KAPITEL 3

ADDY

TAG 4: DI, 06:45 UHR, BIRMINGHAM, ENGLAND

Sie wurden grob aus dem Wagen gezerrt und daneben in einer Reihe auf die Knie gezwungen. Patti schrie panisch, jedes Mal, wenn sie jemand berührte. Und auch Jared wurde von seiner Angst beherrscht. Er atmete schwer und starrte wie in Trance zu Boden.

Addy versuchte, ruhig zu bleiben, konnte aber nichts dagegen tun, dass ihre Hände zitterten und ihr Herz wie wild pochte. Sie musste nur etwas sagen und Casimir wäre bestimmt bereit, seine Kräfte einzusetzen. Doch auch er hätte gegen die Maschinengewehre keine Chance gehabt. Sie wusste, dass er in einem menschlichen Wirtskörper Schmerzen empfinden konnte und außerhalb davon nicht überleben würde. Wahrscheinlich würde er mit ihm sterben, käme es zum Äußersten. Sie hatten keine andere Wahl, als sich zu ergeben.

»Klappe!«, verlangte einer der Männer von Patti, woraufhin sie zusammenzuckte und verstummte.

»Was haben wir getan?«, fragte Dave.

»Klappe, habe ich gesagt!«, schrie der Soldat ihm direkt ins Ohr. Dann wandte er sich an einen der anderen Männer. »Corporal?«, sprach er ihn mit gesenkter Stimme an und deutete mit dem Kinn auf das Messgerät in dessen Hand.

»Schwer zu sagen, wer es ist, Sergeant«, meinte der Corporal. »Sie sind zu nah beieinander, denke ich. Ich kriege keine klaren Werte.«

Der Sergeant nickte und wandte sich seinen Männern zu. »Okay, wir nehmen sie alle fest!«, rief er.

Addys Herz machte einen Satz. Hilflos sah sie dabei zu, wie Dave auf Befehl des Sergeants hin gepackt und mit dem Gesicht in den Staub gedrückt wurde. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken und fesselten ihn mit einem Kabelbinder.

Die anderen Soldaten schnappten sich Jared und Patti. Sie würden einen nach dem anderen gefangen nehmen und sie alle fortschaffen, sie trennen und feststellen, dass Casimir der Meliad war. Und wenn sie die Messgeräte von Elekreen hatten, dann sicher auch deren brutale Verhörmethoden und deren irregeleitete Meinung über die Meliad. So weit durfte es nicht kommen!

Auch Addy wurde am Ellbogen gepackt und von Casimir weggezerrt.

»Loslassen!«, verlangte sie und versuchte, sich zu befreien, wurde aber unsanft gegen den Jeep gedrängt, wo man ihr die Arme auf den Rücken drehte und ihren Oberkörper mit solch einer Wucht auf die Motorhaube schlug, dass ihr die Luft wegblieb.

Casimir wollte aufstehen, doch der Lauf eines Maschinengewehrs legte sich an seinen Hinterkopf. Wenn er jetzt versuchen würde zu entkommen, wäre das sein Todesurteil. Addy wehrte sich vergebens und versuchte, zu ihm zu gelangen.

»Nicht …!«, rief sie ihm noch zu, bevor sie erneut gegen das Auto gestoßen wurde und es ihr die Luft aus den Lungen trieb.

»Langsam aufstehen«, verlangte der Soldat, der Casimir in Schach hielt.

Schatten legten sich über Addy. Sie versuchte, zum Himmel zu blicken, um zu erkennen, was dort oben vor sich ging, doch es gelang ihr nicht, den Kopf zu drehen.

»Hoch mit dir!«, schrie der Sergeant, dem das alles nicht schnell genug zu gehen schien.

Er drängte den Soldaten von Casimir weg, packte ihn am Arm und Addy erstarrte in Erwartung eines Stromschlags oder Blitzes. Doch nichts geschah. Casimir wurde vom Sergeant auf die Füße gezogen und wehrte sich nicht einmal dagegen.

»Heilige Scheiße!«, stieß der junge Soldat bei Casimir plötzlich aus und sah zur Böschung. Er stolperte von Casimir und dem Sergeant weg, und als es Addy endlich gelang, den Kopf zu heben, erkannte sie, warum sich Schatten über sie gelegt hatten.

Die Hecke wuchs. Aus dem mannshohen Dickicht war binnen Sekunden eine weit in den Himmel ragende Mauer aus dichtem Gestrüpp geworden.

»Was … was soll das?«, stotterte der junge Soldat und umklammerte sein Gewehr.

Auch der Sergeant riss die Augen auf. Doch er gewann schnell die Kontrolle zurück, zog seine Waffe und richtete sie auf Casimir.

