KAPITEL 1

YOUNES

TAG 3: MO, 20:00 UHR,

NASHVILLE CONSERVATION RESERVE, KANADA

Die Männer von Elekreen waren ihnen dicht auf den Fersen. Younes’ Atem hetzte. Seine Kraft ließ langsam nach und es fiel ihm immer schwerer, seinen Bruder zu halten. Doch Aufgeben kam für ihn nicht infrage.

Er warf einen Blick zurück und erkannte, dass sie eine Blutspur quer durch den Wald zogen. Bei Tageslicht hätten ihre Verfolger sie dadurch problemlos finden können. Doch der Abend war bereits angebrochen und das verschaffte ihnen die nötige Zeit.

Im Dämmerlicht war es für Younes schwer, etwas zu erkennen. Immer wieder stolperte er über Wurzeln, Äste schlugen ihm ins Gesicht und versperrten ihm den Weg.

Er schloss seine Hand fester um Samuels Arm, als er ihm zu entgleiten drohte. Sein Bruder hielt sich kaum noch auf den Beinen. Kraftlos hing er zwischen Younes und Chloe und aus der Wunde, die sie nur notdürftig versorgt hatten, strömte weiter Blut. Die Angst, er würde jeden Moment zusammenbrechen, war erstickend.

Younes schaute sich noch einmal um. Das Licht von einem halben Dutzend Taschenlampen schnitt sich durch die Dunkelheit und kam unaufhaltsam näher. Er änderte die Richtung, um die Männer abzuhängen, da riss sich Samuel auf einmal los und fing sich an einem Baum.

»Wir dürfen nicht stehen bleiben!« Chloes Stimme überschlug sich beinahe und Panik zeichnete sich darin ab.

»Ich kann nicht …«, keuchte Samuel und fiel auf die Knie. Die Hand hielt er fest auf seine Wunde gepresst.

Younes versuchte, ruhig zu atmen und einen klaren Gedanken zu fassen, doch in seinem Kopf herrschte Chaos.

Er raufte sich das Haar und taumelte von Sam weg. Es raubte ihm den Verstand, dass er nicht wusste, was hier geschah, wer oder was im Körper seines Bruders steckte und was diese Männer von ihnen wollten.

»Younes?«, flehte Chloe ihn beinahe an.

»Wir … wir sollten uns trennen«, entschied er.

Sie zitterte ebenso wie er, hatte unbändige Angst und überhaupt hatte sie mit alledem nichts zu tun! Der Gedanke, dass er sie in diese Sache mit hineingezogen hatte, fraß ihn schier auf. Darin, Chloe wegzuschicken, sah er den einzigen Weg, sie zu schützen. »Sie sind nicht hinter dir her. Sie werden dir nicht folgen.«

Chloe atmete tief durch. »Ich lasse dich nicht allein«, sagte sie entschlossen. »Das ist doch alles nur ein Missverständnis. Eine Verwechslung.«

Er wünschte sich, es wäre so. Doch Samuel war nicht Samuel, und was bei dem Kraftwerk geschehen war, alles andere als normal.

»Also gut, dann …«, murmelte er und ging neben Samuel in die Hocke. »Wir müssen weiter. Sam?«

Er legte ihm die Hand auf den Arm. Erschrocken stellte Younes fest, dass sich seine Haut kalt anfühlte – als hätte das Leben bereits begonnen, aus seinem Körper zu weichen.

»Ich bin nicht er und das weißt du auch«, sagte Samuel kühl und leise.

Younes’ Herz machte einen Satz, als dieses fremde Wesen im Körper seines Bruders aufsah und goldene Blitze in dessen Augen zuckten. Schnell zog er die Hand zurück. Diese Worte gingen ihm durch Mark und Bein. Er wollte das nicht hören und wagte es auch nicht nachzufragen, ob Samuel überhaupt noch am Leben war.

Flüchtig sah er zu Chloe, die von dem Gespräch nichts mitbekommen hatte. Sie sah sich nervös um. In der Ferne waren die Stimmen ihrer Verfolger zu hören und die Lichtkegel ihrer Taschenlampen huschten durchs Dickicht.

Samuel lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baum. Für einen Moment hielt er seine Augen geschlossen, und als er sie wieder aufschlug, unterstrichen die Blitze darin das, was er gesagt hatte.

Sosehr es auch wehtat, nur darüber nachzudenken, dass er Sam längst verloren haben könnte – Younes musste es einfach wissen.

»Lebt er noch?«, fragte er gefasst und doch konnte er das Zittern in seiner Stimme nicht ganz verbergen.

