd winke ich ab, er watschelt zurück in den Raum, aus dem er gekommen ist, und kippt dabei stöhnend seinen Kater-Cocktail hinunter. Ich nehme seinen Platz hinter der Bar ein, als die ersten Gäste eintreffen. Männer in schwarzen Anzügen und Frauen in Cocktailkleidern strömen herein und drängen sich schon bald um die drei Männer an der Bar.
»So, ihr alten Männer.« Ich schrecke Godders, Charlie und Dad auf, die schon beinahe schlafen. »Geht jetzt nach Hause und trinkt noch eine Tasse Tee. Ihr gehört ins Bett, und ich habe zu tun.«