»Sofort aufhören!«, verlangte er.

Addys Puls raste. Sie wollte sich losreißen, zu Casimir gelangen, doch der blieb erschreckend ruhig.

Durch schmale Augen sah er den Mann an und etwas veränderte sich in seinem Blick. Etwas, das selbst Addy erschreckte und stocken ließ. Goldene Blitze durchzuckten seine Pupillen, während die Hecke immer weiter anwuchs.

Die anderen Soldaten entfernten sich langsam von dem wuchernden Gestrüpp, das die Leitplanke verschlang und drohte, sich auf die Straße auszuweiten.

»Aufhören!«, schrie der Sergeant noch einmal und trat Casimir so kräftig in die Kniekehle, dass er stürzte und sich mit den Händen abfangen musste.

»Lassen Sie ihn!«, verlangte Addy panisch und versuchte erneut vergebens, zu ihm zu gelangen.

Zwischen Casimirs Fingern zuckte blaue Energie und kroch über den rissigen Asphalt. In der Hecke rauschte und knackste es bedrohlich, Addy wehrte sich noch immer gegen den Mann, der sie hielt, und endlich kam sie frei.

In ihrem Rücken ächzte bedrohlich das Gestrüpp, sie warf sich instinktiv neben den Jeep und hatte gerade noch die Zeit, schützend die Hände über den Kopf zu schlagen, als schon dicke Ranken über sie hinweg auf die Soldaten zuschossen.

Die Männer richteten ihre Waffen auf alles, was sich bewegte, und schossen blind drauflos. Der Krach betäubte Addys Ohren. Sie sah sich gehetzt nach den anderen um, konnte in dem Chaos aber kaum etwas erkennen. Ihr Blick blieb an dem Sergeant hängen, der seine Waffe anhob und Casimir einen Schlag damit verpassen wollte.

»Pass auf!«, schrie Addy.

Eine der Ranken schoss direkt über Casimir hinweg und schlug dem Mann die Waffe aus der Hand.

Casimir stand auf. Wilde Entschlossenheit loderte in seinem Blick. Addy konnte es kaum fassen, aber er schien regelrecht von Wut gelenkt. Er hob die Hände, Blitze zuckten von ihm in die Umgebung, ließen die Soldaten weiter zurückweichen und seiner Bewegung folgten die Ranken, als wären sie eine Verlängerung seiner Arme. Sie prasselten auf die Soldaten herab wie Faustschläge, entwaffneten sie und drängten sie von Dave und den anderen weg.

Addy zog sich wieder auf die Füße. Ihr Herz raste und jeder Schuss, der fiel, ließ sie zusammenzucken.

»Haltet ihn auf!«, brüllte der Sergeant.

Er deutete auf Casimir, stolperte von ihm weg und suchte nach seiner Pistole. Seine Männer waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegen die Ranken zu wehren, als dass sie dem Befehl Folge leisten konnten.

»Weg hier!«, rief Addy.

Casimir reagierte nicht. Jeder Muskel in seinem Körper schien zum Zerreißen gespannt. Die Ranken warfen sich gen Himmel, verdunkelten die Sonne und stürzten pfeilschnell auf die Soldaten herab, deren Waffen kaum etwas ausrichten konnten.

Auch die Fahrzeuge der Zivilisten blieben nicht verschont. Sie wurden von den wild gewordenen Pflanzen durchbohrt wie von Speeren und die Menschen stürzten in Panik auf die offene Straße.

»Hör auf!«, schrie Addy. Er war wie von Sinnen und sie wusste nicht, ob ihre Stimme überhaupt zu ihm vordrang.

Doch plötzlich schien es, als fiele ein Teil der Anspannung von Casimir ab. Er richtete die Hand auf das Gestrüpp und hinter der Leitplanke öffnete sich ihnen ein Durchgang durch die Hecken – breit genug, um zu entkommen.

Addy brauchte einen Moment, um ihren Blick von Casimir zu lösen. So hatte sie ihn noch nie erlebt. So unkontrolliert und gefährlich, und sie wusste nicht, was sie davon halten oder darüber denken sollte.

Sie umrundete den Jeep und fand Patti auf der anderen Seite zusammengekauert am Boden sitzen. Sie zog sie auf die Beine und rannte mit ihr zur Hecke.

Wieder fielen Schüsse. Addy zuckte zusammen, wirbelte herum und sah gerade noch, wie Casimir eine Hand senkte und mit ihr ein Schutzschild aus Gestrüpp, das von Kugeln zerfetzt worden war. Der Soldat, der geschossen hatte, ließ seine Waffe fallen und stolperte von Casimir weg.

»Komm!«, forderte Addy Dave auf, der nicht weit von ihnen mit gefesselten Händen an die Leitplanke gelehnt saß. Er reagierte nicht.