Er bereute sofort, diese Frage gestellt zu haben. Noch mehr, als Samuel nicht antwortete.

Wie betäubt starrte Younes ihn an. Konnte das wirklich wahr sein? Dass er seinen Bruder vor sich sitzen sah, mit ihm redete und dabei war er längst tot? Es schraubte ihm die Kehle zu. Das konnte nicht sein! Er konnte einfach nicht akzeptieren, dass sein Bruder nicht mehr da war!

»Sie kommen näher«, flüsterte Chloe. Mit ihren Worten riss sie Younes aus seiner Erstarrung.

»Lasst mich hier«, forderte Samuel ihn auf. »Ich bin nicht der, den du zu retten versuchst.«

Younes öffnete den Mund, fand aber nicht die richtigen Worte. Wer auch immer im Körper seines Bruders steckte, hatte ihm das Leben gerettet. Wie hätte er ihn hier zum Sterben zurücklassen können? Aber ihn mitzunehmen, hätte womöglich ihrer aller Tod bedeutet.

Schließlich schüttelte er den Kopf. Egal, was die Vernunft ihm riet, er konnte ihn nicht blutend hier sitzen lassen und abhauen wie ein Feigling. Nicht wenn auch nur die geringste Chance bestand, Samuel am Ende doch noch zu retten.

»Du schuldest mir noch Antworten«, sagte er entschlossen.

Der Fremde in Samuels Körper nickte. »Dann gib mir einen Moment Zeit.«

Er schloss abermals die Augen und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Younes beobachtete, wie sich hinter seinen Lidern die Augen bewegten. Als Blitze zwischen Sams Fingern zuckten, sprang er erschrocken auf.

»Was ist passiert?« Chloe sah ihn irritiert an.

Younes’ Blick wanderte von ihr zu den Blitzen und wieder zurück. »Siehst du das denn nicht?«

Auch wenn die feinen Blitze mittlerweile verschwunden waren, konnte sie doch kaum übersehen, dass sich die entladene Energie, einem bläulich schimmernden Spinnennetz gleich, durch das trockene Laub des Waldbodens ausbreitete. Doch Chloe schüttelte nur verwundert den Kopf.

Younes verstand nicht, warum nur er allein wahrnehmen konnte, was so offensichtlich vor ihnen lag: die Energie, das goldene Leuchten in Sams Augen und der süßliche Duft, den er im Krankenhaus das erste Mal wahrgenommen hatte.

Laub rieselte auf sie herab und Chloe blickte hinauf zur Krone des Baumes, an dem Samuel lehnte. Von dem fremden Wesen ging die Energie auf den Baum über, kroch in leuchtendem Blau durch die Fasern des Stamms wie Blut durch Adern und breitete sich über die Äste bis in die dünnsten Zweige aus. Es war, als würde diese Energie dem Baum das Leben entziehen – er starb, und das in rasender Geschwindigkeit.

Die Blätter wurden welk, fielen wie Regen auf sie herab, die Äste verkümmerten und alles Grün wich aus ihnen, während Younes beobachten konnte, wie das blaue Licht langsam zurück in Samuels Körper floss.

»Was stimmt nicht mit der Natur?«, fragte Chloe. Dass der Baum verwelkte, konnte sie sehen. Warum das geschah, blieb ihr jedoch offenbar verborgen.

Samuel schlug die Augen auf. Das goldene Leuchten darin war wieder stärker geworden, nachdem er dem Baum das Leben entzogen hatte.

Zweifel kamen in Younes auf. Zweifel darüber, ob er auf der richtigen Seite stand, wenn er diesem fremden Wesen half. Er wusste nichts über ihn. Nur dass er anders war. Kein Mensch. Er konnte die Natur kontrollieren, Bäume aussaugen, Pflanzen wuchern und Blitze entstehen lassen. Es wäre ihm sicher ein Leichtes gewesen, Younes und Chloe zu töten.

»Dahinten!«, rief jemand.

Chloe wirbelte herum und Younes’ Herz machte einen Satz. Sie kamen! Für sein Misstrauen blieb keine Zeit. Er ging auf ein Knie und reichte Samuel die Hand. Sie mussten sich beeilen, bevor ihre Verfolger sie endgültig eingeholt hatten. »Ist es besser?«

Samuel durchbohrte ihn mit seinem Blick, dann packte er, statt nur die Hand anzunehmen, Younes’ ganzen Arm und hielt ihn so fest, dass es wehtat.