Jared rannte mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen zu ihm und warf sich neben ihm auf den Boden. »Komm schon!«, schrie er. »Ich will hier nicht krepieren.«

Patti stieg über die Leitplanke und Addy folgte ihr.

»Beeilt euch!«, rief sie den anderen zu.

Sie sah zu Casimir. Die Soldaten hatte er weit zurückgedrängt und einige von ihnen entwaffnet. Überall um ihn herum hatten sich die Ranken in den Boden geschlagen und erneut ein dichtes Geflecht gebildet, das ihn und ihre Flucht abschirmte.

Jared zog Dave hoch und wollte ihn zu Addy drängen, doch der wehrte sich gegen ihn und stolperte von ihm weg.

»Kapiert ihr es denn nicht?«, schrie er völlig aufgelöst. »Merkt ihr denn nicht, was hier passiert?«

»Jared, komm!«, rief Addy und streckte ihm die Hand entgegen. Er zögerte, schaute zu Dave, folgte ihr aber schließlich.

»Dave?«, forderte Addy auch ihn auf.

»Ach, verdammt!«, knurrte Dave und lief zu ihnen.

Addy wollte ihm gerade über die Leitplanke helfen, als sie ein lautes Knarzen hörte, das ihr durch Mark und Bein ging.

Dave wirbelte herum.

»Mein Jeep!«, schrie er.

Wurzeln brachen aus dem Asphalt und hoben den Wagen an. Dave wollte zurück, doch Addy hielt ihn auf. Das Auto spielte doch jetzt keine Rolle! Ihr Leben war es, um das sie sich sorgen mussten. Aber Dave schien völlig von Sinnen.

»Lass mich!« Er riss sich los und stolperte auf die Straße zu, da wurde der Jeep bereits in die Höhe gerissen. Er flog über Casimirs Kopf hinweg und auf die Soldaten zu.

Die Männer sprangen zur Seite, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Wagen knallte mit voller Wucht auf den Asphalt, schlitterte über den Boden und schlug gegen den Van, hinter dem sich ein paar Zivilisten in Sicherheit gebracht hatten.

Casimir nutzte die Gelegenheit, dass die Soldaten am Boden waren, folgte den anderen und sprang mit einem Satz über die Leitplanke.

»Fuck!«, stieß Dave fassungslos aus und starrte auf das Autowrack. Hinter dem Van kamen die Köpfe der Zivilisten zum Vorschein, die ebenso geschockt waren wie er.

»Weg hier!«, schrie Addy verzweifelt, doch Dave rührte sich nicht.

Casimir richtete seine Hand auf ihn.

»Lass ihn!«, verlangte Patti und versuchte, seinen Arm wegzuziehen. »Tu ihm nichts.«

Casimir ließ sich von ihr nicht beirren. Weiter richtete er seine Hand nach vorne und blickte konzentriert auf Dave, unter dem der Asphalt zu bröckeln begann. Was hatte er bloß vor? Addy wollte ihn aufhalten, sah dann aber, wie Dave die Füße hochzog, den Wurzeln auswich, die darunter zum Vorschein kamen, und dadurch rückwärts auf ihren Fluchtweg zustolperte.

Sobald er nahe genug war, packte Casimir ihn, zerrte ihn, trotz seiner Gegenwehr, über die Leitplanke und warf ihn grob zu Boden. In seinem Rücken schloss sich die Hecke und schirmte sie von den Soldaten ab.

Mit regloser Miene stand Casimir da und sah zu Dave herab.

In Addys Ohren rauschte es. So hätte das alles nicht ans Licht kommen dürfen. Niemand von ihnen bewegte sich oder sagte auch nur ein Wort. Sie hätte auch gar nicht gewusst, wo sie anfangen sollte.

Dave lag mit gefesselten Händen auf dem Rücken und starrte Casimir durch weit aufgerissene Augen an. Patti stand zitternd neben ihm und Jared hatte Abstand zwischen sich und die anderen gebracht.

»Dave?«, sprach Addy ihn vorsichtig an. Es war alles, was ihr in dem Moment über die Lippen kommen wollte, und erst ihre Stimme schien ihn wach zu rütteln.

»Lasst ja eure Finger von mir!«, verlangte er und robbte rückwärts von Casimir weg.

Patti folgte ihm und ging neben ihm auf die Knie.

»Ich kann alles erklären«, versprach Addy und sah flüchtig zurück. Es raschelte bereits in den Hecken. Die Soldaten versuchten, ihnen zu folgen, und sofort loderte die Panik neu in ihr auf. »Aber nicht hier.«

»Er war das, oder?«, fragte Dave und nickte in Casimirs Richtung. »Er hat Orsett dem Erdboden gleichgemacht!«

Addy schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat nichts damit zu tun.«

So wie Casimir gekämpft und die Soldaten zurückgedrängt hatte, konnte sie verstehen, dass Dave das Schlimmste von ihm denken musste. Sie war selbst noch geschockt, doch die anderen hatten ihn nicht so kennengelernt und erlebt wie sie. Addy wusste, dass er nicht böse war. Sie kannte seine Geschichte und die wahren Hintergründe, während die anderen noch keine Ahnung von alledem hatten.

»Dann erklär es uns!«, verlangte Patti.

Das Rascheln wurde lauter und Patti und die anderen sahen sich nervös um.

Bevor Addy etwas sagen oder es verhindern konnte, steuerte Casimir auf Dave zu, packte ihn am Arm und zog ihn auf die Beine.

»Wir müssen hier weg«, sagte er in gefasstem Ton.

Er hatte ja recht, aber musste er so unbarmherzig sein? Damit machte er es ihnen nicht gerade leichter.

»Nimm deine dreckigen Finger von mir!«, schrie Dave und wehrte sich gegen seinen Griff.

Casimir ließ sich davon nicht beirren. Er zwang ihn tiefer ins Gebüsch hinein, auf Jared zu und weg von den Soldaten.

»Casimir!«, rief Addy ihm eindringlich nach.

»Du sollst ihn loslassen!«, verlangte Patti, folgte ihnen und zerrte vergebens an Casimirs Arm.

Addy wollte ihnen ebenfalls hinterher, als sie im Augenwinkel einen Schatten sah. Sofort überschlug sich ihr Pulsschlag. Sie wirbelte herum, erwartete, einem Soldaten gegenüberzustehen, doch da war nichts. Nur die Hecke, die sich hinter ihnen immer enger zusammenzog.

Sie hatte das Gefühl, langsam den Verstand zu verlieren. Unsicher, ob da nicht doch etwas in dem dichten Blattwerk lauerte, stolperte sie den anderen rückwärts nach, löste sich aber bald vom Anblick des wuchernden Gestrüpps und wandte sich wieder nach vorne.

Sie mussten sich erst einmal alle beruhigen und dann würde Addy versuchen, ihnen zu erklären, wer Casimir war.

Mit wenigen Schritten hatte sie die anderen erreicht. Casimir griff nach Daves gefesselten Händen und befreite sie mit einer Bewegung vom Kabelbinder. Der Geruch nach verschmortem Plastik stieg Addy in die Nase.

Casimir ließ von Dave ab, der auf Jared zustolperte und sich die aufgeschürften Handgelenke rieb. Hinter ihnen öffnete sich die Hecke wie ein Vorhang und die beiden Jungs sahen das als Aufforderung, diesen Weg einzuschlagen – weg von den Soldaten, aber auch von Casimir, der ihnen ganz offensichtlich nicht geheuer war.

Patti blieb stehen. Sie hob den Kabelbinder auf und betrachtete die geschmolzenen Enden. Als Addy zu ihr aufgeschlossen hatte, hielt sie ihr das Stück Plastik hin. »Du hättest es uns sagen müssen. Wir haben ein Anrecht darauf zu erfahren, was gerade mit der Welt geschieht.«

Addy wollte etwas erwidern, da sah sie eine Bewegung direkt neben Patti. Schon wieder dieser Schatten. Bevor sie erkennen konnte, was ihnen folgte, war es verschwunden. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über die dichte Hecke schweifen. Etwas regte sich dort, war aber nicht zu erkennen.

»Casimir!«, rief sie und starrte zu der Stelle, wo sie die letzte Bewegung ausgemacht hatte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was ihnen da folgte, war kein Soldat, kein Mensch.

Etwas berührte ihre Schulter. Erschrocken wirbelte sie herum, sah noch, dass es Patti war, bevor ein Nebel aus Dunkelheit über Pattis Schulter hinweg direkt auf sie zuschoss.

Addy konnte gerade noch instinktiv die Hände vors Gesicht reißen, dann wurde sie zurückgestoßen, schrie und landete auf dem Boden. Ihr Inneres verkrampfte sich und eine Welle aus Gefühlen überrollte sie, nahm ihr die Luft zum Atmen und erstickte jeden klaren Gedanken. Es waren dunkle, mächtige Gefühle, voller Hass und Wut. Ihr Körper war wie gelähmt und nur aus der Ferne drangen Geräusche und schemenhafte Bewegungen zu ihr vor.

»Addy?«, hörte sie Casimirs Stimme. Sie wollte ihm antworten, doch kein Wort kam ihr über die Lippen. Da war nur noch Dunkelheit um sie herum. Dunkelheit, die sie völlig verschlang.