»Du verurteilst mich, weil ich anders bin«, warf er ihm vor, als hätte er Younes’ Gedanken gelesen. »So seid ihr Menschen. Was euch fremd ist, macht euch Angst und ist eine Bedrohung für euch.«

Younes versuchte, sich loszureißen, kam aber nicht frei. Voller Entsetzen konnte er spüren, wie die Energie des Wesens auf ihn überging, an seinen Gedanken und Gefühlen zerrte und ihn ganz und gar zu verschlingen drohte. Panik kam in ihm auf. Er schrie innerlich, blieb nach außen hin aber stumm. Sein Körper war wie gelähmt.

»Lass …«, presste er hervor, bevor die fremde Kraft in ihm wieder die Oberhand gewann.

»Aber du bist auch anders«, fuhr Samuel in ruhigem Ton fort. »Das solltest du bedenken. Du bist nicht wie die anderen Menschen.«

Younes’ Atem ging stoßartig. Die Energie, die ihn durchströmte, war kaum zu halten. Sie schien ihn zu zerreißen, so wie Papier von strömenden Wassermassen zerfetzt wird. Er war völlig machtlos und diesem Wesen ausgeliefert.

Als er bemerkte, wie sich sein linker Arm ohne sein Zutun bewegte, wandte er schwerfällig seinen Kopf zur Seite und riss die Augen auf. Samuel hatte Besitz von ihm ergriffen. Wehrlos musste Younes mit ansehen, wie er die Finger spreizte, wie Blitze dazwischen zuckten und er die Handfläche mit einem Mal auf den Boden schlug.

Die Energie, die von Samuel auf ihn übergegangen war, strömte ins Erdreich und zog sich wie eine Schockwelle blauen Lichts durch die Pflanzen, Wurzeln, Blätter und Bäume.

Alles um ihn herum erstrahlte in einem Geflecht aus reinem Licht. Für Younes fühlte es sich an, als würde sein Geist mit der Energie in die Umgebung übergehen.

Er konnte alles spüren. Jede Bewegung in den Wipfeln der Bäume, jede Berührung des Windes eines jeden Blattes, bis hin zu den Schritten ihrer Verfolger, die Laub und Dreck aufwirbelten.

Die Panik verstummte und an ihre Stelle trat ein unbändiges Gefühl von Freiheit. Er war eins mit allem – ein Teil dieser Welt, zu der er geglaubt hatte zu gehören, doch erst jetzt erkannte er, was es bedeutete, wirklich mit ihr verbunden zu sein. Es gab keine Grenzen mehr, keinen Körper, der ihn fesselte, nichts, was ihn mehr hielt.

Das alles geschah binnen Sekunden, auch wenn es sich für Younes wie eine Ewigkeit anfühlte. Ein Atemzug, dann war es vorbei. Die Energie ebbte ab, floss zurück zu ihm, durch ihn hindurch und in Samuels Körper.

Bald darauf gewann Younes die Kontrolle über seine Glieder zurück. Er war wieder in seiner eigenen kleinen Fleischhülle gefangen und fühlte erst jetzt, wie sie ihn fesselte.

Er sah zu dem fremden Wesen auf. Noch hatte er nicht ganz verarbeitet oder auch nur begriffen, was gerade mit ihm geschehen war, und mehr denn je sehnte er sich nach Antworten. Was dieses Wesen ihm gezeigt hatte, war erschreckend wie faszinierend zugleich – doch die Faszination überwog.

Entschlossen packte er Samuels Arm. »Komm«, forderte er ihn auf und zog ihn auf die Beine.

Samuel krümmte sich, kaum dass er stand und presste eine Hand fest auf die Wunde.

Chloe war sofort bei ihm, um ihn zu stützen. »Geht es?«, fragte sie besorgt.

»Hier entlang«, forderte Younes die beiden auf und schlug den Weg nach rechts ein.

»Bist du dir sicher?« Chloe warf einen Blick in die Richtung, in die sie bisher gelaufen waren.

»Bin ich.« Er wusste, dass sie auf diesem Weg unbemerkt durch die Reihen ihrer Verfolger schlüpfen konnten, weil er es gesehen hatte. Alles, was sie im Umkreis einer Meile umgab, hatte er gesehen. Jede Pflanze, jeden Stein. Er konnte es selbst noch kaum fassen.

Und jetzt, da er das alles nicht mehr spüren konnte, fühlte er sich leer und eingesperrt. Es war, als wäre ihm ein Teil seines Selbst entrissen worden – ein Teil, der ihm bis zu diesem Moment völlig unbekannt gewesen war, der ihm womöglich gar nicht gehörte. Und doch fühlte es sich so an, als hätte man ihm einen Arm abgehackt und er musste nun versuchen, ohne ihn zurechtzukommen.